Faktenchecker gegen Wodarg: Wer lag am Ende richtig?
KARSTEN MONTAG, 9. Dezember 2022, 19 Kommentare, PDFDer Arzt und langjährige SPD-Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg hatte bereits Ende Februar 2020 in einem Zeitungsbeitrag vor „Panikmache“ rund um das Coronavirus gewarnt. Auf Multipolar fand sein kritischer Text in der ersten Märzwoche mehr als 100.000 Leser. Das ZDF strahlte am 10. März einen Beitrag (Video) mit ähnlichem Tenor aus, in dem Wodarg ausführlich zu Wort kam. Doch einen Tag später erklärte die WHO das Geschehen zur „Pandemie“ – und die Stimmung drehte sich. Als Wodarg in der zweiten Märzwoche durch verschiedene Interviews auf Youtube schließlich ein Millionenpublikum erreichte und die Regierungspolitik, kurz vor Verkündung des ersten Lockdowns, massiv in Frage stellte, wurden die Faktenchecker aktiv.
Den Startschuss dafür lieferte Karl Lauterbach mit einem Tweet vom 16. März 2020, einem Montag:
„Ich sage das ungerne, aber es muss sein: der von mir eigentlich geschätzte ehemalige SPD Kollege Dr Wolfgang Wodarg redet zu Covid 19 blanken Unsinn. In ganz Europa kämpfen Ärzte um das Leben der Erkrankten. Wodargs Position ist unverantwortlicher FakeNews“
Unmittelbar darauf erschienen die Faktenchecks in rascher Schlagzahl von Dienstag bis Samstag:
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RBB, 17. März: „Geldgier und Panikmache?“ (Tamy Daum)
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Correctiv, 18. März: „Coronavirus: Warum die Aussagen von Wolfgang Wodarg wenig mit Wissenschaft zu tun haben“ (Frederik Richter, Bianca Hoffmann)
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WELT, 19. März: „Warum dieser Mann die Epidemie kleinredet“ (Nike Heinen)
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MDR, 19. März: „Sind die Maßnahmen gegen Corona übertrieben?“
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BR, 19. März: „Corona-Virus: Arzt setzt viele falsche Behauptungen in die Welt“ (Jan Kerckhoff, Susanne Delonge)
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SWR, 19. März: „Wird Corona überschätzt?“ (Veronika Simon)
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Stern, 19. März: „Wolfgang Wodargs steile Thesen im Faktencheck“ (Rachel Boßmeyer, Jan Ludwig)
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Spiegel, 20. März: „Die gefährlichen Falschinformationen des Wolfgang Wodarg“ (Julia Merlot)
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Tagesspiegel, 20. März: „Wolfgang Wodarg verbreitet Thesen, die wichtige Tatsachen ignorieren“ (Nina Breher, Sascha Karberg, Selina Bettendorf, Richard Friebe)
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NZZ, 21. März: „Welche Fakten der Corona-Verharmloser Wolfgang Wodarg verkennt“ (Stephanie Lahrtz)
All diesen Faktenchecks ist gemein, dass sie den Kernpunkt von Wodargs Kritik – nämlich fehlende Hinweise aus Monitoring-Instrumenten für die Ausbreitung einer bedrohlichen Epidemie – weder entkräften noch überhaupt erwähnen. Stattdessen greifen sie weniger wichtige Punkte auf und versuchen zum Teil mit fragwürdigen Argumenten, ein dramatisches Bild der Gefahr zu zeichnen, das sich später nicht bewahrheitete. Damit haben zahlreiche große Medien den öffentlichen Debattenraum nicht nur gefährlich eingeengt, sondern auch Falschinformationen verbreitet, die eine unverhältnismäßige Panik in der Bevölkerung und eine Spaltung der Gesellschaft massiv befördert haben.
Die Position Wodargs vom März 2020
Wodargs Hauptkritik, die die Faktenchecker verschwiegen, lautete, dass in den bewährten Monitoring-Instrumenten zur Überwachung der Ausbreitung von akuten Atemwegserkrankungen in Deutschland im März 2020 keine Anzeichen für eine kritische Lage vorlagen. Die Daten der Überwachung werden in den Wochenberichten der Arbeitsgemeinschaft Influenza zusammengefasst. Tatsächlich lag die Rate der akuten Atemwegserkrankungen und die Anzahl der Arztbesuche aufgrund derartiger Erkrankungen damals (und auch insgesamt 2020 und 2021) größtenteils unter den Werten der Vorjahre.
Auch das von ihm angeführte Instrument Euromomo, das die Übersterblichkeit in Europa überwacht, zeigte Mitte März 2020 noch keine auffällig hohen Sterberaten an. Daher warf er den Verantwortlichen vor, die extremen Einschränkungen der Grundrechte seien nicht gerechtfertigt.
