Pandemieplan für die Schublade
PETER STREIFF, 29. April 2024, 5 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Erst vor wenigen Wochen erinnerte Lothar Wieler, ehemaliger Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) in einem Interview an ein Dokument, das in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist:
„Vom Robert Koch-Institut lag ein mit allen relevanten Institutionen in jahrelanger Arbeit abgestimmter Nationaler Pandemieplan als Rahmenplan vor, der bestimmte Institutionen mit Aufgaben vorsah. Darin waren auch Informationswege beschrieben, damit man koordiniert handelt.“
Auf die Inhalte dieses Rahmenplans ging Wieler nicht näher ein, kritisierte aber rückblickend die sogenannte Ministerpräsidentenkonferenz als „laut Pandemieplan gar nicht existent“. Während Wieler in seinen damaligen Pressekonferenzen eher mit der Nennung steigender Inzidenzen, mit Erläuterungen zum „R-Wert“ und mit Ermahnungen zur Einhaltung der Lockdown-Maßnahmen in Erinnerung blieb, war vom Nationalen Pandemieplan damals öffentlich kaum die Rede. Grund genug, in diesem Beitrag dessen Inhalt zu erläutern sowie der Frage nachzugehen, inwieweit dieser Plan in den freigeklagten RKI-Protokollen eine Rolle spielt.
Inhalt des Pandemieplans
Wie von Lothar Wieler erwähnt, ist der Nationale Pandemieplan in jahrelanger Arbeit entstanden. Eine erste Fassung wurde 2005 veröffentlicht, bis zum Jahr 2017 wurde er überarbeitet und aktualisiert. Strukturen und Maßnahmen sind im Teil 1 beschrieben, die wissenschaftlichen Grundlagen im Teil 2.
Laut einer Meldung des Ärzteblatts vom 5. März 2020 dient der Nationale Pandemieplan „der Vorbereitung auf eine Influenzapandemie in Deutschland und sieht drei klar voneinander abgegrenzte Phasen vor: Eindämmung, Schutz und Mitigation [Abschwächung, Red.].“ Zuerst gehe es also darum, Krankheitsausbrüche einzudämmen, danach sollten vorrangig Menschen vor Ansteckung geschützt werden und in der dritten Phase müssten die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem gemildert werden. Anlass für die damalige Meldung war eine Pressekonferenz des RKI, bei der Wieler bekannt gab, dass sein Institut „den für Influenza entwickelten Nationalen Pandemieplan für die Bekämpfung des neuen Coronavirus angepasst“ habe.
Demnach ergebe die Trennung in drei Phasen bei der Influenza Sinn, da sich das Virus rasch verbreite: „Wenn ein Patient einen anderen Menschen ansteckt, hat man schon nach zwei bis drei Tagen beim nächsten eine Krankheit“, so Wieler. „Bei SARS-CoV-2 ist diese Rate langsamer. Sie beträgt etwa sieben Tage.“ Somit bestehe doppelt so lange die Chance, Ausbrüche noch eindämmen zu können. Bei der Kontaktnachverfolgung von Infizierten sei man möglicherweise erfolgreicher als bei der Influenza, gab sich Wieler damals optimistisch.
Die im März 2020 vorgestellte „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan – COVID-19 – neuartige Coronaviruserkrankung“ ist als 39-seitiges Dokument mit Datum vom 4. März 2020 auf der RKI-Website zu finden. Darin sind „spezifische Empfehlungen und Maßnahmen für eine Bewältigung des COVID-19-Geschehens in Deutschland zusammengefasst“. Obwohl vermerkt ist, dass das Dokument aktualisiert und ergänzt werde, „sobald neue Erkenntnisse eine Aktualisierung/Änderung der Empfehlungen notwendig“ machen würden, blieb es bis dato unverändert.
