Ausgrenzung ist Aggression
ALEXANDER JACOBI, 14. September 2021, 2 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Wenn Menschen der Regierung misstrauen, ist es eine Auszeichnung eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, wenn sich auch diese kritischen Menschen in diesem Land wohl fühlen. Es ist ein gutes Anzeichen für einen selbstbewussten, freiheitlich-demokratischen Staat, wenn in Diskussionen offen und kritisch über Regierungsmaßnahmen gesprochen werden kann – ohne dass daraus negative Folgen für den kritisch Sprechenden resultieren und ohne dass sich die kritisch Sprechenden dabei unwohl fühlen. Allein das Gefühl des Unwohlseins ist dagegen leiser Indikator einer rechtsstaatlich problematischen Entwicklung.
„Politisch Andersdenkende […] dürfen mit ihren Auffassungen auch in Zukunft nicht an den Rand gedrängt werden, auch dann nicht, wenn ihre Ansichten der Mehrheit noch so abwegig erscheinen.“ (1)
Diese Bemerkung Helmut Schmidts kann nur Bestand haben, wenn sie um eine eminent wichtige Unterscheidung ergänzt wird. Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Meinungen. Wer Tatsachen als bloße Meinungen, als subjektive Ansichten, als Einzelmeinungen bezeichnet, verkennt diesen außergewöhnlich wichtigen Unterschied. Der Unterschied wird aus „Faulheit und Feigheit“ verkannt, wie Immanuel Kant in seiner Aufklärungsschrift schreibt, oder aus taktischem Kalkül mit dem Ziel der Diskreditierung, um eigene Interessen durchzusetzen.
Von diesen Menschen werden „unbequeme geschichtliche Tatbestände […] behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne“, so Hannah Arendt, die dies als „ein politisches Problem allererster Ordnung“ begreift. Die Tatsache der fehlenden Aussagekraft des PCR-Tests, die Tatsache der geringen Letalität von Covid-19, die Tatsache der wenig herausstechenden Gesamtsterblichkeit im Jahr 2020 und die Tatsache der fehlenden Wirksamkeit von Shutdowns werden in der politisch-massenmedialen Darstellung zu „Meinungen“ degradiert. Es findet eine Vermengung von Tatsachen und Meinungen statt.
Die Möglichkeit eines regierungskritisch geführten Gesprächs, auch über die Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen, im kleinen wie im gesamt-gesellschaftlichen Kreis ist dabei ein Anzeichen für einen toleranten Staat. Die Bedingung der Möglichkeit für einen kritisch geführten Diskurs ist die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstkritik und die daraus folgende Wertschätzung gegenüber denjenigen, die andere Tatsachen diskutieren, da wir diese anderen Tatsachen für die Selbstkritik und damit für die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände benötigen. (2) Sich gegenseitig wertschätzend zuzuhören, ist die Grundlage einer friedlichen Kommunikation. Eine wertschätzende Verständigung ist eine Kommunikation, die nicht auf Überzeugung dringt, also nicht vordergründig den Konsens, sondern den friedlichen Diskurs zum Ziel hat. Und friedliche Kommunikation ist die Grundlage einer friedlichen Gesellschaft.
Das Motiv des Sprechers entscheidet
In allen Medien und Medienarten fallen heute wie früher harte Worte, auch vonseiten der Politik. Dass Demonstranten staatlich genehmigter Demonstrationen von führenden Politikerinnen als „Covidioten“ (Saskia Esken) oder von Journalisten in der ARD zur Hauptsendezeit vom Chefredakteur als „Wirrköpfe“ und „Spinner“ (Rainald Becker) bezeichnet werden, wird auch in den Hauptmedien kritisch diskutiert, (3) da dies nicht recht zu einer demokratischen Grundordnung zu passen scheint.
