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War Schweden erfolgreicher?

Der langjährige schwedische Staatsepidemiologe Johan Giesecke machte im Frühjahr 2020 mehrere Voraussagen zum weiteren Verlauf der Corona-Krise und warb dabei für den schwedischen Weg. Mehr als ein Jahr später zeigen offizielle Daten, dass er in fast allem recht behalten hat: Trotz hoher COVID-19-Opferzahlen sind Schwedens Gesamtsterbefallzahlen niedriger oder ähnlich hoch wie die seiner skandinavischen Nachbarländer.

KARSTEN MONTAG, 15. August 2021, 2 Kommentare, PDF

Hinweis: Dieser Beitrag ist auch auf Englisch verfügbar.

Einer der vehementesten Verfechter des schwedischen Sonderwegs ist Professor Johan Giesecke. Er war schwedischer Staatsepidemiologe von 1995 bis 2005 und anschließend bis 2014 leitender Wissenschaftler beim Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Derzeit ist er Berater der WHO und der schwedischen Regierung in Fragen zu infektiösen Gefahrenlagen. Zu Beginn der Corona-Krise machte Giesecke mehrere Vorhersagen über den weiteren Verlauf. Heute, etwas mehr als ein Jahr später, lassen sich seine Aussagen anhand aktueller Daten überprüfen.

Im Gegensatz zu allen anderen EU-Ländern hat es in Schweden bisher keinen Lockdown gegeben. Es gab keine Maskenpflicht, Schulen und öffentliche Einrichtungen blieben weitestgehend geöffnet. Es wurden und werden auch keine negativen Tests oder Impfnachweise verlangt, um am öffentlichen Leben teilzunehmen. Abhängig von der Anzahl der positiven Testfälle wurden die Teilnehmerzahlen von Veranstaltungen begrenzt und Gaststätten mit unterschiedlichen Auflagen belegt, jedoch nicht geschlossen. Die oberste schwedische Gesundheitsbehörde empfahl ihren Mitbürgern größtenteils lediglich vorbeugende Maßnahmen.

In mehreren Interviews im April 2020 wies Giesecke darauf hin, dass es nur zwei Maßnahmen in der Bekämpfung von Epidemien gäbe, die auf einer wissenschaftlichen Grundlage basieren: Hände waschen und Abstand zueinander halten. Giesecke kritisierte Schul- und Grenzschließungen, das Tragen von Masken sowie freiwillige Quarantäne in Innenräumen, da dort das Infektionsrisiko höher ist als im Freien. Keine dieser Maßnahmen sei evidenzbasiert. Den Regierungen, die nicht evidenzbasierte Maßnahmen anordneten, warf er nutzlose Symbolpolitik vor.

Johan Giesecke im April 2020

Zudem machte er in den Interviews folgende konkrete Vorhersagen:

    1. Lockdowns können die Sterblichkeit nur kurzfristig reduzieren und verschieben sie lediglich in die Zukunft. Unterm Strich werden in Ländern mit Lockdowns ähnlich viele Menschen versterben wie in Schweden.
    1. Die Sterblichkeitsrate von COVID-19 wird bei 0,1 bis 0,2 Prozent liegen und vielleicht nur wenig höher als bei der jährlich wiederkehrenden Influenza.
    1. Der Kampf gegen die Ausbreitung der Krankheit ist sinnlos. Trotz strikter Maßnahmen wird sich das Virus auf der ganzen Welt verbreiten.
    1. Länder, die das öffentliche Leben mit Zwang herunterfahren, werden höhere wirtschaftliche Einbußen verzeichnen als Schweden.
    1. In westlichen Demokratien werden die Menschen gegen wiederkehrende Lockdowns Widerstand leisten.

Ist Schweden gescheitert?