Kriterien für die Risikoeinschätzung
Was hat nun der Nationale Pandemieplan mit den von Multipolar freigeklagten RKI-Protokollen zu tun? Hintergrund der Klage auf Herausgabe der Protokolle war bekanntlich, dass das RKI sämtliche Nachfragen, auf welche Fakten und Argumente sich seine Hochstufung der Risikoeinschätzung im März 2020 bezog, abgeblockt hatte. Am 17. März 2020, als die Risikoeinschätzung des RKI von „mäßig“ auf „hoch“ heraufgesetzt wurde, waren dazu im täglichen Situationsbericht lediglich drei allgemein gehaltene Sätze zu lesen:
„Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Bei einem Teil der Fälle sind die Krankheitsverläufe schwer, auch tödliche Krankheitsverläufe kommen vor. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit insgesamt als hoch ein.“
Hätte damals der Nationale Pandemieplan für die Risikoeinschätzung eine Rolle gespielt, hätten die in seinem zweiten Teil auf Seite 57 genannten Kriterien herangezogen werden müssen:
„Für die kontinuierliche, differenzierte Risikoeinschätzung können drei grundlegende Kriterien herangezogen werden: das epidemische Potenzial in der Bevölkerung, das epidemiologische (Schwere)-Profil von Influenzaerkrankungen und die Ressourcenbelastung im Gesundheitsversorgungssystem. Informationen zu diesen Kriterien liefern virologische, epidemiologische und klinische Daten, die durch Surveillancesysteme und Studien erhoben werden müssen.“
Vereinfacht ausgedrückt hätte sich laut Pandemieplan damals jeder Amtsarzt fragen müssen, wie viele Menschen in seinem Landkreis an COVID-19 erkrankt sind, wie schwer sie krank sind und wie stark die Krankenhäuser dadurch ausgelastet sind. Denn laut Nationalem Pandemieplan (Teil 1, Seite 7) sollen „die Maßnahmen auf nationaler Ebene auf der nationalen und lokalen Risikoeinschätzung basieren und situationsangemessen sein“ – ganz im Gegensatz zu den aktuell diskutierten Pandemieverträgen der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Neben Informationen seiner ärztlichen Kollegen vor Ort hätte sich ein Amtsarzt daher auf das RKI als Dienstleister stützen können, das seit der Saison 2017/2018 „eine kontinuierliche Risikobewertung der saisonalen Grippewellen“ durchführte. Dabei wird laut Pandemieplan mittels unterschiedlicher Beobachtungsmethoden, sogenannter Sentinelsysteme, die Zahl der Patienten mit Atemwegserkrankungen, der Anteil schwerer Krankheitsverläufe und der Anteil der Intensivpatienten in Krankenhäusern „im Vergleich zu früheren Grippesaisons“ bewertet. Dazu heißt es in der erwähnten „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan“ vom 4. März 2020:
„Das Konzept ist für die syndromischen Sentinelsysteme (GrippeWeb, Arbeitsgemeinschaft Influenza und ICOSARI-Krankenhaussurveillance) direkt auf das COVID-19 Geschehen übertragbar.“
Dabei erfasst das Beobachtungssystem GrippeWeb die Aktivität akuter Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung und stützt sich auf wöchentliche Online-Meldungen von etwa 5.000 Freiwilligen. Das virologische Beobachtungssystem der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) basiert auf Sentinelproben unterschiedlicher Viren aus registrierten Arztpraxen. Und in die Krankenhaussurveillance fließen wöchentlich Daten aus 72 Sentinelkliniken ein. Ausführlicher hatte der Autor die Sentinelsysteme in seinem Multipolar-Beitrag vom 7. Mai 2020 vorgestellt.
Anschaulich zeigte eine Graphik für die Woche vom 14. bis zum 20. März 2020, wie gering „die Rate der grippeähnlichen Erkrankungen“ (abgekürzt ILI) im Vergleich zu den Vorjahren ausfiel.