Formulierungen wie „Die Todeszahlen sind aktuell so hoch, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen“ (Markus Söder) blenden die Realität und das Leiden der 2.500 jeden Tag in Deutschland aus anderen Gründen sterbenden Menschen völlig aus und führen zu einer verzerrten Interpretation und Wahrnehmung. (4) Entschuldigungen sind rar. Fehlertoleranz und Eigenkritik werden zu Mangelware. Die Untersuchungen der Universität Passau zum „Tunnelblick“ von ARD und ZDF in der Corona-Berichterstattung werden von den Sendern zurückgewiesen. Die politische und mediale Rede vom angstschürenden „Kriegszustand“ verschärft derlei Situationen noch. Die Radikalisierung der Sprache bedeutet fehlende Differenzierung und führt zu Angst und psychologisch-gesellschaftlicher Spaltung und schließlich zu einem Verlust von Empathie gegenüber bestimmten Menschengruppen. (5)
Bei alldem geht es nicht darum, dass es inkorrekt oder unethisch wäre, sich harsch und bissig, ja gar als beleidigend empfunden, auszudrücken und dann oft konstatiert wird „Ja, so kann man sich …“ oder „… so darf man sich nicht ausdrücken“ und die Sache damit erledigt ist. Nein, man darf sich genau so ausdrücken. Im Zentrum der Problematik steht vielmehr der fehlende Diskurs, der zu einer Tendenz der Intoleranz im Mantel der Toleranz führt. Toleranz fordert heute, nicht nur zu tolerieren, sondern zu akzeptieren, also alles gut zu finden, ließe sich überspitzt sagen. Gut wiederum ist häufig, was der (scheinbaren) Meinung der Mehrheit entspricht, die ihre „Meinung“ wesentlich aus den Massenmedien speist.
Wer antimassenmediale Kritik übt, ist intolerant und definitiv auf der „falschen Bahn“, ja etwas „spinnerig“ geworden in der letzten Zeit, leider. Bezeichnet einer im Gespräch eine Gruppe pauschal als „Dummköpfe“, lässt sich in einem friedlich und wertschätzend geführten Gespräch nachfragen, was genau mit diesem Begriff gemeint sei; vielleicht der Eindruck des Sprechenden, dass sich bestimmte Menschen aus „Faulheit und Feigheit“, wie Kant es beliebt, auszudrücken, nicht informieren und stattdessen unreflektiert „folgen“. Darüber lässt sich spezifisch sprechen.
Ebenso ließe sich fragen, was genau denn mit „Covidioten“ oder „Querdenkern“ gemeint sei, bevor damit pauschal einem selbst in aller Regel im Einzelnen unbekannte Menschen ausgegrenzt werden und sei es nur dadurch, dass „ich mich von denen distanziere“, wie es allzu oft, welcher eigenen Positionierung auch immer, vermeintlich hinterhergeworfen werden muss. Sind mit denen vielleicht diejenigen gemeint, die die Existenz eines Virus leugnen, die Demokratie abschaffen wollen und für Intoleranz und Gewalt stehen? – Dann ließe sich erörtern, dass es diese Menschen wohl kaum gibt und sie jedenfalls nicht repräsentativ für bestimmte Demonstranten stehen. Sind diejenigen damit gemeint, die auf Basis wissenschaftlicher Kritiken und Untersuchungen, die aber nicht, kaum oder seltener in den Massenmedien erscheinen, eine aktuelle Regierungspolitik infrage stellen, dann ist die viel spannendere, weitere Frage: Warum sollen diese Menschen mittels jener Begriffe offenbar diskreditiert werden, anstatt sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen?
Das Motiv des Sprechers, also desjenigen, der einen bissigen oder gar als radikal empfundenen Begriff verwendet, entscheidet darüber, ob ein Diskurs noch friedlich und wertschätzend geführt wird oder nicht. Nur, wenn das Motiv die Ausgrenzung ist, um gerade nicht auf Argumente eingehen zu müssen, dann ist dies der Abschied von Friedlichkeit und Aufklärung. Dann ist die demokratische Diskussionskultur in Gefahr.
