„Wir werden dem ein Ende setzen“
PAUL SCHREYER, 13. Februar 2023, 9 Kommentare, PDFAm 7. Februar 2022 – knapp zwei Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – weilte der damals neugewählte Bundeskanzler Olaf Scholz zu seinem Antrittsbesuch bei US-Präsident Joe Biden in Washington. Die an ihre Unterredungen anschließende Pressekonferenz verlief zunächst unauffällig. Biden erklärte, Deutschland und die Vereinigten Staaten seien „enge Freunde und verlässliche Partner“, man könne sich „aufeinander verlassen“. Scholz betonte fast wortgleich „die starke Bindung, die wir innerhalb unserer transatlantischen Partnerschaft haben, und die Tatsache, dass sich beide Länder aufeinander verlassen können.“ Das kontroverse Thema Nord Stream wurde von keinem der beiden angeschnitten.
Anschließend öffnete Biden die Konferenz für Fragen der anwesenden Journalisten. Als erste rief er die erfahrene, seit Jahren insbesondere für den Rüstungssektor zuständige Reuters-Reporterin Andrea Shalal auf. Diese stellte Biden daraufhin eine sehr präzise Frage:
„Herr Präsident, ich wollte Sie zu diesem Nord-Stream-Projekt befragen, das Sie seit langem ablehnen. Sie haben es vorhin nicht namentlich erwähnt, ebenso wenig wie Bundeskanzler Scholz. Hat Ihnen Bundeskanzler Scholz heute zugesichert, dass Deutschland im Falle eines Einmarsches Russlands in die Ukraine dieses Projekt tatsächlich stoppen wird? Und haben Sie darüber gesprochen, was die Definition eines 'Einmarsches' sein könnte?“
Bidens Antwort darauf lautete (Originalwortlaut, inklusive Versprecher):
„Wenn Deutschland – wenn, äh, Russland einmarschiert – das heißt, Panzer oder Truppen überqueren wieder die Grenze der Ukraine –, dann wird es – wir – es wird kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“
Shalal hakte nach:
„Aber wie werden Sie das genau machen, da das Projekt und die Kontrolle über das Projekt in der Hand Deutschlands liegen?“
Biden erwiderte:
„Ich verspreche Ihnen, wir werden in der Lage sein, es zu tun.“
Ein kaum merkliches Lächeln glitt dabei über sein Gesicht. Die Reuters-Reporterin machte Bidens Antwort umgehend zur Überschrift einer Agenturmeldung: „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 geben“.
Laut Seymour Hershs nun veröffentlichter Recherche hatte Biden zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden, die Pipelines sprengen zu lassen.
Stagnierende Aufklärung
Es fällt auf, wie seit der Zerstörung von dreien der vier Stränge der Erdgas-Röhren am 26. September 2022 die kriminalistische Aufklärung des Ereignisses stagniert. Die Behörden der Ostsee-Anrainerstaaten Dänemark und Schweden weigern sich hartnäckig, ihre Erkenntnisse mit Russland – oder gar der Öffentlichkeit – zu teilen. Auch der in Deutschland ermittelnde Generalbundesanwalt schweigt, trotz der markigen Worte des ihm vorgesetzten Justizministers Marco Buschmann wenige Tage nach den Anschlägen:
„Wir lassen uns durch den Angriff auf die Nord Stream-Pipelines nicht einschüchtern. Die deutschen Behörden werden gemeinsam mit unseren europäischen Partnern aufklären, wer für die Sabotage an den Leitungen verantwortlich ist. Auch der Generalbundesanwalt hat jetzt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, um den Saboteuren auf die Spur zu kommen und diese vor ein deutsches Gericht stellen zu können.“
Vier Monate später ist aus dem Justizministerium zur Sache nichts mehr zu hören, geschweige dass ein Zwischenbericht zu den bisherigen Ermittlungsergebnissen veröffentlicht worden wäre. Die deutschen Behörden stellen sich tot, ebenso die schwedischen. Angesichts der Tragweite des Terroranschlags ist das mehr als erklärungsbedürftig. Es passt auch nicht zur Ankündigung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die am Tag nach der Attacke noch empört beteuert hatte:
„Jede vorsätzliche Störung der aktiven europäischen Energieinfrastruktur ist inakzeptabel und wird zu der schärfsten möglichen Antwort führen.“
Was, so muss man fragen, hat den angekündigten Aufklärungseifer derart gebremst?