Vergleich der für die Bevölkerung in Deutschland geschätzten ILI-Raten (gesamt, in Prozent) in den Saisons 2016/17 bis zur 12. KW 2019/20. Der schwarze, senkrechte Strich markiert den Jahreswechsel. Quelle: RKI, Arbeitsgemeinschaft Influenza, Influenza-Wochenbericht Kalenderwoche 12/2020 (14.3. bis 20.3.2020), S. 2
Laut Wochenbericht war in jener Woche die Rate von 1,5 Prozent auf 0,6 Prozent „im Vergleich zur Vorwoche stark gesunken“. Bekanntlich wurde damals der erste Lockdown beschlossen, der sich keinesfalls mit den niedrigen GrippeWeb-Zahlen hätte rechtfertigen lassen.
Pandemieplan in den RKI-Protokollen
Dass eine RKI-interne wissenschaftliche Diskussion rund um die Hochstufung der Risikoeinschätzung am 17. März 2020 nicht dokumentiert ist – was eine politische Anweisung plausibel macht–, hatte bereits der erste Multipolar-Beitrag zu den Protokollen gezeigt. Eine genauere Durchsicht der Protokolle von Januar bis Mitte März 2020 belegt nun, dass der Nationale Pandemieplan mit seinen Surveillancesystemen zumindest Thema in den Sitzungen des Krisenstabs war.
Obwohl zu Beginn viele Abschnitte zu „Maßnahmen“ sowie „Surveillance“ geschwärzt sind, ist nachlesbar, dass am 30. Januar stichwortartig erwähnt wird, dass das RKI ein Konzept für die nächste Phase vorbereiten solle – einschließlich „Querverweise auf Pandemieplan, Anpassung von Informationsinhalten“. Ergänzend folgt der Hinweis: „Aktuell kann keine Energie in einen zusätzlichen Rahmenplan gesetzt werden, an einer Minimallösung muss gearbeitet werden.“ Bereits am Folgetag wird es konkreter, denn mit dem Hinweis auf „ICOSARI, AG Influenza und Grippeweb“ heißt es, dass „Aussagen zur Schwere der Erkrankung prinzipiell möglich sind“ und dass COVID-19 „in der virologischen Surveillance der AGI mit überwacht werden kann“. Eine knappe Woche später, am 5. Februar, wird es noch präziser: Grippeweb könne „zur Validierung der Informationen genutzt werden“.
Mitte Februar nehmen gemäß den Protokollen die konzeptionellen Überlegungen Form an, wobei am 12. Februar noch der Wunsch geäußert wird, „ein Rahmenkonzept für außergewöhnliche Lagen“ zu erstellen, das „u.a. basiert auf Influenza Pandemieplan“. Ergänzend folgt der Hinweis, dass ein „besprochener nCoV-Ratgeber diesem Rahmenkonzept zuliebe depriorisiert wird“. Weitere fünf Tage später wurde „ein erster Aufschlag für ein Rahmenkonzept (ca. 35 Seiten) von Fachgruppe 36 erstellt“, wobei „auch auf den Nationalen Pandemieplan Teil 1 und 2 verwiesen“ wird.
Auszug aus dem Protokoll des RKI-Krisenstabs vom 17. Februar 2020, Quelle: RKI-Protokolle zum Download
Mit diesem Rahmenkonzept war das Bundesgesundheitsministerium (BGM) am 21. Februar einverstanden, drei Tage später erhielt die RKI-Fachgruppe 36 den Auftrag zur „Finalisierung“ des Konzepts, das am 5. März umbenannt wurde in „Ergänzung zum Nationalen Pandemieplan (NPP)“ – der wie oben erwähnt von Lothar Wieler der Presse vorgestellt wurde.