Ausgrenzung führt zur Verdummung von Gruppen
Kritik bedeutet keine Ausgrenzung. Kritik ist oder sollte die Einladung an ein Gegenüber sein, gemeinsam etwas in der Welt und damit immer auch sich selbst zu verbessern. Ausgrenzung ist ein Mittel der Intoleranz, das zur Verdummung von Gruppen führen kann. Ausgrenzungsmechanismen sind ein roher Akt, der feinsinnig-friedliche Menschen abzuschrecken geeignet ist, insofern also erfolgreich zum Ziel führt, kurzfristig betrachtet. Diese Menschen ziehen sich aus politischen oder wissenschaftlichen Gruppen zurück, weil sie die rohe Art der Ausgrenzung scheuen. Es bleiben, überzogen formuliert, die rohen und dummen Menschen zurück, die aber oft die Entscheidungsgewalt in den Händen halten.
Eine wesentliche Komponente, die Kritik verhindert, sind gesellschaftliche Umdeutungen von ursprünglich die Sache beschreibende in emotional stark beladene Begriffe oder die Anwendung bereits althergebrachter Negativ-Begriffe auf neue Sachverhalte, eine radikalisierte Sprache. Auch historisch bedingt sind dies Termini wie „Rechtsextremist/-populist“ (NS-Zeit), Linksextremist (Stalinismus, RAF-Zeit) oder Antisemit. Hinzu kommt der „Verschwörungstheoretiker“ allgemein oder konkret der „Corona-Leugner“ oder gar „Corona-Extremist“, oft ohne Ausdifferenzierung zum Detail einer Thematik, als bloße Abwehrstrategie gegen kritische Fragen und Informationen; ähnlich wie es drastischer der Begriff „Vaterlandsverräter“ für Kriegskritiker des Ersten Weltkriegs war, wie es etwa Bertrand Russel erging, der infolge seiner Kritik seine Professur verlor und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Werden Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten, zu „Impfverweigerern“ oder schlimmer gar zu „Gesellschaftsfeinden“?
Verallgemeinernde Begriffe schaffen Ordnung. Jegliche, auch nur begriffliche Ordnung suggeriert strukturierte Sicherheit. Es ließe sich auch sagen, der Begriff verhindert Nachfragen und Nachdenken, bedingt dafür aber, gleich einem Grenzzaun, das gesellschaftliche Folgen in einem abgesteckten Rahmen. Jeder auf Menschen bezogene Gruppierungsbegriff setzt einen neuen Zaunspflock, zwischen all denen im ungünstigsten Fall im Verlauf der Zeit auf massenmediale Wirkweise ein Stacheldraht gezogen wird.
Es wird geteilt
Teile und herrsche heißt es seit Menschengedenken, als Formel unter anderem der römischen Außenpolitik oder Niccolò Machiavelli zugeschrieben. Jeder Begriff, der Gesellschaft, also Menschen bewertet, beinhaltet notwendig das Moment der Ausgrenzung. Der Begriff setzt Grenzen. Das ist analytisch gesehen sein Sinn. Menschlich jedoch ist für eine friedliche Gesellschaft zu beachten, was Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften im ersten Teil des ersten Buchs, siebenter Abschnitt pointiert auszudrücken weiß:
„Es ist ein Grundzug der Kultur, dass der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste misstraut […] ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; […] darum ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht.“
Wann immer also ein auf Menschen bezogener Gruppierungsbegriff verwendet wird, sollten die inneren, auf Frieden bedachten Alarmglocken läuten. Egal, ob rechts, links, Mitte, oben oder unten, religiös oder nicht – es sollte nachgefragt werden, was genau, wer genau, in welcher Situation genau damit gemeint ist. So wenig Zeit ist nie, dass diesen Fragen nicht nachgegangen werden könnte. Denn diese Fragen führen zum einzelnen Menschen. Auf den einzelnen Menschen zielt letztlich jede Moral und jede Politik. Soll diesen Fragen nicht nachgegangen werden, weil dies „jetzt zu weit führen würde“ oder „doch allgemein bekannt“ sei, dann ist der eingeschlagene Weg offenbar ein anderer als der, welcher das friedliche Miteinander zum Ziel hat; oder anders ausgedrückt sollen dann auf diesem Weg womöglich einige Menschengruppen zurückgelassen werden.