Weiterhin kritisierte er, wie mit PCR-Tests die Sterberate ermittelt wurde. Er zweifelte die damals genannten sehr hohen Sterberaten an, da der Test vornehmlich bei Schwerkranken angewendet und dadurch die tatsächliche Gefahr der Krankheit überschätzt würde. Zudem sei unklar, ob der – nicht validierte – Test nur SARS-CoV-2 identifiziere oder auch andere SARS-Viren. Vor allem aber würde ohne den massenhaften Einsatz des Tests gar nichts besonderes bemerkt worden sein. Wodarg damals:
„Wir messen derzeit nicht die Inzidenz von Coronavirus-Erkrankungen, sondern die Aktivität der nach ihnen suchenden Spezialisten.“
Er ging davon aus, dass SARS-CoV-2 nicht gefährlicher sei als Grippeviren, da Coronaviren nichts Neues seien und selbst das neuartige Virus mit SARS-CoV-1 einen Vorgänger besäße, der sich zuvor weltweit ausgebreitet hatte. Er warf den politisch Verantwortlichen vor, sich bei ihrer Entscheidungsfindung zu sehr auf die Einschätzung von Virologen zu verlassen. Nur mit dem Vergleich epidemiologischer Daten – beispielsweise Krankenhaus- und Sterbefälle – aus den Vorjahren sei festzustellen, ob ein Virus gefährlicher ist als andere.
Aufgrund seiner Erfahrungen als Gesundheitspolitiker und seiner Auseinandersetzung mit der Schweinegrippe 2009 kritisierte Wodarg die Änderung der Definition einer Pandemie durch die WHO und merkte an, dass in dem zuständigen Gremium viele Fachleute mit Interessenkonflikten säßen. Die in Deutschland fachlich verantwortlichen Institute seien nicht kritisch, sondern lieferten den politisch Verantwortlichen, was diese hören wollten. Sie wollten Gelder für ihre Institute akquirieren und eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang äußerte Wodarg auch den abwertenden Begriff „Hofschranzen“.
Lauterbach: „Blanker Unsinn“
Der damalige SPD-Abgeordnete Lauterbach konterte die Aussagen von Wodarg in dem bereits erwähnten Tweet, den er wenig später in einer kurzen Videobotschaft konkretisierte. Darin äußert er, dass die Einschätzung Wodargs, COVID-19 könnte möglicherweise vergleichbar mit einer etwas stärkeren Grippe sein, eine „abwegige, vollkommen falsche Sicht der Dinge“ und „blanker Unsinn“ sei. Lauterbach erklärte zur Begründung, dass das neue Virus anders funktioniere und aufgebaut sei als bisherige Coronaviren, leichter übertragen werde und zudem die Sterberate mit 0,5 bis 2,0 Prozent in Europa sehr hoch sei. In Italien läge die Sterberate sogar bei sieben Prozent. Auf die zentrale Kritik Wodargs, dass die bewährten Monitoring-Instrumente keine Hinweise für die Ausbreitung einer gefährlichen Atemwegserkrankung lieferten, ging auch Lauterbach nicht ein.
Es ist somit eine zentrale Frage, wie hoch die Sterberate von COVID-19 im Vergleich zur Grippe tatsächlich war. Aus dem Kontext der Äußerungen Lauterbachs in seiner Videobotschaft wird deutlich, dass er sich auf die Infektionssterblichkeitsrate bezieht. Bei einer optimistischen Rate von 0,5 Prozent vermutete er bei acht Millionen Infizierten bis Herbst 2020 zehntausende Opfer – genau genommen wären es 40.000.
Probleme bei der Ermittlung der Sterberate
Im Gegensatz zur Ermittlung der Infektionssterblichkeit in der Vergangenheit bei der Grippe haben staatliche Anordnungen zur Kategorisierung von COVID-19-Opfern, die massenhafte Diagnostizierung mittels PCR-Test sowie die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Krankheit das Ergebnis der Erhebung der COVID-19-Toten maßgeblich beeinflusst. Desweiteren haben die Maßnahmen die Grundlage zur Schätzung der Anzahl der Infizierten verzerrt und beeinträchtigt. Die daraus entstehende Problematik beim Vergleich der Fall- und Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 mit den entsprechenden Kennziffern der Grippe wird im Anhang dieses Beitrages ausführlich erläutert.
Wie dort dargestellt, deuten die Anzahl der an COVID-19 Verstorbenen, verschiedene Studien sowie die Auswertung der im Krankenhaus an akuten Atemwegserkrankungen Verstorbenen darauf in, dass die Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 ungefähr doppelt so hoch ist wie bei einer saisonalen Grippe, eventuell dreimal so hoch. Diese Erkenntnis widerspricht der Auffassung von Wolfgang Wodarg, dass man ohne den PCR-Test die COVID-19-Erkrankungen in Deutschland nicht festgestellt hätte. Sie widerspricht jedoch auch den Äußerungen von Karl Lauterbach, der eine Infektionssterblichkeitsrate in Europa von bis zu zwei Prozent verkündet hatte. Ein derartiger Wert hätte bedeutet, dass COVID-19 um mehr als das Zehnfache tödlicher gewesen wäre als eine saisonale Grippe.
Offenbar hat der Einsatz des PCR-Tests hauptsächlich bei Schwerkranken zu Beginn der Coronakrise dazu geführt, dass die Sterberate zunächst viel zu hoch eingeschätzt wurde – was der renommierte Epidemiologe John Ioannidis bereits am 17. März 2020, also noch vor der Flut an Faktenchecks gegen Wodarg, in einem warnenden Kommentar ausführlich erläutert hatte.