In jüngster Zeit ist großen deutschen Medien, unter anderem der Tagesschau, immer wieder zu entnehmen, dass der schwedische Sonderweg gescheitert sei, da das Land mit seiner Corona-Bilanz im Vergleich zu seinen skandinavischen Nachbarn schlecht dastehe. Vergleicht man die offiziellen COVID-19-Sterbefälle je eine Million Einwohner im Zeitraum von der ersten Kalenderwoche 2020 bis zur 27. Kalenderwoche 2021, so liegt Schweden tatsächlich weit abgeschlagen hinter seinen Nachbarn und auch hinter Deutschland.

Abbildung 1: Eigene Darstellung, Datenquellen: Eurostat, WHO Coronavirus Dashboard

Die Ermittlung der COVID-19-Sterbefälle erfolgt in der Regel durch Tests. Diese Art der Feststellung der Todesart während einer Pandemie ist vollkommen neu und kann nicht unbedingt als Standard angesehen werden. In der Vergangenheit hat man aus Mangel an flächendeckenden Laboruntersuchungen zur Bestimmung der Opfer einer Grippewelle die Übersterblichkeit aus den Gesamtsterbefällen herangezogen. Stellt man anstatt der COVID-19-Sterbefälle die gesamte Anzahl der Sterbefälle je eine Millionen Einwohner der Länder für denselben Zeitraum nebeneinander, dann ergibt sich ein vollkommen anderes Bild.

Abbildung 2: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

In diesem Fall befindet sich Schweden hinter Norwegen auf Platz zwei, und Deutschland ist im Vergleich dieser fünf Länder das Schlusslicht. Da die Länder eine unterschiedliche Altersstruktur aufweisen, sollte man fairerweise unterschiedliche Altersgruppen miteinander vergleichen. Doch auch dort sind die Ergebnisse überraschend. In der Altersgruppe unter 60 Jahre hat Schweden im Verhältnis zu seinen skandinavischen Nachbarn und zu Deutschland die geringste Sterberate aufzuweisen.

Abbildung 3: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Und in der Altersgruppe ab 60 Jahre liegt Schweden nur knapp hinter Finnland auf Platz drei und deutlich vor Deutschland.

Abbildung 4: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Die weit auseinander klaffenden Ergebnisse beim Vergleich der offiziellen COVID-19-Opfer sowie beim Vergleich der gesamten Sterbefallzahlen lassen zwei logische Schlussfolgerungen zu. Entweder sind in Norwegen, Dänemark, Finnland und Deutschland deutlich mehr Menschen an anderen Ursachen als der Pandemie, beispielsweise an den Folgen der Maßnahmen, verstorben, oder die Ermittlung der COVID-19-Opfer anhand von Laboruntersuchungen ist mit großen Fehlern behaftet und führt von Land zu Land zu sehr unterschiedlichen Resultaten. Festhalten lässt sich, dass sich der alleinige Vergleich der offiziellen COVID-19-Opfer nicht eignet, um die Corona-Bilanz eines Landes zu bewerten.

Giesecke, der zu Beginn der Krise prophezeit hat, dass am Ende in den Ländern mit Lockdowns ähnlich viele Menschen versterben werden wie in Schweden, hat in der Nachbetrachtung etwas über ein Jahr später Recht behalten.

Unterschiedliche Schätzungen der Sterblichkeit

Hinsichtlich der Sterblichkeit von Krankheiten existieren zwei Kennziffern, die Fallsterblichkeitsrate und die Infektionssterblichkeitsrate, die unterschieden werden müssen. Die Fallsterblichkeitsrate gibt an, wie hoch der Anteil der an der Krankheit Verstorbenen an der Anzahl der bestätigten Fälle ist. Die Infektionssterblichkeitsrate gibt hingegen an, wie hoch der Anteil der an der Krankheit Verstorbenen an der Anzahl aller Infektionen ist. Nicht jede Infektion ist auch ein bestätigter Fall, da sowohl bei der Influenza als auch bei COVID-19 viele Krankheitsverläufe harmlos sind und nicht durch einen Test bestätigt werden. Die Anzahl aller Infektionen liegt daher bei diesen Krankheiten deutlich höher als die der bestätigten Fälle, und die Infektionssterblichkeitsrate ist damit deutlich niedriger als die Fallsterblichkeitsrate.