Mit kantscher Bissigkeit lässt sich für derlei Ausgrenzung die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 nennen, die als Ziele aufführt: die „Gerechtigkeit zu verwirklichen“ und das „Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren“. Dies galt zu dieser Zeit allerdings nicht für die Indianer, nicht für die Sklaven und nur sehr eingeschränkt für Frauen. Es galt für die weißen, männlichen Farmer, die das Land mit Gewalt erobert hatten. Freiheit und ein gutes Leben: ja; aber nicht für bestimmte Menschen, deren gesellschaftlicher Ausschluss aus den unterschiedlichsten Gründen immer wieder Gegenstand der menschlichen Geschichte war und ist. Dies sollte man jedoch nicht tun. Man sollte Menschen nicht ausschließen. Man sollte nicht die ausgeschlossenen Menschen argwöhnisch beäugen, sondern die Gründe, die zu ihrer Ausgrenzung führen, wenn denn diese Ausgegrenzten friedlich-fördernder Bestandteil der Gesellschaft sind, waren oder anzustreben bereit zu sein scheinen.
Wer diffamiert, ist nicht an Fakten interessiert
Wer die vorherrschende Meinung hinterfragt, macht sich verdächtig, überspitzt formuliert. Diese Menschen aber, die Hinterfragenden, sind wichtig für eine offene, eine freie Gesellschaft. Wer eine unbestimmte Menge von Menschen mit einem negativ konnotierten Begriff überzieht oder abwertend über sie spricht, ist nicht an Fakten interessiert, selbst wenn noch so eindringlich das Gegenteil behauptet wird. Dies gilt gleichermaßen bei der Rede über einen einzelnen Menschen, über den pauschal gesprochen wird, anstatt konkret auf dessen Argumente einzugehen.
Was auch immer mit den weit-umfassenden Begriffen der Diffamierung im konkreten Fall gemeint ist, es verliert sich in eben dieser Weite. Wird mit diesen Begriffen argumentiert, ist die Ebene der sachlichen Argumente sofort verlassen und das Feld der Emotionen betreten. Diese bieten für ein einzelnes politisches oder gesellschaftliches Projekt, das „überzeugen“ will, ein schneller wirkendes Instrument als die mühselig-langsame Arbeit des Austauschs von Argumenten, der Aufklärung. Nach Kant ist allerdings nur diese der staatlichen Stabilität zuträglich, jenes hingegen nicht.
Eine verbreitete, üble Technik der diskreditierenden Ablenkung vom eigentlichen Inhalt einer Kritik ist die Kombination aus Selektion und Pauschalisierung verbunden mit Konsens-Wertbegriffen: „Bist du etwa nicht für den Frieden?“, „… doch ja …“, „Nun, dann kannst du kaum diese Demonstrationen unterstützen, auf denen Gewaltbereite mitlaufen.“ Oder: „Ich bin ja tolerant und auch für Kritik.“, aber: „Wenn man verständnisvoll ist, stärkt man die Verschwörungstheorie. Man muss also auch mal sagen: Das ist einfach Blödsinn, was ihr da sagt! Daran zerbrechen gerade unglaublich viele Freundschaften. Aber plötzlich mit Reichsflaggen herumzumarschieren, das kann ich in meinem Freundeskreis einfach nicht akzeptieren.“ (6)
Oft wird die Diskreditierung unbewusst aufgrund eigener Uninformiertheit und fehlender Reflektion „passieren“. Es muss also nicht taktisch gezielt erfolgen. Wer aber wie alle Spitzenpolitiker diese Techniken kennt, wie Alexander der Große, auch dank der für ihn von Aristoteles verfassten Rhetorik, der kann dies gezielt einsetzen, wenn nach den Grundsätzen von Machiavelli die Staatsräson die Politik über die Moral erhebt, um der vermeintlichen Handlungsfähigkeit des Staates willen. (7)
Die Oberhand behalten
Wer also allein das Wort „Kritik“ in unmittelbar argumentative Nähe mit konsensual negativen Wertbegriffen bringt, der diskreditiert durch diesen Trick den Kritiker. Auf sachliche Argumente kommt es dann nicht mehr an. Es geht dann überhaupt nicht mehr um die Sache, sondern darum, die Oberhand und im größeren Kontext die Macht zu behalten (oder im kleinen Kontext einfach auch mal was Schlaues, scheinbar Allgemeingültiges zu sagen).