Medien sabotieren eine Debatte
Es ist offensichtlich, das sich Mitte März 2020 zwischen Wolfgang Wodarg und Karl Lauterbach ein Disput über das weitere Vorgehen in der Coronakrise mit zwei ausgewiesenen Experten in der Sache anbahnte. Von einer kritischen Medien- und Presselandschaft wäre zu erwarten gewesen, dass sie die Argumente der beiden Kontrahenten ausreichend und in gebührender Form darstellt, auf eine vorschnelle Bewertung verzichtet und damit der Debatte einen öffentlichen Raum zur Verfügung stellt. Dies hätte ermöglicht, dass sich die Bevölkerung ein Bild über das Für und Wieder der Notwendigkeit und Wirksamkeit der damals diskutierten und angeordneten Maßnahmen hätte machen können. Doch genau das ist nicht geschehen. Stattdessen haben sich viele einflussreiche Medien Lauterbachs Position umgehend und unkritisch angeschlossen.
RBB
Am 17. März veröffentlichte der rbb einen Beitrag mit dem Titel „Faktenckeck / Maßnahmen gegen Corona – Geldgier und Panikmache?“. Darin argumentiert die Autorin, das Coronavirus sei wesentlich gefährlicher als die Grippe, weil in der Saison 2019/20 „laut Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) in Deutschland nachweislich rund 200 Menschen an der Grippe gestorben [sind]. Nur ein Bruchteil also der 25.000 aus dem Jahr 2017/2018.“ Damit vergleicht die Journalistin Äpfel mit Birnen und zeigt letztendlich, dass ihr nicht bewusst ist, wie die tatsächliche Zahl der Grippeopfer in einer Grippesaison ermittelt wird – nämlich nicht durch einen Labornachweis, sondern durch eine Schätzung anhand der Übersterblichkeit. Denn auch in der Grippesaison 2017/18 sind nur circa 1.600 Grippetote durch eine Laboruntersuchung nachgewiesen worden (siehe Anhang).
Desweiteren wird in dem Beitrag gewarnt, dass bei „ungebremstem Wachstum der Infektionen“ die Kapazitäten in Deutschlands Krankenhäusern nicht ausreichen würden. Im Laufe der Coronajahre 2020 und 2021 konnte man jedoch beobachten, dass eine exponentielle Ausbreitung des Virus immer nur kurzfristig auftrat und die Krankheit genauso wie die Grippe sowie alle anderen grippeähnlichen Erkrankungen in Wellen verlief. Die jeweiligen Scheitelpunkte der Wellen waren in allen europäischen Ländern fast auf die Woche genau zum gleichen Zeitpunkt erreicht, unabhängig davon, wann und welche Maßnahmen die einzelnen Länder verhängt hatten. Selbst Schweden, das auf restriktive Maßnahmen größtenteils verzichtet hatte, stellte keine Ausnahme dar.
Im Laufe der Coronakrise ist es in Deutschland nicht annähernd zu einer Überlastung der Krankenhäuser gekommen. Im Gegenteil, sowohl 2020 als auch 2021 kam es selbst während der Höhepunkte der COVID-19-Wellen zu einer Rekord-Unterbelegung von Krankenhausbetten. Im Sommer 2020 meldeten Kliniken und Praxen sogar Kurzarbeit für mehr als 400.000 Mitarbeiter an. Selbst auf deutschen Intensivstationen kaum es zu keinem Zeitpunkt seit Anfang 2020 zu einer überdurchschnittlichen Auslastung durch COVID-19-Fälle, wie dies die Zeitreihen des DIVI-Intensivregisters belegen.
Die Autorin des rbb-Beitrags schließt mit dem Hinweis, dass Wolfgang Wodarg in der Vergangenheit bereits mehrfach staatliche Maßnahmen gegen eine Krankheit kritisiert hätte, beispielsweise während der Schweinegrippe in 2009/2010. Um zu belegen, dass er auch damals schon falsch lag, schreibt sie im Schlusssatz: „Bei der Schweinegrippe-Pandemie 2010 starben 18.000 Menschen.“ Tatsächlich bezieht sich die Zahl jedoch auf die weltweiten Opfer. In Deutschland wird die Anzahl der Todesfälle der Schweinegrippe gerade einmal auf 350 geschätzt, bei 226.000 bestätigten Fällen und geschätzten 6 bis 9 Millionen Infektionen. Damit war dieser Grippeerreger mit einer geschätzten Infektionssterblichkeitsrate von maximal 0,01 Prozent einer der harmlosesten, der jemals in Deutschland verzeichnet wurde.
MDR
In dem am 19. März 2020 vom mdr veröffentlichten Beitrag „Kritik an Wolfgang Wodarg – Faktencheck: Sind die Maßnahmen gegen Corona übertrieben?“ behauptet der Autor mit Verweis auf die Informationen eines laienhaft verfassten und hauptsächlich auf Vermutungen beruhenden Blog-Artikels eines Chemikers, das Hauptproblem des neuen Erregers sei die fehlende Grundimmunität in der Bevölkerung und etwa jeder Fünfte würde so schwer an Covid-19 erkranken, dass er in einem Krankenhaus behandelt werden müsse. Der mdr-Journalist geht sogar davon aus, dass diese Fälle so schwer verlaufen, dass sie allesamt intensivmedizinisch behandelt werden müssten. Dies würde bereits bis Ende April 2020 zu einer deutlichen Überlastung der Intensivstationen führen.