In diese – von den großen Medien weithin gemiedene – Frage hinein platzte am 8. Februar, fast auf den Tag genau ein Jahr nach der erwähnten Pressekonferenz, der Bericht von Reporterlegende Seymour Hersh (deutsche Übersetzung hier), der eine plausible Antwort zu geben scheint: Eine Aufklärung ist unerwünscht, da eben nicht Russland, sondern der NATO-„Partner“ USA die Verantwortung für den Anschlag trägt. Dass keine Beweise in Richtung Russland vorliegen, hatte jüngst der Generalbundesanwalt in einem Nebensatz eingeräumt: Eine Verantwortung Moskaus für die Explosionen sei „derzeit nicht belegbar“.
Keine Entwarnung aus Washington
Wenn aber, andersherum, auch die USA nicht verantwortlich sein sollten, also zu unrecht beschuldigt würden, so wäre anzunehmen, dass Washington dies Moskau umgehend über seine diplomatischen Kanäle signalisierte, da der Kreml sonst ja von einer informellen Kriegserklärung der USA ausgehen müsste. Danach befragt, ob es eine solche Kontaktaufnahme nach der Hersh-Veröffentlichung gegeben habe, erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, die USA hätten sich nicht bei den Russen gemeldet.
Warum dieses Schweigen der Diplomaten, wenn man doch unschuldig eines kriegerischen Aktes verdächtigt wird?
Luftraumüberwachungsdaten stützen Hersh
Eines der wesentlichen von Hersh berichteten technischen Details der Durchführung des Terroranschlags ist zudem durch eine weitere – dem Journalisten wohl nicht bekannte – Quelle belegt. So schreibt Hersh, dass amerikanische Taucher im Rahmen einer jährlich stattfindenden Marineübung in der Ostsee im Juni 2022 Sprengstoff an der Pipeline angebracht hätten, der mit einem Zünder versehen war, welcher durch ein Tonsignal ausgelöst werden konnte. Drei Monate später hätte dann ein Militärflugzeug des Typs P-8 Poseidon – eine für die U-Boot-Jagd konzipierte Variante der bekannten Boeing 737 – den Tatort überflogen und eine Boje abgeworfen, die unter Wasser ein entsprechendes Tonsignal aussendete und damit die Explosionen auslöste.
Tatsächlich hatte bereits wenige Tage nach den Anschlägen ein Ex-US-Militär und Luftfahrtexperte öffentlich zugängliche Luftraumüberwachungsdaten publiziert (Video hier), die zeigten, wie eine solche P-8 zur Tatzeit über dem Tatort kreiste, nachdem sie von einer Militärmaschine im Luftraum über Polen aufgetankt worden war.
Der ehemalige CIA-Analyst Larry C. Johnson kommentierte:
„Es gibt immer noch einige Patrioten in den Geheimdiensten, die über Bidens gesetzloses Verhalten alarmiert sind. Ich kann mir vorstellen, dass die Biden-Regierung eine Hexenjagd auf die Geheimdienstmitarbeiter starten wird, die Sy Hersh auf diese Geschichte aufmerksam gemacht haben. Laut Verfassung ist nur der Kongress befugt, einem anderen Land den Krieg zu erklären. Joe Biden hat sich diese Befugnis angemaßt und eine Kriegshandlung gegen einen NATO-Verbündeten (Deutschland) durchgeführt.“
Medien zweifeln
Deutsche Medien zweifeln jedoch weiterhin an der Geschichte. Sie bemängeln vor allem, dass Hersh sich dabei nur auf eine einzige – und auch noch anonyme – Quelle beruft, was aber bei Enthüllungen solcher Größenordnung und Brisanz naturgemäß kaum zu vermeiden ist. Würde die Quelle bekannt, wäre nicht nur deren berufliche Zukunft, sondern auch ihr Leben und die Sicherheit ihrer Familie in Gefahr. Viele von Hershs brisantesten und preisgekrönten Veröffentlichungen basieren daher auf anonymen Quellen aus dem Militär- und Sicherheitsapparat der USA, wohin der 85-jährige seit mittlerweile mehr als 50 Jahren verlässliche Kontakte unterhält.