Besonders problematisch können, dem Ansatz der einzelnen Menschen nach noch so gut gemeinte, Projekte von Stiftungen sein, die erheblich und überwiegend staatlich gefördert werden und dadurch einen hohen Verbreitungsgrad erreichen, dabei aber auf sehr vereinfachende Art die Themen „Verschwörungsmythen und Antisemitismus um das Corona-Virus“ zusammenbringen wie die Amadeu Antonio Stiftung. (8) Dadurch entsteht in der massenmedialen Wahrnehmung beinahe zwangsläufig die Gefahr (will man diese Wirkung nicht als Motiv unterstellen), dass derjenige, der Maßnahmen der Regierung hinterfragt oder gar kritisiert, in dieses anti-soziale „Fadenkreuz“ gerät, ohne dass noch nach spezifischen Motiven und Argumenten der Kritiker gefragt wird. Machtpolitisch laufen derlei selbstkreierte Demokratieschwachstellen von vornherein auf einen Interessenkonflikt hinaus, da es aus menschlich verständlichen Gründen nicht ausbleibt, dieserart Steuerungsinstrumente in die eigenen politischen oder wirtschaftlichen Strategien zu implementieren.
Deutlich weniger massenmediale Verbreitung finden hingegen Studien, die in ganz andere Richtungen weisen. Diese bleiben mangels staatlicher oder wirtschaftlicher Förderung für die Masse der Menschen nahezu unsichtbar; wie eine sozialpsychologische Studie der Psychologen Michael Wood und Karen Douglas, veröffentlicht an der University of Kent in England:
„In Übereinstimmung mit unseren Hypothesen fanden wir heraus, dass verschwörungstheoretische Kommentatoren eher gegen die gegnerische Interpretation und weniger für ihre eigene Interpretation argumentierten, während das Gegenteil auf konventionelle Kommentatoren zutraf. Allerdings war es bei verschwörungstheoretischen Kommentaren wahrscheinlicher, dass sie explizit eine Erklärung vorbrachten [also sachliche Argumente] als bei konventionellen Kommentaren. […] Die Daten deuten auch darauf hin, dass Verschwörungstheoretiker größtenteils nicht bereit waren, das Etikett ‚Verschwörungstheorie‘ auf ihre eigenen Überzeugungen anzuwenden, und sich dagegen wehrten, wenn andere dies taten […] Schließlich neigten die Argumente der Konventionalisten dazu, einen eher feindseligen Ton anzuschlagen.“ (9)
Ähnliches ergibt eine Studie des weltweit renommierten MIT (Massachusetts Institute of Technologie) in Cambridge. Dort widmeten sich die Forscher der Frage, wie „covidiotisch“ die Covid-Impf-Skeptiker tatsächlich sind – und kommen, zumindest aus Sicht des Mainstream-Menschen, zu erstaunlichen Ergebnissen. Die MIT-Forscher analysierten für ihre Studie rund eine halbe Millionen Äußerungen (Posts) auf Social-Media-Plattformen. Die Studie untersucht die Herangehensweise verschiedener „Lager“ in der Impfdebatte. Covid-Impfskeptiker sind danach – entgegen der landläufig-häufigen Meinung – hoch informiert, gesellschaftlich hochkompetent und wissenschaftlich gebildet sowie fernab jeder negativ konnotiert-diffusen Verschwörungstheorie. (10)
Ausgrenzung durch Diskursverengung und Tabuisierung
Es wäre wunderbar einfach, könnte man im Leben oder wenigstens bei bestimmten sogenannten Expertenthemen auf einige, wenige Quellen verweisen, auf die Verlass ist, um die Vielzahl anderer auszublenden und so Zeit und Mühe zu sparen. Dann ließe sich in der Corona-Situation etwa Folgendes sagen:
„Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen, die wir immer auch in viele Sprachen übersetzen lassen.“ (11)