Wenn man die Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 mit der von Influenza vergleicht, müssen einige wichtige Punkte berücksichtigt werden:

  • Die Infektionssterblichkeitsrate der Influenza wurde in der Vergangenheit mithilfe der Übersterblichkeit und einer groben Schätzung der Anzahl aller Infektionen bestimmt. Diese Methode birgt jedoch große Fehlerquellen:

(1) Zur Ermittlung der Übersterblichkeit wird lediglich die Veränderung der absoluten Sterbefälle berechnet und demografische Veränderungen wie ein deutlicher Anstieg der Altersgruppe der über 80-jährigen nicht berücksichtigt. Dadurch können Sterbefälle aufgrund von Alterserkrankungen als Influenza-Todesfälle fehlinterpretiert werden.

(2) Die Anzahl der Infizierten wird auf 5 bis 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt. Je nachdem, welchen Wert man für die Anzahl der Infizierten einsetzt, ändert sich die ermittelte Infektionssterblichkeitsrate signifikant. Ein Beispiel: In der Grippesaison 2017/18 sollen laut RKI in Deutschland 25.100 Menschen an der Influenza verstorben sein. Demnach lag die Infektionssterblichkeitsrate in diesem Zeitraum zwischen 0,15 und 0,61 Prozent.

  • Aufgrund der vielen Tests während der Ausbreitung von COVID-19 sowie flächendeckender Seroprävalenzstudien, in denen bei den Teilnehmern die Bildung von Antikörpern gegen die Krankheit ermittelt wurde, existieren für die Berechnung der Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 Studien, welche diese Werte zugrunde legen. Doch auch diese Methode birgt große Fehlerpotentiale:

(1) Wie bereits erwähnt ist es möglich, dass die Zählweise der COVID-19-Sterbefälle fehlerhaft sein kann. In Deutschland ist sie sogar wahrscheinlich grob fehlerhaft, da die offizielle Opferzahl deutlich von der von demografischen Veränderungen bereinigten Übersterblichkeit abweicht.

(2) Der Nachweis der Verbreitung der Krankheit mittels Antikörperbestimmung erweist sich als problematisch, da offenbar nur ein Teil der Infizierten Antikörper entwickeln und trotzdem die Krankheit überstehen und immun werden, wie Professor Giesecke in einem Beitrage in dem medizinischen Fachmagazin The Lancet feststellt. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch eine deutsche Studie, die empfiehlt, dass die Ermittlung der Immunität gegen SARS-CoV-2 nicht allein auf der Antikörperbestimmung beruhen sollte.

Die Grippesaisons 2018/19 und 2019/20 sind sehr mild verlaufen. Es war daher zu erwarten, dass eine stärkere Grippe oder Influenza-ähnliche Krankheit wie COVID-19 in der folgenden Grippesaison mehr Todesopfer fordern würde als nach einer schwereren Grippewelle im Vorjahr.

Die Lebensweise und auch die wirtschaftliche Situation hat sich in den Ländern mit Lockdowns während der letzten beiden Grippesaisons zum Teil drastisch verändert. Insbesondere alte und dem Tode schon sehr nahe stehende Menschen wurden in Pflegeheimen über Wochen von ihren Angehörigen getrennt oder aufgrund von Personalmangel zum Teil unterversorgt. Zudem haben die Lockdowns zu verhältnismäßig großen wirtschaftlichen Einbußen geführt. Es ist daher nicht klar, inwieweit die Sterblichkeit durch die Maßnahmen gesenkt oder wie viele Menschen durch die Maßnahmen selbst ums Leben gekommen sind.

