Angst – vor ihr müssen wir uns fürchten
JEANNETTE FISCHER, 16. Mai 2020, 2 Kommentare, PDFDass es sich bei Covid-19 um eine virusbedingte Ansteckungskrankheit handelt, die von Mensch zu Mensch übertragen wird, ist unbestritten. So erscheint die Begründung der Maßnahme Isolation/Abtrennung auf den ersten Blick vernünftig. Jedoch erscheinen mir Maßnahmen, die zum Schutze besonders verwundbarer Menschen der restlichen Bevölkerung Schaden zufügen, keine sinnvollen Maßnahmen.
Die Trennung aus Gemeinschaft ist der Versuch, dem Virus den Nährboden zu entziehen: Es kann nun nicht mehr von einem Menschen zum anderen überspringen. Dies bedingt, dass der Mensch in die Abgetrenntheit gedrängt wird – eine Massnahme wohlgemerkt, die im Justizvollzug als Strafe angewendet wird.
Das Ich braucht das Du
Dabei wird eine wesentliche Lebensbedingung eingeschränkt: Der Mensch braucht, um Ich zu bilden, um Ich sein zu können, den anderen Menschen. Das Ich des Menschen ist keine fixe Größe. Es bildet sich unentwegt neu, formt sich um, ist in Bewegung, so wie unser Atem und unser Kreislauf.
Diese Bewegungen des Ich bedeuten Lebendigkeit und Neugierde und Begehren, nicht nur in seiner sexuellen Bedeutung. Um die Dynamik dieser Bewegungen aufrechtzuerhalten, braucht es ein Du, braucht es Gegenüber, Gemeinschaft, Auseinandersetzung, Körper, Wärme, Streit, Begehren. Das Du kann so in seiner Unterschiedlichkeit, in seiner Differenz zum Ich wahr- und ernstgenommen werden. Das Ich wiederum wird bereichert und ist nicht mehr alleine.
Das Gefühl von Gemeinschaft, von Aufgehobensein und Sicherheit, entsteht nicht durch die Gleichheit der Menschen, durch symbiotischen Gleichklang. Vielmehr entwickelt es sich ausschliesslich in der Anerkennung der Differenz des anderen, das heißt, in der Anerkennung der Tatsache, dass alle anderen Nicht-Ich sind. Wenn kein Du anwesend ist, verlieren wir an Beweglichkeit, an Lebendigkeit, und wir werden anfällig für Unterwerfung und Manipulation. Genauso verhält es sich mit der Muskulatur: Wird sie nicht mit Bewegung lebendig gehalten, bildet sie sich zurück und schwindet.
Angst als Folge der Maßnahmen
Angst ist eine Empfindung, die sich von der Furcht diametral unterscheidet. In der Angst sind wir in einem Zustand der Ohn(e)macht, sind wir Ohnmächtige. In der Angst fehlt uns das Instrumentarium, um uns zur Wehr zu setzen, uns für uns selber einzusetzen, uns einzubringen in die Welt und in die Gemeinschaft. Angst trennt uns von uns selbst und von der Welt.
Um aus dieser Ohn(e)macht herauszufinden, sehnen sich viele Menschen nach einer starken Hand, nach straffer Führung. Das bedeutet, dass ein Allmachtsgedanke kultiviert wird: Es gibt jemanden, der weiß und der uns erfolgreich aus der Bedrohung herausführt. Die alte und die neue Geschichte zeigen, wie erfolgreich so ein Gedankengut sein kann, wie viele Zustimmer damit erreicht werden können. Denn wer möchte nicht aus der Angst, aus der Ohnmacht herauskommen?