Diese Einschätzung hat sich als vollkommen falsch herausgestellt. Laut den Informationen des RKI wurden in 2020 und 2021 insgesamt 7,2 Millionen laborbestätigte COVID-19-Fälle registriert. Davon wurden in diesem Zeitraum gemäß den vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus bereitgestellten Krankenhausabrechnungsdaten 530.000 stationär behandelt – unabhängig davon, ob sie aufgrund von Symptomen einer COVID-19-Erkrankung oder anderen Diagnosen eingeliefert wurden. Davon wurden wiederum lediglich 126.000 intensivmedizinisch behandelt. Das bedeutet, dass nur höchstens jeder 14. laborbestätigte Fall im Krankenhaus und nur höchstens jeder 57. laborbestätigte Fall auf einer Intensivstation behandelt werden musste. Geht man davon aus, dass sich bis Ende 2021 bereits mindestens ein Drittel aller Deutschen mit dem Virus infiziert hatte, musste nur jeder 51. Infizierte im Krankenhaus und nur jeder 219. auf einer Intensivstation behandelt werden.
BR
In dem BR-Beitrag „Corona-Virus: Arzt setzt viele falsche Behauptungen in die Welt“ vom 19. März 2020 behauptet der Journalist vom Bayrischen Rundfunk seinerseits, die Infektionssterblichkeitsrate der Grippe in der Saison 2017/18 hätte bei 0,7 Prozent gelegen, ohne eine Quelle für diesen Wert zu benennen. Damit widerspricht er sich im Grunde selbst, wenn er feststellt, eine Erkrankung mit SARS-CoV-2 sei gefährlicher als eine Grippe. Tatsächlich lag die Infektionssterblichkeit in der Grippesaison 2017/18 – gemäß den Grundlagen des RKI für eine Schätzung – zwischen 0,09 und 0,14 Prozent (siehe Anhang).
Auch der BR-Autor stellt ohne Benennung eines Belegs als Charakteristikum des neuartigen Coronavirus fest, dieses würde sich, anders als die Influenza, welche in Wellen verlaufe, „explosionsartig“ und exponentiell ausbreiten. Dadurch sei eine Überlastung der Krankenhäuser zu befürchten. Bezeichnend ist, dass der Autor Wodarg vorwirft, es nicht so genau mit den Fakten zu nehmen und für seine Behauptungen keine Belege zu liefern.
SPIEGEL
Für die Autorin des SPIEGEL-Beitrags „Faktencheck – Die gefährlichen Falschinformationen des Wolfgang Wodarg“ vom 20. März 2020 sind die Argumente Wodargs allein schon deswegen unseriös, weil sie in Youtube-Kanälen verwendet würden, die Verschwörungstheorien aus dem Reichsbürgermilieu und zu Chemtrails verbreiten. Tatsächlich ist dies ein Angriff auf die Person Wodargs selbst, weil ihm eine Kontaktschuld zur rechten und „verschwörungstheoretischen“ Szene vorgeworfen wird – eine Methode, um Personen und deren Argumente in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und eine echte Diskussion zu vermeiden.
WELT
Auch die Autorin des WELT-Artikels „Warum dieser Mann die Epidemie kleinredet“ arbeitet mit Scheinargumenten, indem äußere Merkmale wie Wodargs Haarschnitt und seine Kleidung verwendet werden, um ihm eine nicht mehr zeitgemäße Meinung zu unterstellen.
Correctiv
Der am 18. März 2020 veröffentlichte CORRECTIV-Faktencheck „Hintergrund – Coronavirus: Warum die Aussagen von Wolfgang Wodarg wenig mit Wissenschaft zu tun haben“ argumentiert zum Teil mit fast den identischen Worten wie der nur einen Tag zuvor veröffentlichte Beitrag beim rbb. Es sei nicht das erste Mal, dass Wodarg finanzielle Interessen hinter Maßnahmen gegen eine Krankheit wittere. Bereits bei der Schweinegrippe hätten Kritiker wie er den Verdacht geäußert, dass die Ausrufung einer Pandemie im Interesse der Pharmaindustrie erfolgt sei. Diese habe jedoch zu über 18.000 Toten geführt. Die Zahlennennung erfolgt wie im rbb-Beitrag ohne den Hinweis, dass es sich hierbei um die weltweite Opferzahl handelte und dass Grippeviren in nur einer Saison bis zu 650.000 Todesopfern fordern.
Angemessenheit und Wirksamkeit der Maßnahmen
Wolfgang Wodarg hatte in seinen Äußerungen Anfang März 2020 davor gewarnt, allein aufgrund der Testzahlen, die anders als zuvor bei Grippewellen durch den PCR-Test zur Verfügung standen, sowie der angeblichen Neuartigkeit von SARS-CoV-2 in Panik zu verfallen und Maßnahmen zu verhängen, die womöglich keine oder kaum eine Wirkung zeigen und mehr Schaden anrichten als das Virus selbst. Mittlerweile räumte selbst Karl Lauterbach ein, dass zumindest die Schließung von Kindertagesstätten in den ersten Coronawellen aus medizinischer Sicht nicht nötig gewesen sei. Als Folge der damaligen Schließung hätten Kitas mit vielen Kindern aus sozial benachteiligten Familien jetzt einen fast doppelt so hohen Förderbedarf etwa bei Sprache oder Motorik wie vor der Pandemie, so Bundesfamilienministerin Lisa Paus.
Das Bundesverwaltungsgericht hat am 22. November 2022 das Urteil des bayrischen Verwaltungsgerichtshofs bestätigt, dass die Ausgangsbeschränkungen in Bayern während der ersten Welle der Corona-Pandemie unverhältnismäßig gewesen sind. Nun teilten Bayerns Gesundheitsminister Holetschek und Justizminister Eisenreich der Presse mit, dass Regeln für die Rückzahlung von Bußgeldern erarbeitet würden.