Vor diesem Hintergrund muss man alle Studien und Metastudien zur Bestimmung der Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 sowie deren Vergleich mit der Influenza kritisch betrachten, denn die Angaben zu Opferzahlen und zur Infektionsausbreitung beruhen auf groben Schätzungen und Hochrechnungen sowie unterschiedlichen und, im Falle von COVID-19, noch nicht lange erprobten Ermittlungsmethoden.

So kommt eine Auswertung von Seroprävalenzstudien aus verschiedenen Ländern des renommierten Epidemiologen und Statistikers Professor John Ioannidis von der Stanford Universität im März 2021 auf eine weltweite mittlere Infektionssterblichkeitsrate von 0,15 Prozent bei einer geschätzten Infektion von 1,5 bis 2 Milliarden Menschen. Dies würde in Deutschland in etwa dem unteren Wert einer schweren Grippewelle (bei einer Infektion von 20 Prozent der Bevölkerung) entsprechen und somit die Vorhersage von Giesecke bestätigen.

Der deutsche Virologe Christian Drosten berichtete in einem Podcast vom 29. September 2020 hingegen von einer Metastudie, die für die USA eine Infektionssterblichkeitsrate von 0,8 Prozent ermittelt hat. Im Vergleich zur durchschnittlichen Infektionssterblichkeitsrate der Influenza von 0,05 Prozent sei die Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 damit 16 mal höher. Da die deutsche Bevölkerung älter sei als die amerikanische, schließt Drosten auf eine Infektionssterblichkeitsrate von COVID-19 in Deutschland von circa einem Prozent. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Zahl eine grobe Schätzung des deutschen Wissenschaftlers darstellt. Er habe das nicht ausgerechnet, sondern nur überschlagen, da er kein Demograf sei, so Drosten im Podcast. Trotz dieser Unzulänglichkeiten findet man seine Schätzung für Deutschland drei Mal unter den ersten fünf Treffern bei einer Google-Suche mit den Schlagworten „Infektionssterblichkeit COVID 19“ (Stand 4. August 2021).

Da die Ergebnisse der Studien und Schätzungen zur Infektionssterblichkeit von COVID-19 derart weit auseinandergehen und der Vergleich zwischen der Influenza und SARS-CoV-2 sich als schwierig herausstellt, ist es angebracht, andere Methoden zur Ermittlung der Sterblichkeit heranzuziehen. Der Vergleich der absoluten Sterbefallzahlen in Schweden während der Grippesaisons, die jeweils von der 40. Kalenderwoche bis zur 20. Kalenderwoche des Folgejahres andauern, zeigt, dass diese stark schwanken und in den Grippesaisons 2019/20 und 2020/21 höher waren als in den entsprechenden Zeiträumen davor.

Abbildung 5: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Da sich, wie in vielen anderen westlichen Ländern, auch in Schweden ein demografischer Wandel vollzieht und die Altersgruppe der über 60-jährigen stetig anwächst, eignet sich der Vergleich der Sterberaten, also der Anteil der Verstorbenen einer Altersgruppe an der Größe der Bevölkerung in der Altersgruppe, besser, um die Entwicklung der Sterblichkeit nachzuvollziehen. Visualisiert man diese Werte, sind sowohl in der Altersgruppe bis 60 Jahre als auch in der Altersgruppe ab 60 Jahre keine besorgniserregenden Entwicklungen seit Beginn der COVID-19-Pandemie in Schweden festzustellen.

Abbildung 6: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Abbildung 7: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Zumindest für Schweden, einem Land, das bisher ohne Lockdowns und Maskenpflicht die Coronakrise bewältigt hat, hat Giesecke auch bezüglich der Infektionssterblichkeitsrate von SARS-CoV-2 Recht behalten. Diese kann aufgrund vergleichbarer Sterberaten mit den Vorjahren nicht signifikant über der von Influenza liegen. Höhere absolute Sterbefallzahlen lassen sich zudem eher auf den demografischen Wandel zurückführen als auf eine höhere Sterblichkeit durch die Krankheit.

