Die Nord-Stream-Story
KARSTEN MONTAG, 28. September 2022, 9 Kommentare, PDFVorbemerkung der Redaktion: Der folgende Text wurde vor den Terroranschlägen auf die Nord Stream-Pipelines fertig gestellt. Deren Hintergründe sind bislang unklar. Aktuell wird berichtet, deutsche Sicherheitsbehörden gingen davon aus, dass die beschädigten Pipelines Nord Stream 1 und 2 – sollten sie nicht schnell repariert werden – „für immer unbrauchbar“ sein würden, da Salzwasser einlaufe und die Pipelines korrodieren lasse.
Die Anschläge ereigneten sich östlich der dänischen Insel Bornholm, wenige Tage nachdem in diesem Gebiet US-Kriegsschiffe an einem Manöver teilnahmen. Die Ostsee-Zeitung berichtete dazu am 23.9.: „Seit Anfang August hatte die 'Amphibious Ready Group' in der Ostsee Manöver abgehalten (...). Diese Übungen endeten jetzt. Deshalb sammelte sich der Kampfverband am Mittwoch [dem 21.9.] östlich von Bornholm (...). Seit einigen Tagen läuft das Manöver 'Northern Coasts' (nördliche Küsten), an dem auf der ganzen Ostsee mehrere Einheiten teilnehmen.“ Bei einer weiteren Nato-Großübung in der Ostsee im Juni (Baltops 2022) wurden von den USA deren neueste Unterwasser-Drohnen in der Ostsee getestet, auch dies „vor der Küste von Bornholm“.
Verschiedene Medien bringen derzeit Russland als verantwortlich für die Sabotageakte ins Spiel. Andere Kommentatoren sprechen hingegen mit Blick auf die mögliche Rolle der USA davon, dass mit den Anschlägen auf die Pipelines ein „Krieg gegen Deutschland gerade in seine heiße Phase“ trete.
Das Leck an der Nord-Stream-2-Pipeline am 27. September 2022 | Bild: picture alliance / AA | Danish Defence
Bereits der Bau der beiden ersten Stränge der Ostseepipeline Nord Stream, die im April 2005 zwischen dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Russlands Präsidenten Wladimir Putin beschlossen und 2011 in Betrieb genommen wurde, war darauf ausgelegt, den Transit von Erdgas durch die Ukraine zu reduzieren und die Versorgungssicherheit Deutschlands und Europas zu erhöhen. Betreiber war die Nord Stream AG mit ihren Eigentümern Gazprom (51 Prozent), den deutschen Energieunternehmen Wintershall und E.ON (je 15,5 Prozent), der niederländischen Gasunie und dem französischen Energieversorger Engie (je 9 Prozent).
Ukraine als Risikofaktor beim Gastransport
Ausschlaggebend für den Bau der Erdgastrasse war unter anderem die ukrainische Präsidentschaftswahl im Jahr 2004, der sich daraus ergebende politische Richtungswechsel des Landes hin zum Westen sowie der darauf folgende im März 2005 ausgebrochene russisch-ukrainische Gasstreit. In diesem noch immer andauernden Konflikt ging es um den Preis, den die Ukraine für russisches Importgas bezahlt, die Gebühren für die Weiterleitung russischen Gases nach West- und Südosteuropa sowie die jährliche Menge der Durchleitung.
Als ehemaliger Teil der Sowjetunion bezog die Ukraine noch bis 2005 russisches Gas zu Preisen weit unter dem Weltmarktniveau. Zudem erhielt sie einen Teil der Lieferungen als Gegenleistung zur Durchleitung an die übrigen europäischen Staaten umsonst. Mit der Abwendung der ukrainischen Staatsführung von Russland unter dem Präsidenten Wiktor Juschtschenko sowie den Bestrebungen des Landes, EU- und Nato-Mitglied zu werden, forderte Russland eine Angleichung des Preises, den die Ukraine für die russischen Gaslieferungen bezahlen musste, an den Weltmarktpreis. Im Zuge des Konflikts, der daraus zwischen den beiden Ländern entstand, kam es immer wieder zu Lieferstopps in die Ukraine und zu reduzierten Durchleitungsmengen nach Westeuropa, die in einigen Ländern zu Versorgungsengpässen und Ausfällen führten.