Die Frage, inwieweit die restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit in Deutschland die Übersterblichkeit verringert oder eventuell sogar erhöht haben, wird wahrscheinlich niemals endgültig zu klären sein. Zu diesem Umstand hat auch die mangelnde wissenschaftliche Begleitung der Maßnahmen beigetragen, wie dies die von Bundestag und Bundesrat einberufene Sachverständigenkommission in ihrem Bericht zur Wirksamkeit der Coronapolitik auf den Seiten 8 und 27 dem RKI explizit vorwirft.
Ein Hinweis, dass die restriktiven Maßnahmen keinen oder sogar negativen Effekt auf den Verlauf von COVID-19 hatten, zeigt der Vergleich der Übersterblichkeit in Deutschland und in Schweden. In dem skandinavischen Land hatte man bekanntlich auf einen Großteil der in Deutschland verordneten Einschränkungen verzichtet. Eine von der WHO veröffentlichte Auswertung der weltweiten Übersterblichkeit in den Jahren 2020 und 2021 kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland in diesem Zeitraum 73 Menschen je 100.000 Einwohnern mehr verstorben sind, als dies ohne COVID-19 zu erwarten gewesen wäre. In Schweden seien hingegen nur 66 Menschen je 100.000 Einwohnern mehr verstorben.
Neuartiges Coronavirus und fehlende Immunität?
Peter Doshi, Mitherausgeber der renommierten internationalen Fachzeitschrift British Medical Journal, hatte bereits im September 2020 in einem Beitrag die These angezweifelt, in der Bevölkerung hätte vor dem Ausbruch von SARS-CoV-2 keine Grundimmunität gegen den Erreger vorgelegen. In mehreren, weltweit durchgeführten Antikörperstudien mit Menschen, die zuvor keinen Kontakt zu dem neuartigen Coronavirus hatten, konnten bei 25 bis 50 Prozent der Probanden T-Zellen-Reaktionen beim Kontakt mit dem Erreger festgestellt werden. Dies würde zumindest erklären, warum selbst die erste Ausbreitung von COVID-19 nicht exponentiell, sondern wellenartig verlief. Von den „Faktencheckern“, die Wolfgang Wodargs Äußerungen bewertet hatten, wurde die mangelnde Grundimmunität im März 2020 noch wie ein Fakt dargestellt.
Tödlicheres Virus, da aus dem Labor?
Warum COVID-19 trotzdem tödlicher verlaufen ist als die saisonale Grippe, könnte die mögliche Laborherkunft des Virus erklären. Bereits im Februar 2021 hat die Universität Hamburg eine Studie veröffentlicht, welche die vielfältigen Indizien für einen Laborunfall in Wuhan zusammenfasst.
Ein im Oktober 2022 veröffentlichter Bericht des US-Senats, der sich auf Unterlagen und E-Mails aus dem Labor aus Wuhan stützt, kommt zum Ergebnis, dass SARS-CoV-2 „höchstwahrscheinlich“ Folge eines Laborunfalls war. Die Ausrüstung und die Qualifikation der Mitarbeiter der Einrichtung sollen nicht ausreichend gewesen sein, die Sicherheitsstandards für die Forschung an gefährlichen Viren zu gewährleisten.
Prof. Jeffrey Sachs, zwei Jahre lang Vorsitzender der „Lancet COVID-19 Commission“, hatte zuvor im Juni 2022 erklärt:
„Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass das Virus aus einem US-Labor kam und nicht aus der Natur. (…) Es existieren genügend Beweise, so dass das untersucht werden sollte. Aber es wird nicht untersucht, weder in den USA noch anderswo. Ich glaube, dafür gibt es Gründe. Man will nicht zu sehr unter den Teppich schauen.“
Da sowohl die chinesische Regierung als auch die US-Regierung, welche die so genannte Gain-of-function-Forschung in China an Coronaviren mitfinanziert hat, den Laborursprung abstreiten, ist es fraglich, ob die tatsächlich Herkunft des Erregers jemals endgültig aufgeklärt werden kann.
Fazit: Unbelegte Spekulationen, eine unterdrückte Debatte und folgenschwere Fehleinschätzungen im März 2020
Die massenhafte Anwendung des PCR-Tests hat zum ersten Mal in der Medizingeschichte die Beobachtung des Verlaufs einer pandemischen Atemwegserkrankung annähernd in Echtzeit ermöglicht. Informationen, die zuvor bei einer Grippewelle zum Teil erst Monate nach deren Abklingen verfügbar waren, konnten bereits nach wenigen Tagen eingesehen werden. Da es keine Vergleichsmöglichkeiten gab, konnte niemand genau abschätzen, wie die neuen Informationen, wie beispielsweise die Sterberate, die sich anhand der Testergebnisse ermitteln ließ, überhaupt einzuordnen waren.
Wolfgang Wodarg wollte zu Beginn der Coronakrise die verantwortlichen Politiker davor bewahren, in Panik zu geraten und überstürzte Entscheidungen zu treffen, die sich später eventuell als medizinisch nicht notwendig, nicht wirksam oder gar schädlich herausstellen könnten. Er wies darauf hin, dass es bewährte Frühwarn-Instrumente gab, mit denen man zuvor über Jahrzehnte die Notwendigkeit von gesundheitspolitischen Maßnahmen bei der Bewältigung von Atemwegserkrankungen einschätzen konnte. Diese Instrumente hatten zu Beginn der Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland keine besonderen Anzeichen einer Gefahr registriert.
