Die Protestwelle ist da
PAUL SCHREYER, 17. Dezember 2021, 8 Kommentare, PDFDie Demonstrationswelle, die durch das Land rollt, seit die neue Bundesregierung am 30. November eine „allgemeine Impfpflicht“ angekündigt hat, erinnert an den Herbst 1989: Unabhängig voneinander und ohne zentrale Planung haben sich binnen kürzester Zeit in zahlreichen Städten wöchentlich stattfindende Proteste etabliert. Seit dem vergangenen Wochenende sind gut 50 deutsche Städte davon erfasst: 8.000 Demonstranten versammelten sich zuletzt in Hamburg, 3.000 jeweils in München, Fürth, Magdeburg, Rostock und Cottbus, 2.000 in Nürnberg, Reutlingen, Neumarkt, Freiburg, Aschaffenburg, Schweinfurt und Mannheim. Auch in zahlreichen weiteren Städten sind die Proteste in den vergangenen Tagen auf vierstellige Teilnehmerzahlen angewachsen – in vielen Fällen eine Verdopplung im Vergleich zur Vorwoche.
Aktuell demonstrieren in den vom Protest erfassten Städten im Schnitt etwa 0,5 bis 2 Prozent der Einwohner. Laut der fortlaufend aktualisierten repräsentativen COSMO-Studie der Universität Erfurt in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut sind mit Stand vom 3. Dezember allerdings 15 Prozent der befragten Bürger „bereit, an einer Demonstration gegen die einschränkenden Maßnahmen teilzunehmen“. (PDF, S. 23) Es besteht also noch erhebliches Potenzial, was die Größe der Demonstrationen angeht.
Die Strategie, die Proteste medial zu diffamieren und damit von weiterem Zulauf abzuschneiden, darf inzwischen als gescheitert angesehen werden. Zu viel Vertrauen haben die großen Medien bei der Gruppe der Maßnahmenkritiker und der Zweifler verloren, als dass sie mit ihrer Berichterstattung noch effektiv durchdringen würden. In Ermangelung von Alternativen wird dennoch weiterhin versucht, die Demonstranten als gefährliche Verwirrte oder Rechtsextreme zu diffamieren und auszugrenzen. Fast kein Kommentar von Bundes- und Landespolitikern zu den Protesten kommt ohne die Warnung vor „Radikalisierten“ und „drohender Gewaltbereitschaft“ aus. Dies wirkt umso seltsamer, als die Demonstrationen bislang fast überall friedlich ablaufen.
Neuauflage der „Strategie der Spannung“?
Da die Proteste für die Regierenden zunehmend gefährlich werden und wirksame Methoden zu ihrer Eindämmung fehlen, droht eine Neuauflage der „Strategie der Spannung“. (1) Dies ist eine historisch vielfach erprobte Methode, durch eingeschleuste Provokateure und verdeckt inszenierte Gewalttaten, die dem politischen Gegner in die Schuhe geschoben werden, diesen zu diskreditieren sowie Angst und Verunsicherung zu verbreiten. Ziel ist der Machterhalt und die öffentliche Akzeptanz harter Maßnahmen gegen die Opposition.
Die belegten Beispiele für dieses Vorgehen durch Regierungen sind zahlreich: angefangen bei Italien in den 1970er Jahren und Südafrika in den 1980ern. Mehrere ungeklärte Bombenanschläge in Westdeutschland in den 1970er Jahren stehen im Verdacht, Teil dieser Strategie zu sein. Das Hamburger Abendblatt zitierte 2010 einen Polizisten mit den Worten:
„Ich weiß, dass wir bei brisanten Großdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure, als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der Polizei, damit die dann mit der Räumung beginnen kann.“
Nüchtern und machiavellistisch betrachtet bleiben der Regierung aktuell kaum andere Optionen, als eine gewalttätige Eskalation aktiv herbeizuführen, will sie politische Zugeständnisse an die Demonstrierenden vermeiden.
Kein Einlenken an der Spitze zu erwarten
Wie so vieles in der Corona-Krise ist auch die Impfpflicht erkennbar Teil einer internationalen Agenda und keine Idee von Olaf Scholz, Lothar Wieler, Karl Lauterbach oder ihrer Ministerialbeamten. Daher läuft ein Protest an diese Adressaten ins Leere. Viele Spitzenfunktionäre scheinen auch kaum mehr eigenen Überzeugungen zu folgen – darauf weisen die häufigen Wortbrüche und abrupten 180-Grad-Wenden hin –, sondern passen sich flexibel jedem neuen Trend an, solange dieser als „alternativloser Sachzwang“ dargestellt werden kann. Die nationalen Akteure sind selbst Getriebene. Auf Ebene der Bundesregierung ist daher absehbar kein Einlenken zu erwarten, da dies ja eine autonome Handlungsfähigkeit der verantwortlichen Politiker voraussetzen würde.