Dem Virus mit Furcht begegnen
Deshalb tut ein Umdenken not: Der Angst, der Ohnmacht, darf kein Platz mehr eingeräumt werden, sie muss in jedem Fall und unter allen Umständen verhindert werden. Das heißt: Isolation, Abtrennung von der Welt, von den Mitmenschen ist nicht die Lösung, auch wenn sie logisch erscheinen mag. Und zwar gerade deswegen, weil die andere Seite der Angst und der Ohnmacht die Sehnsucht nach Allmacht ist. Allmachtsgedanken kann ihre Kraft nur genommen werden, indem die Angst überflüssig gemacht wird.
Der Paradigmenwechsel bestünde folglich darin, auf das Virus mit Furcht statt mit Angst zu reagieren. In der Furcht bleiben wir agil, bleiben wir denk- und handlungsfähig, sind wir nicht Ohnmächtige. Wir haben eine gewisse Distanz, die unserem Blick und unserem Denken Raum lässt, dieses "Ding" von allen Seiten zu betrachten und Lösungen zu erarbeiten, die niemandem schaden.
Manchmal hege ich den leisen Verdacht, dass den Corona-Schutzmaßnahmen eher das Motiv zugrunde liegt, die gesetzgebenden Menschen vor eventuellen Vorwürfen zu schützen. Sollte dieses Motiv mit eine Entscheidungsgrundlage sein, wäre dies verheerend, weil damit die Sicht auf sich selber gerichtet bleibt und die Bevölkerung aus dem Blicktfeld verschwindet.
In der Ohnmacht überlassen wir die Macht anderen
Die Angst ist die Grundlage eines jeden Herrschaftsdiskurses. Lesen wir sie als Ohn(e)macht, ist die Macht über diese Menschen jemand anderem überlassen. Um gegen die Angst anzukommen, kann auch Anpassung ein vorübergehend wirksames Mittel sein. So sagen wir uns in der gegenwärtigen Situation also: "Es wird schon richtig sein, was angeordnet wird, es wird schon seinen Sinn haben, und es ist ja nur vorübergehend."
In der Psychoanalyse haben wir dafür einen Begriff: Identifikation mit dem Aggressor. Diese Identifikation schützt uns vor weiteren Angriffen und beruhigt uns. Zumindest zeitweise. Diesen Schutzmechanismus müssen wir ernst nehmen, und zwar in dem Sinne, dass wir uns fragen: Wovor muss ich mich schützen? Wo ist die wirkliche Gefahr? Ist es das Virus? Oder sind es die Maßnahmen? Versetzt mich das Virus in Angst/Ohnmacht?
Die Angst lässt sich erst durch die Furcht ersetzen, wenn sie nicht mehr gebraucht wird. Und gebraucht wird sie letztlich nur, um ein hierarchisches Gefälle, um Machtverhältnisse einzurichten. Dies bedeutet: Wenn wir die Angst, die Ohnmacht überflüssig machen und die Furcht als Reaktionsregulator einführen wollen, müssen wir herrschaftliche Verhältnisse hinterfragen. Vielleicht können wir sie mit einem grundlegend neuen Verständnis von Demokratie ersetzen?
Macht über einen oder viele Menschen zu haben ist erst möglich, wenn diesen Menschen die Eigenmächtigkeit, also die Eigenverantwortung entzogen wird. Und dieser Entzug erzeugt immer Angst, immer Ohn(e)macht. Wenn zum Beispiel behauptet wird, mein eigenes Denken und Handeln sei verantwortungslos, gar tödlich für meine Mitmenschen, dann macht mich das ohnmächtig. Denn wer möchte schon den Mitmenschen Schaden zufügen? Mit dieser Behauptung wird meine Eigenmächtigkeit und Eigenverantwortung also nicht als different zu anderen Meinungen und Haltungen gesehen, sondern als schädlich. Indem ich eine eigene Meinung habe, werde ich als unsolidarisch, schädlich, gar tödlich für andere betrachtet.