Die Arztpraxen zeigten keinen für eine Grippesaison unüblichen Andrang von Patienten mit akuten Atemwegsbeschwerden und die Krankenhäuser in Deutschland waren nicht überlastet. Die Instrumente schlugen zum Teil noch nicht einmal während der nachfolgenden Scheitelpunkte der COVID-19-Wellen aus. Trotzdem war insbesondere unter den älteren Mitbürgern eine erhöhte Sterbefallrate zu verzeichnen als bei einer saisonalen Grippe, da das Coronavirus sich in den unteren Atemwegen einnistete und vermehrt Lungenentzündungen hervorrief.
Im Gegensatz zu Wolfgang Wodarg hat Karl Lauterbach die anfänglichen Sterberaten, die sich später als viel zu hoch herausstellten, nicht hinterfragt. Viele Medien haben es versäumt, das Spannungsfeld der unterschiedlichen Sichtweisen sachlich und fair wiederzugegeben. Stattdessen haben die Redaktionen der Medienhäuser mit hastig zusammengeschusterten, fachlich unzureichenden und teilweise mit falschen Argumenten sowie persönlichen Angriffen auf die Person gespickten „Faktenchecks“ die Expertise von Wodarg diskreditiert und seinen Ruf in der Öffentlichkeit zerstört.
Es wäre an der Zeit, dass die verantwortlichen Journalisten ihre damaligen Beiträge anhand der mittlerweile verfügbaren Informationen korrigieren und sich für ihre unsachgemäße Diffamierung der Position Wodargs entschuldigen.
Anhang
Fallsterblichkeits- und Infektionssterblichkeitsraten sind Kennzahlen, mit denen die Gefährlichkeit einer Krankheit bewertet wird. Die Infektionssterblichkeitsrate ist im Grunde eine Erweiterung der Fallsterblichkeitsrate. Letztere setzt die Anzahl der an einer Krankheit Verstorbenen mit der Anzahl der bestätigten, diagnostizierten Fälle ins Verhältnis. Im Gegensatz dazu werden bei der Bezugsgruppe der Infektionssterblichkeitsrate auch alle vermuteten, nicht diagnostizierten Krankheitsfälle einbezogen.
Die Fallsterblichkeitsrate (auch Fallsterblichkeit, Fall-Verstorbenen-Anteil, fallbezogene Fatalitätsrate, case fatality rate (CFR) oder case-fatality risk genannt) beschreibt den Anteil der an einer Krankheit Verstorbenen an allen diagnostizierten Krankheitsfällen. Im Fall von COVID-19 sind die Diagnose der Krankheit und insbesondere die Ermittlung der an der Krankheit Verstorbenen durch den massenhaften Einsatz des PCR-Tests deutlich anders verlaufen als in der Vergangenheit bei der Grippe. Zudem wurden alle positiv getesteten Verstorbenen, im Gegensatz zur Erhebung der Grippeopfer in den Vorjahren, den COVID-19-Opfern zugeordnet.
Gemäß der Tabelle „Klinische Aspekte“ des Robert Koch-Instituts (RKI) sind beispielsweise in den Kalenderwochen 40/2020 bis 20/2021 circa 3,4 Millionen COVID-19-Fälle gemeldet worden. Davon sind circa 82.000 verstorben. Dies ergibt eine Fallsterblichkeitsrate von 2,4 Prozent in diesem Zeitraum.
Zum Vergleich: Für die Grippesaison 2017/18 (Kalenderwoche 40/2017 bis Kalenderwoche 20/2018) hat die Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) des RKI gemäß Saisonbericht circa 330.000 laborbestätigte Influenza-Fälle registriert. Davon sind circa 1.600 verstorben. Rein rechnerisch ergibt sich daraus eine Fallsterblichkeitsrate von 0,5 Prozent in diesem Zeitraum. Damit wäre COVID-19 in der Grippesaison 2020/21 fünf Mal gefährlicher gewesen als die Grippe in der Saison 2017/18. Doch die so ermittelte Fallsterblichkeit hat einen großen Haken. Denn, so schreibt das RKI ab Seite 45 des Berichts:
„Für eine Exzess-Schätzung der Influenza-bedingten Todesfälle sind die in der AGI registrierten Todesfälle wegen ARE [akuter Atemwegserkrankungen, Anm. d. Verf.] aber nicht geeignet, da Todesfälle sehr selten sind und in dem vergleichsweise kleinen Sentinel nicht repräsentativ erfasst werden können. Auch die gemäß IfSG an das RKI übermittelten Todesfälle bilden keine Grundlage für Hochrechnungen. Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen wird Influenza auf dem Totenschein häufig nicht als Todesursache eingetragen, selbst wenn im Krankheitsverlauf eine Influenza labordiagnostisch bestätigt wurde und wesentlich zum Tod beigetragen hat [...]. Es ist die Erfahrung vieler Länder, dass sich Todesfälle, die der Influenza zuzuschreiben sind, in anderen Todesursachen, wie z. B. Diabetes mellitus, Pneumonie oder »Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems« verbergen können. Daher ist es international üblich, die der Influenza zugeschriebene Sterblichkeit mittels statistischer Verfahren zu schätzen, indem Gesamttodesfallzahlen (Statistik der Sterbefälle ohne Totgeborene, nachträglich beurkundete Kriegssterbefälle und gerichtliche Todeserklärungen) herangezogen werden.“
Für die Grippesaison 2017/18 gibt das RKI daher im Saisonbericht 2018/19 eine geschätzte Anzahl von 25.100 Influenza-Todesopfern an. Legt man nun für die Ermittlung der Fallsterblichkeitsrate die laborbestätigten Influenza-Fälle zugrunde, ergibt sich ein Wert von 7,6 Prozent. Damit wäre wiederum die Grippe drei Mal gefährlicher als COVID-19 gewesen.