Auf der Ebene der Bundesländer sieht es ähnlich aus. Die Ministerpräsidenten haben ihre formal vorhandene föderale Unabhängigkeit im Rahmen der außergesetzlichen Institution der „Ministerpräsidentenkonferenz“ (die kein Verfassungsorgan ist) während der Corona-Krise nahezu vollständig aufgegeben. Sie fassen dort zwar nur informelle Beschlüsse, die dann aber umgehend in allen Bundesländern in Verordnungen oder Gesetzestexte gegossen werden. Es herrscht Gleichklang. Ausreißer gibt es nur in Richtung noch härterer Maßnahmen, nicht in Richtung einer Mäßigung. Daher ist von den Landesregierungen ebenso kein Einlenken zu erwarten. Auch dort schwimmt man, meist reglos, mit dem Strom.
Lokale Bürgerkomitees und runde Tische
Was bleibt, sind die Städte und Kommunen. Hier ist die Demokratie naturgemäß am lebendigsten und der Abstand von Bürgermeister und Stadtvertretern zu den Bürgern am geringsten. Oft kennt man sich persönlich. Daher liegt eine Chance darin, dass die Proteste nun in so vielen Kommunen so stark sind. Hier herrscht noch am ehesten ein heimatverbundener Bürgersinn, weshalb hier auch mit größerer Erfolgsaussicht politisch angesetzt werden kann als auf der Ebene der Landesregierungen oder des Bundes.
Die praktische Hürde dazu liegt niedrig. Die Demonstranten könnten etwa kommunale Bürgerkomitees bilden, die in den einzelnen Städten an runden Tischen mit den Stadtvertretern vor Ort in den Dialog treten. Ziel solcher Gespräche wäre ein friedliches Miteinander aller Bürger der Stadt – eine Absicht, der sich niemand vor Ort auf Dauer wird verweigern können. Die Instanz eines Bürgerkomitees, das ebenso regelmäßig wie zum Demonstrieren auch zum runden Tisch mit den verantwortlichen Lokalpolitikern einlädt, könnte dem Protest Struktur geben und einen Weg zu anhaltender politischer Wirksamkeit weisen. Die Geschichte der Bürgerbewegung in der DDR im Herbst 1989 bietet ausführliches Anschauungsmaterial für die Organisation solcher runder Tische.
Der Schlüssel dabei sind die persönlichen Kontakte von Mensch zu Mensch in einer Stadt. Im Verlauf eines regelmäßig stattfindenden runden Tisches ist es bei fortgesetzten Demonstrationen durchaus denkbar, dass Stadtvertreter den Beschluss fassen, dass in ihrer Kommune niemand mehr diskriminiert und ausgegrenzt werden soll. 2G wäre damit in dieser Stadt passé.
Entscheidend wird sein, sich nicht weiter als vermeintliche „Störer“ abspalten und ausgrenzen zu lassen, sondern sich in konstruktiver Weise und auf Augenhöhe zum Teil des politischen Prozesses an der Basis, in den Kommunen zu machen. Die Städte und Gemeinden sind der Kern der Demokratie, von hier aus – und wahrscheinlich nur von hier – kann eine Wiederbelebung demokratischer Politik erfolgen. In Deutschland ist die kommunale Selbstverwaltung erfreulicherweise sogar gesetzlich geregelt. An dieser Stelle kann angesetzt und ein erster Impuls für eine demokratische Erneuerung angestoßen werden, die weit über „Corona“ und das „Impfen“ hinaus reicht. Zu hoffen wäre es. Die Chancen dafür stehen zur Zeit jedenfalls nicht schlecht.
Anmerkung
(1) Ich verlinke hier absichtlich eine ältere Version des Wikipedia-Artikels zur „Strategie der Spannung“ aus dem Jahr 2015, da der Artikel ab 2016 stark umgearbeitet und gekürzt wurde, wobei nach und nach wesentliche Informationen zum Verständnis und zum internationalen Einsatz dieser politischen Strategie aus dem Text verschwanden.
Weitere Beiträge zum Thema:
- „Das Narrativ wird zusammenbrechen“ (Camilla Hildebrandt, 30.11.2021)
- Ausgrenzung ist Aggression (Alexander Jacobi, 14.9.2021)
- Gedanken zum 1. August 2021 in Berlin (Paul Schreyer, 2.8.2021)
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