Drei Tage davor ist im Protokoll ersichtlich, dass auch einzelne Surveillancesysteme des Pandemieplans als relevant betrachtet wurden, denn obwohl bis zu diesem Zeitpunkt im AGI Sentinel von bislang „über 140 Proben alle negativ“ waren, sei „die Surveillance ein wichtiger Pfeiler, um eine Community Transmission zu identifizieren“.
Diskrepanzen werden deutlich
Parallel zu der Ausarbeitung des Pandemieplans und der Betonung, wie wichtig die darin enthaltenen Beobachtungssysteme seien, werden jedoch in den RKI-Protokollen jener Tage zunehmende Diskrepanzen deutlich: Während am 11. März (hier die Protokolle zum Download) das Sentinel der AGI den ersten positiven Fall meldete und dies lediglich eine Zeile im Protokoll beansprucht, nahm die Berichterstattung zu den auf den PCR-Tests beruhenden Fallzahlen breiten Raum ein. Hektische Betriebsamkeit ist auf mehreren Seiten zu spüren, wenn von einem „Strategieergänzungspapier“, einem „Konzept für Krankenhaus-Hygieniker“, einem Dokument zum „Umgang mit Leichen“ und der „Ministerpräsidentenkonferenz“ geschrieben wird – alles Begriffe, die im Pandemieplan nicht vorkommen.
Gegenüber der Öffentlichkeit hatte sich Wieler anlässlich der erwähnten RKI-Pressekonferenz vom 6. März noch optimistisch geäußert, dass die Chancen einer erfolgreichen Eindämmung besser seien, „da sich SARS-CoV-2 deutlich langsamer verbreite als Influenza“. In den landesweiten Wohnzimmern hatte jedoch die Tagesschau längst eine andere Tonlage angeschlagen: So wurde die erstmalige Sperrung von zehn Ortschaften in der Lombardei und die Meldung von 130 in Italien mit PCR positiv getesteten Personen am 23. Februar auf alarmierende Weise mit einem Bild des weitgehend menschenleeren Mailänder Domplatzes illustriert, auf dem lediglich vier Menschen zu sehen sind – darunter eine asiatisch aussehende Frau mit Mundschutz.
Ähnliche Diskrepanzen waren auch auf Länderebene festzustellen, wie beispielsweise in Baden-Württemberg: Zeitgleich mit den anderen 15 Bundesländern und ebenfalls Anfang März 2020 gab die Landesregierung den angepassten „Pandemieplan des Landes“ bekannt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann appellierte an die Bevölkerung, „Ruhe zu bewahren“, bisher sei bei Patienten ein „milder Verlauf der Krankheit“ zu verzeichnen und die Fachleute des Gesundheitsministeriums würden sich „bezüglich der Einschätzung der Lage auf die Bewertung des Robert Koch-Instituts“ stützen. Die teilweise zweimal täglich veröffentlichten Pressemitteilungen des Gesundheitsministeriums mit steigenden Fallzahlen vermittelten jedoch eine anderes, weit hektischeres Bild.
Interessant ist zudem, dass die baden-württembergischen Fachleute bereits bei der Erstellung ihres angepassten Pandemieplans auf die Diskrepanz zwischen hohen Fallzahlen aufgrund der PCR-Tests und der Einschätzung der wahren Krankheitslast in der Bevölkerung hingewiesen hatten (Seite 22):
„Im Verlauf einer Pandemie kann eine bestehende Meldepflicht aufgrund der hohen Fallzahlen bzw. Zahl der Untersuchungen zu einer Überlastung der diagnostischen Einrichtungen und der Meldungsempfänger (Gesundheitsämter) führen, ohne dass die Erhöhung der Zahl einen Informationsgewinn bringt. Lösungsansätze bestehen in der Vorbereitung von Deeskalationsmechanismen und Rücknahmeoptionen. Sentinelsysteme können z. B. die dann weiter benötigten Informationen zur Krankheitslast und aktuellen Situationseinschätzung liefern.“
Fehlende Evidenz
Diese Diskrepanz ist auch in einem der RKI-Protokolle benannt – allerdings versteckt und erst am 19. März, als die Lockdown-Maßnahmen bereits beschlossen waren: Unter der Rubrik „Aktuelle Lage“ berichtete die AGI Syndromische Surveillance aufgrund von Labordaten aus Arztpraxen, dass die „Positivenrate primär Influenza, sowie einige andere respiratorische Viren“ ausweise. Und weiter: Aus diesen Daten sei „(noch) keine Korrelation“ zwischen den COVID-19-Zahlen und den Zahlen der akuten Atemwegserkrankungen (ARE) zu erkennen. Zudem sei die COVID-19 Positivenrate aktuell zu niedrig und die Daten der syndromischen Surveillance müssten im Zusammenhang mit den Daten der virologischen Surveillance aus dem Nationalen Referenzzentrum (NRZ) interpretiert werden.