Dies müsste allerdings implizieren, dass die „offiziellen Mitteilungen“ generell entweder richtig oder, falls einmal falsch oder ungenau, dann in kritischer Korrektur und Diskussion mit einer breiten Fach-Öffentlichkeit verbunden sind. Die beispielhaft [im Buch] analysierten Sachlagen zum PCR-Test oder der Letalitätsrate zeigen ein anderes Bild. Es muss keineswegs Aufgabe des Staates sein, einen umfassenden Aufklärungs-Service zu bieten. Es genügt den Anforderungen eines freiheitlich-demokratischen Staates, auf eine Aufklärungs-Notwendigkeit und die Möglichkeiten dazu hinzuweisen. Werden bestimmte Quellen, Meinungen, Experten oder Informationen aus einer Diskussion prinzipiell ausgeblendet und ausgegrenzt, stellt sich die Frage, wie friedlich diese Diskussion noch ist, die sich nicht mehr mit – spezifischen – Argumenten auseinandersetzt. Karl Popper betont, „rationale Kritik muss immer spezifisch sein“, darf sich also nicht auf die Person richten, sondern muss die Wahrheit als einziges Ziel haben. (12)
Der nachdenkende Mensch, der an friedlicher Aufklärung interessiert ist, wird genau das – nur den „offiziellen Mitteilungen“ zu glauben – nicht tun. Er wird grundsätzlich nicht nur bestimmten Mitteilungen vertrauen. Er wird die Last und Verantwortung für die Wahrheitssuche nicht nur bestimmten Quellen überantworten. Er wird sich konträr informieren, sich bewusst mit Kritik auseinandersetzen und sich bewusst über gegensätzliche Ergebnisse und Meinungen informieren und sich nicht beeinflussen lassen von Angst oder Meinungsdruck.
Geraten Journalisten oder Wissenschaftler „in Kontakt“ mit Menschen oder Publikationsportalen, die punktuell oder allgemein zum Beispiel als „verschwörungslastig“ oder beliebig anderes gelten, geht diese Wertung auf sie in der Wahrnehmung der Masse über (Phänomen der „Kontaktschuld“). Ein Fehlschluss zulasten der geistigen Freiheit von nicht zu unterschätzendem Ausmaß. Gleiches wie für diese Ausgrenzung von Personen, eine Diskursverengung oder die öffentlich forcierte Aufforderung, Corona-Verstöße zu melden, (13) gilt für die Tabuisierung von Themen, in deren „Nähe“ sich ein Mensch diskursiv nicht mehr begeben kann, ohne durch eine, die weitere Diskussion unterbindende, Kategorisierung (rechtspopulistisch, linksextremistisch, antisemitisch, verschwörungstheoretisch und so weiter) verurteilt zu werden. Dieserart Kommunikationskultur wirkt, von den psychologischen Auswirkungen einmal abgesehen, (14) bis in die Grundsätze des Regierens hinein, welches sich dadurch der Gefahr aussetzt, sich nicht mehr den Ursachen, sondern nur noch den Folgen zu widmen, wenn über die Gründe von Problemen nicht mehr offen und umfassend gesprochen wird.
Eine der Folgen von solchem Journalismus, der gierig nach diskursverengenden Ausgrenzungskriterien sucht, da sich dies anprangernd gut publiziert und „Klickzahlen“ generiert, ist die gesteigerte Gefahr, inhaltlich unzutreffenden Diffamierungen aufzusitzen. Diese werden schneller massenhaft verbreitet, als sie von den Betroffenen richtiggestellt werden können. Und die Richtigstellung geht als Einzelmeldung in den Massen der falschen Diffamierungen oder auch nur überzogenen Darstellungen unter. Ein einzelner Fehler diskreditiert den ganzen Menschen. Diskussion unmöglich. Ein „falscher“ Kontakt, eine „falsche“ Meinung – und aus. Einzig und allein zählt in diesem Strom das Mitschwimmen im aktuellen Meinungsgepräge, dessen eigentlicher Inhalt irrelevant wird. Diskursverengung führt journalistisch im Kontext der übergewichtigen Klickzahlenmaxime zu dem „Vorteil“, sich nicht mehr mit bestimmten Inhalten auseinandersetzen zu müssen, da ein Hinterfragen bei speziellen Schlagwörtern tabuisiert ist. Wird ein Mensch von den Massenmedien als verschwörungstheoretisch oder Ähnliches gebrandmarkt, entzieht sich die kritische Aufarbeitung vor dem Hintergrund des Tabus der journalistischen Arbeit. Wahrheit und Menschlichkeit bleiben bei diesem Ethos auf der Strecke.