Im Juni 2015, ein Jahr nach dem Euromaidan und der gewaltsamen Absetzung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, unterzeichneten die Unternehmen Gazprom, Royal Dutch Shell, E.ON, OMV und Engie eine Vereinbarung, die Ostseepipeline um zwei weitere Erdgasstränge – Nord Stream 2 – zu erweitern. Nord Stream 2 wurde geplant, um eine größere Unabhängigkeit von unsicheren Transitländern wie der Ukraine und damit eine Sicherung der Gasversorgung Deutschlands und Europas zu erreichen. Die dem Innenministerium unterstellte Bundeszentrale für politische Bildung schrieb hierzu noch 2018:
„Die Verlagerung von Gaslieferungen vom UGTS [ukrainisches Gastransitsystem] auf die Ostseepipelines erhöht Europas Energiesicherheit, weil statt der modernisierungsbedürftigen Leitungen und Kompressorstationen aus sowjetischer Produktion neue und moderne Ausrüstungen eingesetzt werden. Außerdem entfällt die Möglichkeit der Lieferunterbrechung durch Transitstaaten.“
Breites europäisches Bündnis für Nord Stream 2
Im April 2017 schlossen fünf europäische Energieunternehmen eine Finanzierungsvereinbarung mit der mittlerweile gegründeten, 100-prozentigen Gazprom-Tochter Nord Stream 2 AG mit Sitz in der Schweiz:
- Wintershall Dea (Deutschland, im Mehrheitsbesitz der BASF)
- Engie (Frankreich)
- OMV (Österreich)
- Shell (Grossbritannien/Niederlande)
- Uniper (damals noch E.ON-Tochter, ab 2020 im Mehrheitsbesitz des finnischen Energiekonzerns Fortum)
Gazprom übernahm 50 Prozent der Finanzierungskosten des 10 Milliarden Euro-Projekts, die übrigen Unternehmen jeweils 10 Prozent.
Abbildung 1 zeigt, dass Nord Stream 2 die Kapazität gehabt hätte, nicht nur die Ukraine als Transitland zur Belieferung Europas mit russischem Gas überflüssig zu machen, sondern auch eine Reduzierung der Liefermengen über die Jamal-Europa-Pipeline ermöglicht hätte.
Abbildung 1: (für größere Darstellung Bild anklicken) Kapazitäten der Pipelines zwischen Russland und Europa sowie Liefermengen 2021, Datenquelle: Wikipedia, Nord Stream, Reuters, CEENERGY NEWS
Nachdem die deutschen Behörden Anfang 2018 die Verlegung durch den deutschen Teil der Ostsee genehmigt hatten, begannen die Bauarbeiten im Mai desselben Jahres. Mit der Fertigstellung wurde bis Ende 2019 gerechnet. Allerdings fehlte zu diesem Zeitpunkt noch die Zustimmung Dänemarks, Schwedens, Finnlands und Russlands für den Bau der Trasse durch den jeweiligen Teil ihrer Hoheitsgewässer.
Internationaler Widerstand
Widerstand gegen die Erweiterung der Pipeline kam aus verschiedenen Richtungen: von den Anrainerstaaten der Ostsee, von Ländern, die befürchteten, durch Nord Stream 2 zukünftig auf Transiteinnahmen verzichten zu müssen, von der EU-Kommission, die lieber eine größere Diversifizierung der Gaslieferungen vorantreiben und die Ukraine in die Europäische Union aufnehmen wollte, und letztendlich auch vom grünen Koalitionspartner der aktuellen deutschen Bundesregierung. Doch ausschlaggebend für die Verzögerung der Fertigstellung und die Nichtinbetriebnahme der Erdgastrasse waren die Interventionen der USA.
Widerstand aus Dänemark
Nachdem alle anderen betroffenen Anrainerstaaten der Ostsee der Verlegung der beiden Rohrleitungen von Nord Stream 2 durch ihre Hoheitsgewässer zugestimmt hatten, erteilte Dänemark erst im Oktober 2019 seine Genehmigung, nachdem der Routenverlauf der Pipeline geändert wurde. Die dänische Energiebehörde begründete die Entscheidung mit Auswirkungen auf den Schiffsverkehr und Naturschutzbedenken. Tatsächlich hatte es in der über zweijährigen dänischen Bearbeitungszeit des Antrages von Nord Stream 2 Bestrebungen gegeben, die Zustimmung aus verteidigungs- und außenpolitischen Gründen zu untersagen.
Widerstand aus Polen
Polen, das sich schon gegen den Bau von Nord Stream 1 ausgesprochen und 2016 ein Veto gegen die Erweiterung eingelegt hatte, verhängte im Oktober 2020 Bußgelder in Höhe von 6,5 Milliarden Euro gegen Gazprom sowie von 58 Millionen Euro gegen die übrigen fünf Finanziers der Pipeline. Rechtliche Schritte zur Eintreibung der Gelder blieben aus. Als Begründung nannte der Präsident der polnischen Wettbewerbsbehörde, dass die Fertigstellung von Nord Stream 2 die Abhängigkeit von russischem Erdgas verstärke und Preiserhöhungen drohten. Da dies auch Konsequenzen für Polen hätte, wäre eine Zustimmung des Landes für den Bau der Pipeline notwendig gewesen, auch wenn die Trasse nicht durch polnische Hoheitsgewässer verlaufe.
