Ausgangssperre: Eine Politik der psychischen Gewalt
MARCUS KLÖCKNER, 7. Dezember 2020, 1 KommentarHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Leben Sie zufällig in Mannheim? Oder in Ludwigshafen? Dann kann es sein, dass Sie am Abend ein Problem haben. Sie werden Ihre Wohnung nicht mehr verlassen dürfen. Eine Ausgangssperre wurde verhängt. Ausgangssperre? So etwas kennt man aus dem Krieg. In Deutschland gab es Ausgangssperren in den Jahren 1945 und 1946 und dann erst wieder während des ersten „Corona-Lockdowns“. Nun ist es wieder soweit. Bürger dürfen nur noch aus so genannten „triftigen Gründen“ auf die Straße gehen – bereits jetzt drohen bei Verstößen im Wiederholungsfall Freiheitsstrafen.
„Triftige Gründe“, diese Formulierung kennen wir bereits aus dem ersten Lockdown. Es ist eine Formulierung, die gefährlich ist. In ihr schwingt die ganze Macht des Staates mit, der in der Lage ist, Begriffe aufzuladen und beispielsweise zu definieren, was „triftig“ ist und was nicht. Ein scheinbar harmloses Wort, dessen Bedeutung dehnbar ist wie ein Kaugummi, wird, nachdem Politiker es mit Macht aufgeladen haben, über Sie bestimmen, ob Sie ihr Haus verlassen dürfen oder nicht. Wer zur Arbeit gehen, oder einen Arzt aufsuchen möchte, darf das. Wer am Abend feststellt, dass das Mineralwasser zur Neige geht oder etwas zu Essen im Kühlschrank fehlt, darf nicht raus. Wer Lust dazu hat, am Abend bei sternenklarem Himmel in die Natur zu fahren, um ein paar Nachtaufnahmen mit seiner Fotokamera zu machen, darf auch nicht vor die Tür.
Der Grund sind „steigende“ Infektionszahlen in den entsprechenden Städten. Die Logik von politischer Seite ist: Wer am Abend mit dem Auto zur Tankstelle fährt, um sich etwas zu trinken oder zu essen zu kaufen, trägt zum Infektionsrisiko bei. Wer nachts einen Spaziergang machen möchte, um sein Immunsystem zu stärken, ist offenbar ein potenzieller „Superspreader“ – sonst würde die Politik nicht so brachial eine Vielzahl von Grundrechten einschränken, als da wären:
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Artikel 11: Freizügigkeit. Jeder Deutsche hat – eigentlich - das verfassungsrechtlich verbürgte Recht, sich frei im Bundesgebiet zu bewegen, und zwar ohne dem Staat Rechenschaft ablegen zu müssen.
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Artikel 6: Ehe und Familie. Das Grundrecht schützt das Familienleben in besonderem Maße und dazu gehört insbesondere, dass Familienmitglieder, auch außerhalb der Kernfamilie, sich einander begegnen können und dürfen.
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Artikel 8 Abs. 1: Versammlungsfreiheit. Jeder Deutsche hat das verfassungsrechtlich verbürgte Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Es handelt sich um eines der wichtigsten Grundrechte, um die öffentliche demokratische Meinungsbildung zu gewährleisten. Während der Ausgangssperre ist die Versammlungsfreiheit suspendiert.
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Artikel 2 Abs. 1 und 2: In die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die allgemeine Handlungsfreiheit und insbesondere die Freiheit der Person wird eingegriffen. Und es gibt noch einen Eingriff in Artikel 2 Abs. 2 GG: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das auch die psychische Gesundheit eines Menschen umfasst. Wie wird sich wohl der psychisch Kranke, unter einer Depression leitende Bürger fühlen, wenn er nicht mal einen Abendspaziergang unternehmen darf, wenn ihm danach ist?
Hinzu kommt, juristisch formuliert: Die Ausgangssperren verstoßen gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitende Gebot der „hinreichenden Bestimmtheit“ und „Klarheit der Norm“. Anders gesagt: Was soll ein „triftiger Grund“ sein? Wer in Grundrechte eingreift hat sich klar auszudrücken.