Der Hass entspringt dem verdrängten Zweifel
Woher kommt die Aggression in der Sprache, wenn sich diejenigen, die kritisiert werden, ihrer Sache sicher sind und erhaben über jeder Kritik stehen könnten? Nun: Der Hass gegen andere, gegen Andersdenkende entspringt dem verdrängten Zweifel. Die diffamierende Kommunikation ist der erste Schritt eines Weges, der aus diesem wenig friedlichen Grund eingeschlagen wird.
Der kritische Denker Sokrates, der in den Schriften Platons lebt, erklomm wie die übrigen um ihn geistige Höhen, durchschritt aber auch moralische Täler, die in diesen Schriften nicht oder kaum kritisch reflektiert sind, von Sklaven und rechtlosen Frauen bis zur institutionalisierten Knabenliebe; hinzu kommen die totalitären Staatsvisionen in Platons Werken Der Staat und Die Gesetze (bspw. 909a-d). Darf Platon noch zitiert und Sokrates diskutiert werden oder droht infolgedessen demjenigen, der diese Schriften zitiert, die „Kontaktschuldfalle“?
Was ist mit den umstrittenen Vorwürfen gegenüber Kant ob einiger, mindestens aus heutiger Sicht und auf den ersten Blick, rassistischer Äußerungen? Sollte Kant nicht mehr zitiert und ausgegrenzt werden? Popper, der zwar wie Arendt Platos Staatvisionen der Klassen und Rassen kritisiert, ihn als Denker, wie es auch Arendt tat, gleichwohl außerordentlich schätzte, widmet sein Platon-kritisches Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde dem „Andenken des Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit Immanuel Kant“. Muss Popper nun gemieden und ausgegrenzt werden?
Und in der Musik: Sollte Richard Wagner wegen seiner antisemitischen Schrift Das Judenthum in der Musik nicht mehr gehört werden? In der Malerei: Sollten die Bilder des überzeugten Nationalsozialisten Emil Nolde nicht mehr angesehen werden? Kaum etwas ist nur gut oder nur schlecht. Würde man alles Gute verwerfen, weil es auch etwas Schlechtes innehat, bliebe kaum etwas übrig. Sicherlich gibt es Grenzen des Widerlichen. Aber die Aufklärung, das Denken, die Weiterentwicklung der Menschen wird stagnieren, würde die Ausgrenzung der gängige Weg. Wichtig ist, sich mit dem Schlechten, das Anteil am Guten hat, kritisch und offen auseinanderzusetzen. Die Ausgrenzung jedoch führt in die falsche Richtung.
Das Fenster zur Welt schließt sich
Das Fenster zur Welt schließt sich für diejenigen, die sich ohne eigene kritische Würdigung solcher Ausgrenzung von Menschen oder Themen anschließen, weiter. Die Grundlage für eine gesellschaftlich-fortschrittliche Entwicklung, die auf offener Kommunikation basiert, wird brüchig. Der notorische Ausschluss von Menschen oder Themen aus einem gesellschaftlichen Diskurs ist kein friedvoller Akt. Die Aufklärung als Grundlage für eine Fortentwicklung der menschlichen Gesellschaft ist friedvoll. Ist diese Entwicklung dies durch Ausgrenzung nicht, hört sie auf, Aufklärung zu sein.
