Mehr als tausend Passagen geschwärzt: Multipolar veröffentlicht freigeklagte RKI-Protokolle im Original
REDAKTION, 20. März 2024, 25 Kommentare, PDFWie Multipolar auf Grundlage der bislang geheim gehaltenen Papiere bereits berichtete, beruhte die im März 2020 vom RKI verkündete Verschärfung der Risikobewertung von „mäßig“ auf „hoch“ – Grundlage sämtlicher Lockdown-Maßnahmen und Gerichtsurteile dazu – anders als bislang behauptet nicht auf einer fachlichen Einschätzung des Instituts, sondern auf der politischen Anweisung eines externen Akteurs – dessen Name in den Protokollen geschwärzt ist. (Update 26.8.: Das RKI erklärte mittlerweile, hinter der Schwärzung verberge sich der Name eines Mitarbeiters.)
Für eine weitere gründliche Auswertung der mehr als 200 Protokolle mit einem Gesamtumfang von über 1.000 Seiten ist nun die Mitarbeit weiterer Journalisten und Rechercheure erforderlich. Die Protokolle umfassen den Zeitraum von Januar 2020 bis April 2021, da unser Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz, auf dem die spätere Klage beruhte, im Mai 2021 gestellt wurde. Der Antrag lautete:
Hiermit beantragen wir gemäß § 1 IFG, Art. 10 EMRK, namens und in beigefügter Vollmacht (...), Einsicht in Form der Erstellung von Kopien in alle Informationen, gleich in welcher Verkörperung,
– Sämtliche Protokolle, Tagesordnungen, Teilnehmerlisten und sonstiger Notizen des RKI-Corona-Krisenstabes seit seiner Gründung – laut RKI am 6.1.2020 – bis zum 30.4.2021;
– Alle Dokumente, Notizen und Schriftwechsel (ausgenommen Entwürfe) der Behörde, die sich im Vorfeld des ersten Zusammentretens mit der Planung und Einberufung des Krisenstabes befassen;
– Insbesondere sämtlicher Dokumente und Notizen (ausgenommen Entwürfe), die sich mit der Änderung der Risikobewertung am 17.3.2020 von „mäßig“ auf „hoch“ befassen, darunter auch Schriftwechsel innerhalb des RKI sowie zwischen dem RKI und dem Bundesgesundheitsministerium sowie ggf. weiteren Behörden der Bundesregierung.
Nach Nichtbeantwortung und Klageerhebung folgte ein langes Tauziehen unserer Rechtsanwälte der Kanzlei Partsch und Partner mit den Anwälten des RKI der Kanzlei Raue. Nach dem Austausch zahlreicher Schriftsätze beider Seiten mit dem Verwaltungsgericht Berlin ermahnte dieses im Februar 2023 die gegnerische Seite, mit der Bearbeitung zu einem Ende zu kommen und kündigte an, „der Klage wegen der bislang nicht erfolgten passagengenauen Darlegung von Ausschlussgründen voraussichtlich umfassend“ stattzugeben.
Daraufhin legte das RKI im April 2023 die Protokolle stark geschwärzt vor – offenbar auch, um ein Urteil des Gerichtes zu vermeiden. Schätzungsweise mehr als tausend Passagen wurden geschwärzt. Die Kanzlei Raue übersandte dazu ein mehr als 1.000-seitiges PDF-Dokument, in dem jede einzelne dieser Schwärzungen – zumeist formelhaft – begründet wird.
Die Schwärzungen gehen soweit, das teilweise sogar die simple Teilnahme von Gesundheitsminister Jens Spahn an einer Krisenstabssitzung verheimlicht wird (Protokoll vom 3. Februar 2020, Schwärzung des ersten Namens auf der Teilnehmerliste), obwohl sogar das Ministerium selbst dessen Teilnahme damals (mit Foto) auf Twitter öffentlich machte.
Im Juli 2023 klagten wir gegen die Schwärzungen. Die Anwälte des RKI beharrten im September gegenüber dem Gericht auf deren Angemessenheit, woraufhin unsere Anwälte im November antworteten. Die Gegenseite widersprach im Dezember erneut. Im Januar 2024 teilte das Gericht schließlich einen Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme mit. Dieser ist anberaumt für Montag, den 6. Mai 2024 um 9:30 Uhr im Dienstgebäude des Verwaltungsgerichts Berlin, Kirchstraße 7. (Aktenzeichen VG 2 K 278/21) (Update 29.4.: Die Verhandlung ist auf Antrag der RKI-Anwälte auf den 8. Juli verlegt worden.)
Unsere Redaktion hatte ursprünglich geplant, mit der Veröffentlichung der Protokolle abzuwarten, bis ein Urteil des Gerichtes vorliegt. Nachdem Anfang dieses Jahres jedoch der Gerichtstermin bekannt gegeben wurde, entschieden wir, die Publikation vorzuziehen. Wir hoffen, das Gericht entscheidet im Sinne größtmöglicher Transparenz, so dass bestenfalls im Mai die weniger bis gar nicht mehr geschwärzten Protokolle vorliegen – was als wesentlicher Schritt zur weiteren, überfälligen, Aufarbeitung der Coronakrise zu werten wäre.
Bis dahin laden wir alle interessierten Journalisten und Rechercheure ein, das Material gründlich zu sichten und ihre Erkenntnisse zu teilen.
Abschließend: Das Verfahren kostete unser Magazin bislang etwa 15.000 Euro. Wir finanzieren es aus den Kleinspenden unserer Leser – und sind für weitere Unterstützung dankbar.
Weitere Artikel zum Thema:
- „Es soll hochskaliert werden“ (Paul Schreyer, 18. März 2024)
- Wie der Lockdown nach Deutschland kam (Paul Schreyer, 15. Juli 2021)
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