Der Verlauf der Sterbewellen im Rahmen von COVID-19 ähnelt dem von schweren Grippewellen im 20. Jahrhundert

Viele der Länder, die noch im Frühjahr 2020 im Vergleich zu Spanien, Italien, Frankreich und Großbritannien eine relativ geringe Übersterblichkeit zu verzeichnen hatten und dies auf die erfolgreiche Umsetzung ihrer Maßnahmen zurückführten, mussten im Winter 2020/21 erkennen, dass selbst eine verschärfte Form der Kontaktbeschränkung, Ausgangssperren sowie Schul- und Geschäftsschließungen nicht verhindern konnten, dass sich mehr Menschen mit dem Erreger infizierten und im Extremfall auch daran verstarben. Gut zu sehen ist dieser Effekt an den Nachbarländern Deutschland und Frankreich sowie Spanien und Portugal.

Abbildung 8: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Abbildung 9: Eigene Darstellung, Datenquelle: Eurostat

Während Frankreich und Spanien im Vergleich zu ihren jeweiligen Nachbarländern Deutschland und Portugal im Frühjahr 2020 hohe Sterbefallzahlen zu verzeichnen hatten, zeigte sich im Winter 2020/21 ein umgekehrtes Bild. Das Virus scheint sich ganz offensichtlich nicht sonderlich von Maßnahmen wie Lockdowns und Maskenpflicht beeindrucken zu lassen, sondern zeigt bei seiner Ausbreitung einen Verlauf, wie er auch während schwerer Grippewellen im 20. Jahrhundert zu beobachten war. Nach einem bis maximal zwei hohen Übersterblichkeitswellenbergen klingen die Sterbefälle in den darauf folgenden Grippesaisons wieder ab.

Auch hinsichtlich der Ausbreitung des Virus ungeachtet der jeweiligen Maßnahmen hat sich Gieseckes Vorhersage offenbar bestätigt.

Schwedens wirtschaftliche Einbußen sind geringer als der Schnitt in der EU

Bis auf Irland ist die Wirtschaft in allen EU-Staaten im Jahr 2020 geschrumpft. Schwedens Einbußen sind jedoch mit -3,5 Prozent nur knapp halb so hoch wie der Schnitt von -6,3 Prozent in der EU und deutlich geringer als im Großteil der EU-Länder.

Abbildung 10: Eigene Darstellung, Datenquelle: Weltbank (größere Darstellung hier)

Auch diese Prophezeiung von Giesecke hat sich bezüglich der meisten EU-Staaten bewahrheitet. Im Vergleich mit seinen EU-Nachbarstaaten Dänemark und Finnland steht Schweden zumindest auf gleicher Augenhöhe.

Proteste in vielen Ländern

Während die Regierung in Schweden die vergleichsweise geringen Einschränkungen des öffentlichen Lebens im Sommer 2021 bereits fast vollkommen aufgehoben hat und Menschen ohne Impfung gegen SARS-CoV-2 keine Diskriminierung erfahren, sind die Deutschen weiterhin verpflichtet, in geschlossenen öffentlichen Räumen Masken zu tragen, und deutsche Politiker drohen Ungeimpften weitreichende Konsequenzen an, sollten sie weiterhin eine Impfung verweigern. Und während in Schweden ein Lockdown trotz zum Teil deutlich höherer Inzidenzzahlen als in Deutschland ausgeschlossen bleibt, müssen die Deutschen aufgrund vergleichsweise niedriger Inzidenzzahlen bereits im Herbst 2021 wieder mit Schul- und Geschäftsschließungen sowie Ausgangssperren rechnen.