In seiner Verteidigungsrede thematisiert Sokrates den staatstragenden Wert einer aufklärerischen Lebensweise:
„Und ich meines Teils glaube, dass noch nie ein größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst [kritische Diskurse]. [...] wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen anderen solchen finden [der euch anspornt nachzudenken]. Wenn ihr also mir folgen wollt, werdet ihr meiner schonen. Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich um euch stoßen, wie die Schlummernden, wenn man sie aufweckt, und mich, dem Anytos folgend, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt aus Erbarmen.“ (15)
Christoph Alexander Jacobi: „Kant & Corona: Wie viel Aufklärung leisten Medien und Politik? Wie wenig Aufklärung verträgt die Demokratie?“, Verlagshaus Schlosser, 292 Seiten, 14 Euro
Über den Autor: C. Alexander Jacobi, Dr. iur., Hon.-Prof., ist Rechtsanwalt und lehrt an der Universität Leipzig in den Bereichen Rechtsphilosophie und Unternehmensrestrukturierung. Er ist Autor von mehr als 100 Fachveröffentlichungen sowie Referent von Fachvorträgen im Bereich Wirtschaftsrecht.
Anmerkungen
(1) H. Schmidt, „Maximen politischen Handelns“, in: ders.: Vom deutschen Stolz, Siedler Verlag, 1986, S. 26.
(2) Arendt, „Wahrheit und Politik“, in: dies., Wahrheit und Lüge in der Politik, Piper Verlag, 5. Aufl., 2019, S. 55; Vgl. Popper, „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, Piper Verlag, 20. Aufl. 2019, S. 228 f.
(3) Sendung M. Lanz/ZDF v. 03.09.2020 Min. 15:45-30:00 zur Sprachkultur in der Politik und anderen kritischen Aspekten der Corona-Politik, wie dem Ausbleiben von Masseninfektionen nach Massendemonstrationen, dem zelebrierten Drohszenario des „blauen Wunders“ (P. Tschentscher) oder der laut Lanz nicht ersichtlichen „zweiten Welle“ und dem Virus, das „kein Killervirus“ (P. Tschentscher) sei.
(4) Vgl. Lütge, Mitglied des Bayerischen Ethikrats, kritisiert u. a. Söders Flugzeugvergleiche, v. 09.12.2020, in bild.de.
(5) Vgl. R. Haller, Das Wunder der Wertschätzung, GU Verlag, 8. Auf., 2019, S. 33 ff.
(6) So die zuletzt zitierten Sätze (ab „Wenn man verständnisvoll ist“) von dem Komponisten Moritz Eggert (das übrige ist beispielhaft von mir), der sich, wie zu oft üblich, zu den typisch unkritischen, nie die Antworten hinterfragenden, Stichworten seines Interviewpartners äußert: concerti Januar/Februar 2021,S. 7/Teil Mitteldeutschland.
(7) Mit „Konsens-Wertbegriff“ meine ich negativ konnotierte Begriffe wie „Krieg“ oder positiv konnotierte Begriffe, die bei ihrer Verneinung denselben rhetorischen Effekt erzielen, z. B. „kein Frieden“; wobei „Krieg“ wiederum nur die Gewalt der anderen genannt wird, wohingegen die westliche Gewalt meist ein „humanitärer Friedenseinsatz“ ist.
(9) Wood/Douglas, in: Frontiers in Psychology v. 08.07.2013, kursive Hervorh. und Einfügung in den eckigen Klammern v. mir.
(10) Ackermann, in: MIT News v. 04.03.2021 zur Studie von Lee et al..
(11) Merkel, Ansprache v. 18.03.2020, Min. 11:12 bis 11:23.
(12) Popper, „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, Piper Verlag, 20. Auf., 2019, S. 229.
(13) Ein Portal der Stadt Essen dafür; ähnlich: „Wachsam und kritisch sein. Wir gehen der Sache [Verstößen] nach“, rät die Sprecherin der Ärztekammer Nordrhein den Patienten, wenn es darum geht, ob in Arztpraxen alle geltenden Maßnahmen (Masken usw.) eingehalten werden.
(14) Nicht nur Nietzsche, Werke, Verlag Zweitausendeins, 1999, „Götzen-Dämmerung, Die vier großen Irrtümer“, Nr. 5, S. 349, wusste: „Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben[.]“; ergo: Tabuisierung führt zu Angst.
(15) Platon, Apologie, 30a, 31a, in der Übers. v. Schleiermacher.
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