Auszug aus dem Protokoll des RKI-Krisenstabs vom 19. März 2020, Quelle: RKI-Protokolle zum Download
Diese deutliche, laut den RKI-Protokollen im Krisenstab geäußerte, fachliche Kritik an der damaligen Kommunikation mit der Öffentlichkeit griffen vor kurzem auch drei Wissenschaftler auf: Prof. Ingrid Mühlhauser, Prof. Johannes Pantel und Prof. Gabriele Meyer mahnten eine evidenzbasierte Risikokommunikation an, denn vor allem in den ersten Monaten der Pandemie seien „in den Medien überwiegend Rohdaten zu gemeldeten SARS-CoV-2-Infizierten ohne Bezugsgrößen kommuniziert“ worden. Und dies, obwohl Lothar Wieler pikanterweise das „Gesundheitsmonitoring für evidenzbasiertes Handeln“ als Motto für den Tag des Gesundheitsamtes am 19. März 2020 verkündet hatte.
Ein detaillierter Blick in die Zahlen der virologischen Surveillance verdeutlicht dies am Beispiel der dritten Märzwoche: Der damalige Wochenbericht der Arbeitsgemeinschaft Influenza schlüsselte bei einer Zahl von insgesamt 1.850 Proben mit positivem Virusnachweis seit Beginn der Grippesaison im Herbst 2019 die einzelnen respiratorischen Viren wie folgt auf: 409 Influenza-, 182 RS-, 225 hMP-, 184 PI-, 444 Rhino- und gerade einmal 6 SARS-CoV-2-Virusproben. Anders und verkürzt aus gedrückt: Von 56 Prozent positiven Proben fielen 0,7 Prozent auf SARS-CoV-2, 27 Prozent auf Influenza- und weitere 28 Prozent auf andere Viren.
Auch ein Vergleich der gemäß Infektionsschutzgesetz gemeldeten Fälle ist aussagekräftig: Der Wochenbericht weist für die ganze Grippesaison insgesamt 177.009 Influenzafälle aus. Das RKI-Protokoll am 19. März meldet dagegen vergleichsweise wenige 10.999 SARS-CoV-2-Fälle.
Angesichts dieser Zahlen wirken die Inhalte der tags davor ausgestrahlten Rede von Bundeskanzlerin Merkel zusammenhanglos: Mit der bekannten Aussage „es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst“ bezeichnete sie die „Corona-Krise als größte Herausforderung seit dem zweiten Weltkrieg“, um daraufhin „das öffentliche Leben so weit es geht herunter zu fahren“.
Schulschließungen ohne Plan
Zurück zu den RKI-Protokollen und damit zu den Tagen kurz vor Beginn der Lockdown-Maßnahmen und dabei insbesondere zum umstrittenen Entscheid, die Schulen ab Mitte März 2020 zu schließen.