Festzuhalten gilt: Diese Ausgangssperre macht faktisch Millionen von Bürgern zu Gefangenen in ihrer eigenen Wohnung. Politische Entscheidungsträger rasieren Grundrechte nur so ab. Eine Politik der psychischen Gewalt kommt zum Vorschein, die für eine Demokratie unerträglich ist.
Die Frage muss also lauten: Was passiert hier gerade? Wie kann es sein, dass Städte Bürgern verbieten, an einem Winterabend vor die Tür zu gehen? Es bedarf hier keiner Diskussion, denn logisch ist dieser Schritt nicht mehr nachzuvollziehen. Politiker, die Bürgern verbieten, nachts mit einem Auto alleine durch die Straßen zu fahren, also ein Akt, bei dem das Infektionsrisiko gleich null geht, haben offensichtlich von den „Verhältnismäßigkeit“ und „milden Mitteln“ im Zusammenhang mit den Grundrechten noch nichts gehört.
Doch was heißt eigentlich, wenn Maßnahmen „verhältnismäßig“ zu sein haben und Regierungen auf das jeweils „mildeste Mittel“ zugreifen sollten? Es bedeutet vor allem, dass die Maßnahme geeignet sein muss, um den angestrebten Zweck, hier also den Infektionsschutz, zu erreichen. Verhältnismäßigkeit bedeutet auch, dass es kein milderes Mittel geben darf, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Gibt es ein milderes Mittel, dann verstößt die Maßnahme – hier also die Ausgangssperre – gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip und ist damit rechtswidrig. Und ein milderes Mittel drängt sich auf, nämlich etwas die Beschränkung bestimmter Zusammenkünfte – und eben nicht, wie aus der Bazooka geschossen, ein flächendeckendes, jeden Bürger betreffendes Verbot.
Verhältnismäßigkeit bedeutet aber noch mehr, nämlich dass eine Abwägung mit den Grundrechten erfolgt, in die eingegriffen wird. Die Frage muss gestellt werden: Ist der Eingriff angemessen? Anders gesagt: Die Ausgangssperre beruht auf einem vermuteten Gesundheitsschutz. Ihr Ziel ist es, Infektionen zu verhindern. Ob dies der Fall ist, ist nicht bewiesen. Eindeutig aber ist: Die Freiheit, die den Bürgern in den Stunden der Ausgangssperre genommen wird, kann ihnen nicht mehr rückwirkend „gut geschrieben“ werden. Der vermuteten Schutzwirkung durch die Ausgangssperre steht also ein faktisch nachweisbarer irreversibler „Schaden“ gegenüber, den Bürger erleiden.
Den Entscheidern in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen und Bayern scheinen die Aussagen des Saarländische Verfassungsgerichtshof zu den Corona-Ausgangssperren im April entgangen zu sein (28.04.2020, Az. Lv 7/20). Juristisch sperrig heißt es dort:
„Der Verlust des Grundrechts der Freiheit der Person ist Tag für Tag der Freiheitsbeschränkung ein endgültiger Nachteil. Er kann für die verstreichende Zeit nicht wieder ausgeglichen werden.“
Diese Abwägung, von der hier die Rede ist, erfordert im Übrigen auch zu bewerten, wie wahrscheinlich überhaupt ein „Schadenseintritt“ ist. Folglich: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Schaden eintritt, wenn man nachts allein durch den Stadtpark läuft? Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Richtig, eine Ansteckung mit Covid-19 bei einem nächtlichen Spaziergang unter freiem Himmel darf man getrost ausschließen. Hier sind Markus Söder und Co gefragt: Sie müssen belastbare Daten liefern.
Bereits zu Beginn eines Jurastudiums lernen zukünftige Juristen sich mit dieser Abwägungsfrage auseinanderzusetzen. Die politisch Handelnden, die die Ausgangssperren erlassen, gebrauchen nicht einmal dieses grundlegende handwerkliche Wissen.