Da die Fallsterblichkeitsrate in der Vergangenheit bei der Grippe auf eine andere Weise ermittelt wurde als bei COVID-19, ist der Vergleich dieser Kennziffern nicht zielführend. Das hat auch Auswirkungen auf die Infektionssterblichkeitsrate, bei deren Ermittlung die Größe der Bezugsgruppe maßgeblich einer Schätzung unterliegt.
Die Infektionssterblichkeitsrate (auch Infizierten-Verstorbenen-Anteil oder infection fatality rate (IFR), abhängig vom Kontext auch lediglich Sterberate, Mortalität oder Mortalitätsrate genannt) beschreibt den Anteil der an einer Krankheit Verstorbenen an allen Infektionen – auch diejenigen, die nicht diagnostiziert wurden. Da die Anzahl der nicht Diagnostizierten jedoch nicht erhoben wird, muss man sie schätzen. Das RKI gibt zur Schätzung der Anzahl aller Grippeinfektionen an:
„Daten des RKI-Bürgerportals GrippeWeb deuten darauf hin, dass etwa einer von drei Erkrankten mit typischen Grippesymptomen zum Arzt geht. Demnach erkranken während einer saisonalen Grippewelle in Deutschland etwa zwei bis dreimal mehr Menschen an der Grippe als über die zusätzliche Zahl der Arztkonsultationen geschätzt wird. Die Zahl der Infektionen während einer Grippewelle – nicht jeder Infizierte erkrankt – wird auf 5 bis 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt, in Deutschland wären das 4 bis 16 Millionen Menschen.“
Laut RKI-Saisonbericht haben in der Grippesaison 2017/18 circa neun Millionen Menschen aufgrund von Symptomen einer Atemwegserkrankung einen Arzt aufgesucht. Die geschätzte Anzahl an Infektionen liegt also im Bereich von 18 bis 27 Millionen. Setzt man nun die geschätzte Anzahl an Grippetoten von 25.100 mit der Anzahl der Ansteckungen ins Verhältnis, so ergibt sich eine Infektionssterblichkeitsrate für die Grippe in der Saison 2017/18 von 0,09 bis 0,14 Prozent. Für die Grippesaison 2016/17 mit geschätzten 22.900 Grippeopfern und circa sechs Millionen Arztkonsultationen errechnet sich sogar eine Infektionssterblichkeitsrate von 0,13 bis 0,19 Prozent.
Im Gegensatz zur Grippesaison 2017/18 kam es im entsprechenden Zeitraum zwischen der 40. Kalenderwoche 2020 und der 20. Kalenderwoche 2021 gemäß der Daten des RKI nur zu circa 1,6 Million Arztbesuchen aufgrund von Symptomen einer akuten Atemwegserkrankung. Anhand des Verlaufs der Arztkonsultationen pro 100.000 Einwohner, wie er beispielsweise in Abbildung 2 des 46. Wochenberichts 2022 der Arbeitsgemeinschaft Influenza dargestellt ist, kann man erkennen, dass die Anzahl der Arztbesuche mit Beginn der restriktiven Corona-Maßnahmen in Deutschland seit der 13. Kalenderwoche 2020 massiv zurückgegangen ist. Ganz offensichtlich sind Menschen mit leichten Symptomen einer akuten Atemwegserkrankungen seit diesem Zeitpunkt nicht mehr zum Arzt gegangen.
Damit haben die Corona-Maßnahmen der Regierungen von Bund und Ländern die Grundlage zur Schätzung der Anzahl der Infektionen verzerrt und unbrauchbar gemacht. Geht man stattdessen davon aus, dass sich in Deutschland zwischen 4 und 16 Millionen Menschen in der Saison 2020/21 mit dem Coronavirus angesteckt haben, erhält man eine Infektionssterblichkeitsrate von 0,51 und 2,06 Prozent. Der obere Wert ist unplausibel, da er sehr nahe an der Fallsterblichkeitsrate liegt. Dies würde bedeuten, dass es kaum nicht diagnostizierte COVID-19-Fälle gab. Allein der Anteil der asymptomatischen und präsymptomatischen Fälle liegt jedoch laut einer Studie aus der Schweiz bei 20 Prozent.
Schätzung der COVID-19-Opfer mithilfe der Übersterblichkeit
Doch selbst der untere Wert von 0,51 Prozent ist nicht der Weisheit letzter Schluss. So könnte die Ermittlung der Opferzahl von COVID-19-Erkrankungen durch das RKI aufgrund der Zuordnung aller positiv getesteten Sterbefälle, auch wenn sie beispielsweise durch Gewalteinwirkung gestorben sind, deutlich fehlerhafter sein, als es die Behörde zugibt.