Hier handelt es sich um einen klaren Machtdiskurs. Solche Diskurse müssen unterbunden werden, weil sie den Menschen entwürdigen, herabsetzen und entmündigen. Es ist ein Kriegsnarrativ, das einen tödlichen Feind benennt und sich damit das Recht verschafft, mit allen Mitteln dagegen vorzugehen. Auch wenn diese Mittel uns selber, die Bevölkerung schädigen. Das tut ein Krieg auch. Eine Maßnahme, die zum Schutz verhängt wird, darf keinen schädigenden Faktor beinhalten, niemals.
Furcht lässt Raum zum Denken
Demgegenüber schafft die Furcht keine hierarchischen Beziehungen, kein Gefälle zwischen den Menschen, kein Gefälle zwischen denjenigen, die wissen und denjenigen, die nicht wissen. Zwischen denjenigen, die retten und denjenigen, die schädigen. Denn das entspricht einem Kriegsvokabular.
Die Furcht ist eine Reaktion auf etwas außerhalb von mir, das anders ist als Ich. Zuerst einmal ist es einfach anders und unbekannt. Der Bezug dieses Etwas zu mir ist anfangs ungewiss. Es braucht Zeit und Raum zum Denken, um eine eventuelle Wechselwirkung herauszufinden. Das Unbekannte wird in der Furcht nicht per se als bedrohlich für das Ich gesehen, sondern als different – und eben deswegen als unbekannt. Wer in diesem Unbekannten eine Bedrohung sieht, muss damit rechnen, dass er seine ureigenen Aggressionen hineinprojiziert, seine ureigene Zerstörungswut.
Mit dieser Projektion wird das Unbekannte unmittelbar als gefährlich eingestuft – und damit sind auch die Mächteverhältnisse klar installiert: Wo der oder das Böse ist, wissen wir nun. Deshalb können wir mit aller Legitimation und mit allen Mitteln dagegen ankämpfen. So funktioniert jeder Krieg.
Die Furcht hingegen ermöglicht, das andere, uns Unbekannte in seiner Differenz zum Ich wahr und ernst zu nehmen und die Wechselwirkungen zwischen ihm und mir zu beobachten. Weil sie dem Ich diesen Raum, seine Mächtigkeit zu denken und zu handeln belässt, kann die Furcht nie selbstschädigend sein. Einem Menschen diesen Raum zu nehmen bedeutet, ihn in Angst und Ohnmacht, in Abhängigkeit und Unterordnung zu versetzen.
Die Anerkennung der Differenz als Grundlage der Gemeinschaft
Wenn wir die anderen als Nicht-Ich wahrnehmen und anerkennen, verhindern wir die Entstehung eines hierarchischen Gefälles. Unsere Beziehungen zu diesen anderen basieren so ausschließlich auf der Grundlage der Differenz. Die Anerkennung dieser Differenz, die Einsicht, dass jeder andere immer Nicht-Ich ist, schafft die Angst ab und ersetzt sie mit Furcht.
Statt als differentes Gebilde wird Gemeinschaft jedoch oft als symbiotische Vereinigung gesehen: Alle denken und meinen dasselbe, haben dieselben Werte, dieselben Maßstäbe, dieselbe Kultur, und daher gehören alle zusammen. Erst wenn wir stattdessen Gemeinschaft als heterogene Gruppe sehen, die auf der Anerkennung der Unterschiede als Beziehungsgrundlage aufbaut, wird die Neugier auf Differenz, das Begehren nach Differenz, der Genuss an der Differenz und der Genuss an uns selbst als different möglich. Dann wird keine Handlung mehr von Angst geprägt sein, weil keine Macht mehr verloren gehen kann. Packen wir die Chance!
Über die Autorin: Jeannette Fischer, Jahrgang 1954, arbeitete 30 Jahre als Freud’sche Psychoanalytikerin in Zürich. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Frage der Gewalt, Macht und Ohnmacht, kuratierte hierzu Ausstellungen und drehte zwei Dokumentarfilme. Ihr Buch „Angst – vor ihr müssen wir uns fürchten“ erschien 2018.
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