Am 28. Februar wurde in der Rubrik „internationale Lage“ erstmalig von Schulschließungen berichtet, und zwar aus der Lombardei. Bald darauf folgten ähnliche Nachrichten aus Südkorea und aus Frankreich. Am 10. März taucht das Thema erstmals bezogen auf Deutschland auf, indem unkommentiert eine „neue Studie“ erwähnt wird. Sie zeige, dass „die Infektionshäufigkeit bei Kindern und Jugendlichen genau wie bei Erwachsenen“ sei, lediglich die Symptome seien weniger schwer. Dies lege nahe, „dass Schulschließungen prinzipiell sinnvoll sind“. Am Folgetag steht die Frage im Protokoll, ob die erwähnte Studie etwas ändere, ergänzt mit der Antwort: „wir wissen es weiterhin nicht“. Außerdem wird auf das bereits erwähnte Strategieergänzungspapier verwiesen, in dem „reaktive Schulschließungen in Gebieten, die nicht besonders betroffen sind, nicht empfohlen“ seien.
Wieder einen Tag später, also am 12. März, wird davon berichtet, dass Bayern und Sachsen „flächendeckende Schulschließungen überlegen“ und dass am Berichtstag die Kultusministerkonferenz das Thema bespreche. Im Protokoll festgehalten ist, dass das RKI „Schulschließungen nur in besonders betroffenen Gebieten für sinnvoll“ halte. Tags darauf, am Freitag, den 13. März, wird deutlich, dass die Kultusministerkonferenz die Schulschließungen bundesweit ab der darauf folgenden Woche beschlossen hatte. Im Protokoll sind dazu unkommentiert einige widersprüchliche Aussagen aneinander gereiht:
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„Es ist unklar, was die Konsequenz ist, wenn die Schulen jetzt für 4 Wochen schließen, ggf. kommt es bei Wiedereröffnung zu einer verstärkten Aktivität“
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„Auch im ECDC-Webinar wurde gesagt, dass es derzeit keine genauen Daten zu Kindern gibt.“ [ECDC ist das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, das europaweit die Surveillance-Daten sammelt, Anmerkung Red.]
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„In Analogie zu Influenza machen die Schulschließungen Sinn.“
Auszug aus dem Protokoll des RKI-Krisenstabs vom 13. März 2020, Quelle: RKI-Protokolle zum Download
Mit keinem Wort wird in den Protokollen jener Tage der Nationale Pandemieplan erwähnt, in dem mehrere Studien zum Thema Schulschließungen ausgewertet worden waren (Seite 52):
„Aus diesen Ergebnissen folgt, dass nur in einer relativ schweren Pandemiewelle mit rascher Verbreitung und einem hohen Anteil schwerer Erkrankungsverläufe (präventive) Schulschließungen eine sinnvolle Maßnahme darstellen.“
Fazit
Aus den weiterhin stark geschwärzten RKI-Protokollen lässt sich für die Wochen bis zu den ersten Lockdown-Maßnahmen ein vorläufiges Fazit ziehen. Einerseits wurde der seit 2017 existierende Nationale Pandemieplan im März 2020 an die aktuelle Situation angepasst und wurden die darin enthaltenen, evidenzbasierten Surveillancesysteme als wichtig für die Lageeinschätzung bezeichnet. Sie wiesen jedoch Mitte März 2020 im Vergleich zu den Vorjahren eine ungewöhnlich geringe Zahl an grippeähnlichen Erkrankungen aus. Parallel zu dieser Diskrepanz begann die Fixierung auf „Fallzahlen“. Die flächendeckenden Schulschließungen wurden innerhalb weniger Tage ohne stabile wissenschaftliche Grundlage beschlossen. Ähnlich wie bei der Hochstufung des Risikos für die Bevölkerung blieb und bleibt eine verlässliche und nachvollziehbare Datenbasis im Dunkeln.
Über den Autor: Peter Streiff, Jahrgang 1957, arbeitet als freier Journalist in Stuttgart mit den Schwerpunkten Ökologisches Bauen und Solidarische Ökonomie.
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