Der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen, denen es größtenteils an wissenschaftlicher Evidenz mangelt, hat zu den größten regierungskritischen Demonstrationen in Deutschland seit dem Ende der DDR geführt. Das gewaltsame Vorgehen der Polizei bei der Auflösung von zuvor mit nur schwer nachvollziehbaren Begründungen untersagten Protesten der Maßnahmenkritiker hat den UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer dazu bewogen, die deutsche Regierung und die Polizei davor zu warnen, das Volk nicht als Feind zu behandeln. Zudem hat er angekündigt, von der deutschen Regierung eine Stellungnahme zu den über einhundert Zeugenaussagen zur Polizeigewalt bei der Auflösung der Proteste am 1. August 2021 in Berlin zu fordern.

Am 7. August kam es in Frankreich aufgrund des geplanten Ausschlusses Ungeimpfter, nicht Getesteter beziehungsweise nicht Genesener vom öffentlichen Leben zu Protesten mit insgesamt circa einer Viertelmillion Teilnehmern. Auch in Italien kam es zu Demonstrationen gegen strengere Corona-Auflagen. In den westlichen Demokratien gehen eine Vielzahl von Menschen gegen die geplanten dauerhaften Einschränkungen der Grundrechte auf die Straße. Auch in diesem Fall hat der schwedische Epidemiologe Recht behalten.

Wo Giesecke irrte

Auf die Frage in einem Interview gegenüber dem österreichischem Magazin Addendum im April 2020, wie sich die Pandemie seiner Einschätzung nach weiterentwickeln würde, antwortete Giesecke, das Ganze sei in einem Jahr zum Großteil vorbei. Für Schweden, das sich in der Coronakrise darauf beschränkt hat, seiner Bevölkerung größtenteils nur Verhaltensempfehlungen auszusprechen, mag sich diese Vorhersage erfüllt haben. Doch aufgrund der Lockdownstrategie und der Androhung beziehungsweise Umsetzung einer Impfpflicht in Deutschland und anderen Ländern werden die Maßnahmen voraussichtlich noch über Jahre Thema der politischen Auseinandersetzung bleiben und die Gesellschaft weiter spalten.

Angesichts der in diesem Beitrag dargelegten Vergleiche der Sterbefallzahlen und Sterberaten ist es verwunderlich, wenn nicht gar absurd, dass sowohl deutsche und internationale Medien als auch der schwedische König Carl Gustav behaupten, der schwedische Sonderweg sei gescheitert. Das Gegenteil ist der Fall.

Das Land hat eindrucksvoll gezeigt, wie man die Coronakrise erfolgreich bewältigen kann, ohne demokratische Grundrechte massiv einzuschränken und ohne die Gesellschaft dauerhaft zu spalten. Schweden sollte aufgrund seiner Strategie das Vorbild sein, an dem sich alle anderen Länder messen. Es steht wirtschaftlich besser da als der Großteil der europäischen Staaten, hat zum Teil deutlich geringere Sterbefälle je eine Million Einwohner als die meisten anderen EU-Länder und seine Gesellschaft wird nicht aufgrund massenhafter Proteste gegen die Maßnahmen vor eine innere Zerreißprobe gestellt.

Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat.

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JAMES B., 17. August 2021, 01:30 UHR

OT aus aktuellem Anlass bzgl. Afghanistan.

WELT (Poschardt-Leitartikel »Die Selbstzerstörung des Westens« [1]): »Unsere intellektuellen und kulturellen Eliten haben ihren Denkhorizont auf die Reichweite ihres Lastenfahrrads reduziert.« — Warum nennt man sie dann überhaupt noch »Eliten«?

Herr Poschardt übersieht, dass er selbst Teil der Medienelite ist, die seit Jahren »mehr Verantwortung in der regelbasierten internationalen Ordnung« (statt Völkerrecht!) predigt; die es super findet, wenn eine 25 Jahre alte Fregatte unter deutscher Flagge in chinesische Gewässer (Neusprech: Indo-Pazifik) schippert, um »Entschlossenheit« zu demonstrieren, sich dann aber vor lauter Realitätsverweigerung wundert, warum der gerade noch seetaugliche deutsche Schrotthaufen dann nicht in Schanghai auftanken darf; einer Medienelite, die die Welt vor Corona, dem Klimawandel und toxischer weißer männlicher Intoleranz retten will, auch wenn es wegen zahlloser Widersprüche die eigene Glaubwürdigkeit kostet.