Konsequenterweise hat das Gericht dann auch entschieden, dass die saarländischen Ausgangssperren rechtswidrig waren, weil „der damit erzielte Gewinn an Gesundheitsschutz nicht nachvollziehbar dargelegt“ wurde (S. 15). Die in der Verordnung festgelegte Glaubhaftmachung „triftiger Gründe“ hat das Gericht außer Vollzug gesetzt. Mit Blick auf den Grundrechtsschutz war das Verweilen im öffentlichen Raum wieder möglich. Und, sehr wichtig: Der Gerichtshof hielt auch den Anstieg der Infektionen für wenig bedeutsam. Er stellte klar: „Steigt die Zahl der Infizierten, kann das auf vielerlei Gründen beruhen: Die Zahl der Infizierten und Kranken wird von den Gesundheitsbehörden derzeit in kein Verhältnis zur Zahl der Getesteten und Nichtgetesteten gesetzt.“ Die Zahl der Verstorbenen lasse nicht erkennen, ob für den Tod das Virus ursächlich verantwortlich war, sprich: ob die Verstorbenen an oder „nur“ mit dem Virus verstorben sind.
Roger Kehle, Präsident des baden-württembergischen Gemeindetages, hat gegenüber der Nachrichtenagentur dpa einen Versuch unternommen, die Entscheidung zu rechtfertigen. Die von ihm zitierte Aussage ist erschreckend. Auf die Frage, ob die Ausgangsbeschränkung in der Nacht sinnvoll ist, da wenig Menschen zu dieser Zeit unterwegs seien, sagt Kehle: „Wenn sich alle an die Maßnahmen halten würden, müssten die Zahlen schon zurückgegangen sein." Und die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) meint, man „vermute“ bei „Wohnzimmer-Treffen“ die Ansteckungsherde.
Wenn das die Basis und das Denken ist, auf der Landesregierungen und Städte massive Grundrechtseingriffe vollziehen, dann wird es höchste Zeit, dass Gerichte dieser Politik der Grundrechtsgewalt ein Ende bereiten. Während des ersten Lockdowns entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass „im Grundsatz jeder sachliche, nicht von vornherein unzulässige Grund geeignet ist, das Verlassen der Wohnung zu rechtfertigen,“ (Az. 20 NE 20.849). Das Gericht erklärte, dass praktisch jeder Grund ausreichen müsse, da ansonsten völlig unklar sei, was unter einem „triftigen Grund“ zu verstehen wäre. Mit anderen Worten: Die Bayrische Landesregierung hielt es nicht einmal für nötig sich so klar auszudrücken, dass der Bürger erkennen konnte, was verboten und was erlaubt war. Die Ausgangssperre wurde also noch nicht einmal dem nach dem Grundgesetz erforderlichen „Bestimmtheitsgebot“ gerecht.
Bezeichnenderweise halten auch die Verfasser der jetzigen Ausgangssperren es nicht für nötig, sich klar auszudrücken und diesem grundlegendem Erfordernis des Rechtsstaats nachzukommen. Und das, obwohl sie nach dem Grundgesetz dazu verpflichtet sind.
Dass die Infektionszahlen deshalb ansteigen, weil Menschen nachts unterwegs sind, ist nicht nur unbewiesen, es ist auch eine These, die mit gewagt noch vorsichtig umschrieben ist. Die Zeit zwischen 21 Uhr abends und 5 Uhr früh betrachten die politischen Entscheider in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz als offensichtlich größeren „Infektionstreiber“ als die 16 Stunden dazwischen. Dabei dürften die meisten Bürger in der Zeit der Ausgangssperre ohnehin damit beschäftigt sein, einer Tätigkeit nachzugehen, die bisher noch nicht im Verruf steht, Infektionen hervorzurufen: schlafen!
Doch davon abgesehen: Zentrale Gesichtspunkte wie etwa die, dass die steigenden Infektionszahlen auch in ein Verhältnis zur Anzahl der Tests gesetzt werden müssen, dass auch zu berücksichtigen ist, wie viele so genannte „Krankheitsbeginne“ es gibt, also wie viele von den positiv Getesteten auch tatsächlich überhaupt erkranken, stehen nicht zur Debatte. Und das, wie angeführt, obwohl der Saarländische Verfassungsgerichtshof darauf bereits vor Monaten hingewiesen hat!