Zwar stimmt die Anzahl der in einer von der WHO veröffentlichten Studie anhand der Übersterblichkeit geschätzten COVID-19-Toten in Deutschland von Januar 2020 bis Dezember 2021 in etwa mit der vom RKI im selben Zeitraum erfassten Anzahl der verstorbenen COVID-19-Fälle überein. Doch die aktuell in Deutschland auftretende, bisher nicht offiziell erklärte Übersterblichkeit weist darauf hin, dass noch weitere Faktoren außer COVID-19 für die Übersterblichkeit in 2020 und 2021 verantwortlich gewesen sein könnten.
Ein möglicher Grund könnten die Maßnahmen selbst gewesen sein. Denn nicht nur die Arztbesuche haben sich mit dem Beginn der restriktiven Einschränkungen der Grundrechte ab Mitte März 2020 drastisch reduziert. Auch die Krankenhausauslastung ist 2020 und 2021 um 13 Prozent und mehr im Vergleich zu 2019 zurückgegangen (siehe hier und hier). Der Rückgang ist größtenteils auf eine Nichtinanspruchnahme von Krankenhausleistungen zurückzuführen und nicht auf die Absage geplanter Eingriffe durch die Krankenhäuser. Es ist durchaus plausibel, dass unterlassene Früherkennung und aufgeschobene Behandlungen zu schwereren und tödlicheren Krankheitsverläufen geführt haben.
Ein weiterer, wichtiger Faktor könnte von der derzeit rapide wachsenden Altersgruppe der über 80-jährigen in Deutschland ausgehen. Ältere Menschen haben ein deutlich höheres Sterberisiko als jüngere. Aus statistischer Sicht war zu erwarten, dass 2020 und 2021 mehr Menschen sterben als in den Jahren zuvor, unabhängig davon, ob an COVID-19, der Grippe oder an anderen Krankheiten. Dies wurde in einem früheren Multipolar-Beitrag ausführlich untersucht, wird aber bei der Einschätzung der Gefahr, die von COVID-19 ausgeht, vernachlässigt.
Berechnungen der Infektionssterblichkeitsrate in Deutschland in medizinwissenschaftlichen Studien
Verschiedene Studien in Deutschland haben anhand von Daten zu regionalen COVID-19-Ausbrüchen sowie auf Basis der Zahlen des RKI und Antikörperstudien eine Infektionssterblichkeitsrate berechnet. Die Studie von Hendrik Streeck zum ersten COVID-19-Ausbruch in Heinsberg mit nur sehr wenigen Todesopfern kommt auf einen Wert von 0,36 Prozent. Eine weitere Studie auf Basis von Antikörperstudien und Daten des RKI, die jedoch bisher noch nicht einen Peer-Review-Prozess durchlaufen hat, ermittelt einen deutlich höheren Wert von 0,83 Prozent.
Nicht unerwähnt soll die Studie von John Ioannidis vom Mai 2021 bleiben, in der er eine weltweite Infektionssterblichkeitsrate von durchschnittlich 0,15 Prozent mit großen regionalen Unterschieden feststellt. Darin geht der renommierte Medizinwissenschaftler davon aus, dass sich bis Februar 2021 weltweit bereits 1,5 bis 2 Milliarden Menschen mit COVID-19 infiziert haben.
Das RKI geht in einem „Epidemiologischem Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19“ davon aus, dass sich bis November 2021 zwischen 10,8 und 27 Millionen Menschen in Deutschland infiziert haben und kommt auf eine Infektionssterblichkeitsrate von 0,4 bis 0,9 Prozent.
Es zeigt sich, dass der Wert der Infektionssterblichkeit davon abhängt, wie und unter welchen Umständen die Anzahl der Opfer einer Krankheit ermittelt und wie hoch die Anzahl aller Infizierten geschätzt wird. Es stellt sich die Frage, ob man den Wert der geschätzten Sterberate anhand anderer Daten verifizieren kann.
Überprüfung der Infektionssterblichkeitsrate anhand der im Krankenhaus verstorbenen Fälle mit akuten Atemwegserkrankungen
Für eine Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 in Deutschland, die im Vergleich zu einer saisonalen Grippe lediglich doppelt so hoch ist, spricht eine Auswertung der im Krankenhaus verstorbenen Fälle mit Atemwegserkrankungen im Zeitraum 2019 bis 2022. Abbildung 1 zeigt, dass sich der Anteil derjenigen Fälle, die mit einer akuten Atemwegserkrankung im Krankenhaus verstorben sind, an der Anzahl aller eingelieferten Fälle mit einer derartigen Diagnose in den Coronajahren 2020 und 2021 im Vergleich zu 2019 verdoppelt hat.
Abbildung 1: Anteil der im Krankenhaus verstorbenen Fälle mit einer akuten Atemwegserkrankung an allen Fällen, die mit einer derartigen Diagnose eingeliefert wurden (ICD-10-Codes J00-J22), Datenquelle: InEK-Datenbrowser
Da 2019 ein sehr mildes Grippejahr war, könnte die Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 im Gegensatz zu den Ergebnissen der weiter oben angeführten Ermittlungsverfahren auch deutlich unter 0,3 Prozent liegen. Diese Erkenntnis ist jedoch mit Unsicherheiten behaftet, da nicht berücksichtigt ist, wie viele Menschen außerhalb des Krankenhauses an Atemwegserkranken verstorben sind.
Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat. Seine im Oktober 2021 bei Multipolar veröffentlichten Recherchen zu den Abrechnungsdaten der Krankenkassen mit Blick auf COVID-19 wurden von verschiedenen Medien aufgegriffen – und erschienen im März 2022 auch im International Journal of Epidemiology.
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