WELT (»Fehleinschätzung zu Afghanistan — Maas in Erklärungsnot — Den Geheimdiensten drohen Konsequenzen« [2]). Auch hier Opium für das Volk: Noch kein Geheimdienstchef wurde gegangen, weil sein Laden nach Strich und Faden versagte. Maaßen wurde Opfer seines einmalig deutlichen Widerspruchs zur unantastbaren Kanzlerin, und nicht in Sachen Bundestrojaner, NSU oder Anis Amri. Im übrigen passieren so Sachen wie Afghanistan, wenn man mit der Schaffung von Fake News (Skripals, Tiergartenmorde, russisches Staatsdoping, Russiagate, Navalny) beschäftigt ist und die wirkliche Welt da draußen aus den Augen verliert.

In keiner Zeitung steht: An diesem Wochenende des 15. August 2021 endete die globale Vorherrschaft des »Westens« endgültig. Die Tage von Mackinders Heartland-Theorie und seiner US-Nachfolgedoktrin »Grand Chessboard« der Weltherrschafts-Fossile Kissinger und Brzezinski sind gezählt. In Kabul arbeiten derzeit zwei Botschaften ungehindert weiter: die der Russischen Föderation und die Chinas, unter Bewachung der Taliban. Afghanistan erhielt an diesem Wochenende Beobachterstatus in der SCO, während der Iran Vollmitglied wurde.

Derweil gibt ein völlig weltfremder Joe Biden allen die Schuld am Versagen in Afghanistan, bloß nicht sich selbst; er fabuliert von "Ko-Realitäten"; er beschuldigt das (vom Westen ausgebildete) afghanische Militär und sogar die Zivilbevölkerung. 2002 gab er G. W. Bush freie Hand in Afghanistan, zusammen mit 75 anderen Senatoren. Er versprach den Russen in Syrien ein zweites Afghanistan. Nun hat er sein zweites Vietnam.

Die ganze Welt konnte an diesem Wochenende überdeutlich sehen, dass der »Westen« eine Karikatur seiner selbst geworden ist; ein Papiertiger, nicht einmal in der Lage, seinen eigenen großen Zielen gerecht zu werden, aber niemals verlegen, anderen etwas von Moral zu erzählen. VW wählte als Werbespruch »Way to Zero« — er könnte genau so gut zur EU und zur NATO passen: auf dem Weg in die Irrelevanz. Während chinesische Medien witzeln: Die heutige Machtübergabe in Kabul läuft unblutiger ab, als die in Washington im Januar.

[1] 16.08.2021: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus233179771/Afghanistans-Fall-Die-Selbstzerstoerung-des-Westens.html

[2] 16.08.2021: https://www.welt.de/politik/deutschland/article233177711/Fehleinschaetzung-zu-Afghanistan-Jetzt-kommt-Maas-in-Erklaerungsnot.html

GOTTFRIED SCHERER, 20. August 2021, 18:55 UHR

Danke für die Artikel: Nachdem ich mich während der bisherigen Covd-Wellen durch viele Statistiken gefressen habe und zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen war, freue ich mich, dass diese Analyse auch für mich noch Neues zeigt. Meine Meinung, dass jegliche Expertokratie von Übel ist, bestätigt sich bedauerlicherweise auch in diesen Zeiten, in denen sich eine Ausweitung auf "eu"genische Proceduren ankündigt. Experten sind nur so lange hilfreich, solange sie ökonomisch unabhängig, frei und wissenschaftlich arbeiten und ihre Ergebnisse kontrovers diskutieren.

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