Genauso bleibt die zentrale Frage nach der Qualität der PCR-Tests beziehungsweise der Qualität der in den Laboren durchgeführten Testungen, unangetastet. Nicht zu vergessen die Frage: Was sind im Einzelfall die Gründe für Belastungsspitzen in den Kliniken, was die Intensivbetten angeht? Haben diese Engpässe nur mit schweren Corona-Erkrankungen zu tun?
Gerade erst hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki die Ausrichtung der Politik am so genannten „Inzidenzwert“ mit deutlichen Worten kritisiert: "Das Festhalten an den Inzidenzwerten als ausschlaggebendem Faktor der Corona-Bekämpfung wird immer absurder", so der FDP-Politiker. „Nicht allein das Infektionsgeschehen bestimmt die Höhe der erfassten Neuinfektionen, sondern vor allem auch die jeweilige Teststrategie. Das gibt die Bundesregierung verhältnismäßig unverblümt zu", so Kubicki. Dieses Vorgehen sei „rechtlich fraglich“ und die Zahlen, auf deren Grundlage die Maßnahmen getroffen werden, müssten „seriös ermittelt“ werden, sie dürften „nicht der Zufälligkeit oder Willkür unterliegen.“ Kubicki spricht von „historisch beispiellosen Grundrechtseingriffen“.
Was Kubicki sagt, ist offensichtlich. Und dennoch agieren die Landesregierungen auf eine Weise, die für eine Demokratie wie pures Gift wirkt. Wer meint, Grundrechte aufgrund von vagen Vermutungen aussetzen zu können, der sollte sich – im Sinne der Demokratie – besser von Politik fernhalten.
So richtig die Worte Kubickis auch sind, so sehr erstaunt es doch, wie wenige Politiker, Intellektuelle, aber vor allem auch Journalisten ihre Stimme erheben. Haben sie vergessen, dass Grundrechte „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ sind? Wie ist es um das demokratische Bewusstsein von Bürgern bestellt, die nicht einmal bei Ausgangssperren, die auf vagen Vermutungen beruhen, bereit sind, das Grundgesetz hochzuhalten?
Immerhin: Vereinzelte kritische Stimmen kommen langsam auch aus den Medien. Niemand solle versuchen, die Ausgangssperren als Ausgangsbeschränkung „zu verniedlichen“ sagt der Lokalreporter des Mannheimer Morgens Stefan Mack und spricht davon, dass Menschen zu Hause „eingesperrt“ seien.
Es ist höchste Zeit, dass sowohl Richter als auch Journalisten eine so gravierende Maßnahme wie eine Ausgangssperre grundlegend hinterfragen. Die verantwortlichen Politiker, die diese Maßnahmen veranlasst haben oder mittragen, sind der Öffentlichkeit belastbare Daten schuldig. Das Problem ist: Daten, die belegen, dass sich ein Bürger nachts um 1 Uhr am Nachtschalter einer Tankstelle mit Covid-19 infiziert, gibt es nicht. Und dennoch ist gegenwärtig der Stand der Dinge: Der Abendspaziergang zur Stärkung des Immunsystems steht nun mancherorts unter Strafe. (1) Die Jagd allerdings ist erlaubt.
Über den Autor: Marcus Klöckner, studierte Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Er ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien sein Buch: „Sabotierte Wirklichkeit – Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“. Als Mitherausgeber initiierte er 2019 eine Neuausgabe des Klassikers der herrschaftskritischen Soziologie „Die Machtelite“ von C. Wright Mills.
Anmerkungen
(1) "Ein Spaziergang zu reinen Erholungszwecken ist im Zeitraum der Ausgangsbeschränkungen nicht gestattet", so Ralf Walther, Leiter der Stabstelle Presse und Kommunikation der Stadt Mannheim, am 7. Dezember gegenüber Multipolar.
Weitere Artikel zum Thema:
- Was steckt hinter der Corona-Politik? (Paul Schreyer, 2.12.)
- Quo vadis, Rechtsstaat? (Oliver Märtens, 14.8.)
- Angst – vor ihr müssen wir uns fürchten (Jeanette Fischer, 16.5.)
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