Weitere Kritikpunkte stellt ein ARD-Faktencheck zusammen, der sich dabei auf den Wissenschaftler Julian Pawlak von der Universität der Bundeswehr in Hamburg stützt. Pawlak, der auch in einer Kooperation mit dem Verteidigungsministerium „zur Meinungsbildung und Strategieformierung“ tätig ist, bemängelt gegenüber der Tagesschau, dass Hersh seine Fakten „selektiv ausgewählt“ habe – ohne diesen Vorwurf aber plausibel machen zu können. Dass Hersh Fakten weggelassen hätte, die seine Aussage, dass die USA verantwortlich sind, grundsätzlich in Zweifel zögen, kann Pawlak jedenfalls nicht belegen. Stattdessen betont er, dass es allgemein „schwierig“ sei, während einer Militärübung – wie Hersh es beschrieben hatte – eine verdeckte Operation auszuführen. Pawlak gibt außerdem zu bedenken: „Ein Angriff auf Deutschland, einen anderen Bündnispartner, würde ja den ganzen Zusammenhalt torpedieren“.
„Der Abzug aller US-Truppen wäre die Konsequenz“
Die Bundesregierung gibt sich derweil schweigsam. In der Regierungspressekonferenz vom 10. Februar ist ein zehnminütiges peinliches Gestammel aus „dazu wissen wir nichts“ und „mehr können wir dazu nicht sagen“ zu sehen. Am gleichen Tag debattierte auf Antrag der AfD der Deutsche Bundestag eine Stunde lang zur Relevanz des Hersh-Berichtes. AfD-Fraktionsvorsitzender Tino Chrupalla erklärte dort:
„Es handelt sich hier um die schwerste terroristische Aktion auf kritische Infrastruktur seit dem Zweiten Weltkrieg. (…) Wir müssen unsere Position in Europa und der westlichen Welt überdenken, und im Fall, dass die Pipelines durch westliche Verbündete zerstört wurden, auch vollkommen neu bewerten.“
In einer Pressemitteilung hatte der Politiker tags zuvor schon gefordert, man müsse in diesem Fall in Frage stellen, ob die Nato „die Sicherheit in Europa gewährleistet oder nicht vielmehr gefährdet“. Und, so Chrupalla weiter: „Der Abzug aller US-Truppen wäre die Konsequenz.“
In eine ähnliche Richtung hatte schon eine Woche nach den Anschlägen der Ökonom Michael Hudson gewiesen:
„Das eigentliche Problem besteht darin, dass die einzige Möglichkeit für Deutschland, den Handel mit Russland wiederherzustellen, darin besteht, aus der NATO auszutreten, wenn es sich bewusst ist, dass es das Hauptopfer des NATO-Krieges ist.“
Oskar Lafontaine brachte es vor wenigen Tagen unter der Überschrift „Vasallen wehren sich nicht“ so auf den Punkt:
„Wir sind eine Vasallen-Republik, deren führende Vertreter unfähig und zu ängstlich sind, die Interessen der eigenen Bevölkerung zu vertreten. (…) Vielleicht merken wir irgendwann einmal: Wer sich selbst nicht achtet, wer die Selbstachtung verliert, wird verachtet.“
US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz am 26. Juni 2022 beim G7-Treffen auf Schloss Elmau | Bild: picture alliance/dpa | Michael Kappeler
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