Widerstand aus der Ukraine
Die Staatsführung in Kiew sah im Bau von Nord Stream 2 von Anfang an ein anti-ukrainisches Projekt, das den Staatshaushalt um Transitgebühren schmälern würde. So würde das Land anfälliger für russische Aggressionen. Tatsächlich musste die Ukraine bereits durch die Inbetriebnahme von Nord Stream 1 auf Einnahmen aus Gebühren für die Weiterleitung von russischem Gas nach Europa in Höhe von circa zwei Milliarden Euro pro Jahr verzichten. Seit 2015 schwanken die verbliebenen Transit-Einnahmen des Landes zwischen einer und zweieinhalb Milliarden Euro pro Jahr. Da die Ukraine auch Aufwendungen hat, um das Gasnetz in ihrem eigenen Land zu betreiben, liegt der Gewinn aus dem Gastransit deutlich niedriger. Laut des staatlichen ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz beträgt er seit 2015 zwischen 10 Millionen und 1,2 Milliarden Euro jährlich. Abhängig von den jeweiligen Gaspreisen und den durchgeleiteten Mengen lag der Anteil der Transitgebühren an den Kosten für die weitergeleiteten Mengen demnach zwischen 6 und 27 Prozent. Der Anteil des Gewinns der Ukraine lag zwischen 0,1 und 9,3 Prozent. Letzteres sind schlussendlich die Kosten, die sich durch den Bau von Nord Stream 2 beim Gaspreis einsparen ließen.
Ähnlich wie die Ukraine verdient auch Polen an der Weiterleitung russischen Gases über die Jamal-Europa-Pipeline nach Westeuropa mit. Da den polnischen Abschnitt der Gastrasse jedoch Gazprom finanziert hatte, wurde nur ein geringer Profit aus den Transitgebühren vereinbart.
Widerstand der EU-Kommission
Die EU-Kommission hatte bereits sehr früh deutlich gemacht, dass Nord Stream 2 kein Projekt von gemeinsamen europäischem Interesse sei. Bereits im Oktober 2017 kündigte sie an, an die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 andere Bedingungen zu knüpfen als noch an Nord Stream 1. Unter anderem dürften Gaslieferanten nicht gleichzeitig auch Betreiber eine Leitung sein.
Zuletzt war es Mitte November 2021 auf Druck der EU-Kommission zu einer Aussetzung der Zertifizierung von Nord Stream 2 aus formalen Gründen durch die Bundesnetzagentur gekommen. Die Betreiberfirma müsse erst nach deutschem Recht organisiert sein, um zugelassen werden zu können. Danach hätte die EU-Kommission noch zustimmen müssen, die wahrscheinlich die Frist von vier Monaten für ihre Stellungnahme voll ausgeschöpft hätte.
Widerstand der Grünen
Sowohl Bundesaußenministerin Annalena Baerbock als auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatten sich früh gegen die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ausgesprochen. Baerbock sah die Pipeline schon vor der Bundestagswahl im September 2021 als Gefahr für die Sicherheit der Ukraine. Sie sei zudem klimapolitisch und geostrategisch falsch, da sie unter anderem auf eine Spaltung der EU abziele. Habeck äußerte in einem Interview im Februar 2022, dass es klüger gewesen wäre, Nord Stream 2 erst gar nicht zu bauen. Die sicherheits- und geopolitische Seite der Ostseepipeline sei zu wenig berücksichtigt worden.
Widerstand und Sanktionen der USA
Im August 2017 unterzeichnete der damalige US-Präsident Donald Trump den Countering America's Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) (zu Deutsch: Gesetz zur Bekämpfung von Amerikas Widersachern durch Sanktionen), der sich auch explizit gegen den Bau von Nord Stream 2 richtete und gegen europäische Firmen zur Anwendung kommen sollte. Im Gesetz heißt es:
„Es ist die Politik der Vereinigten Staaten, sich weiterhin (...) gegen die Nord Stream 2-Pipeline auszusprechen, da sie sich nachteilig auf die Energiesicherheit der Europäischen Union, die Entwicklung des Gasmarktes in Mittel- und Osteuropa und die Energiereformen in der Ukraine auswirkt; und dass die Regierung der Vereinigten Staaten dem Export von Energieressourcen der Vereinigten Staaten Vorrang einräumen sollte, um amerikanische Arbeitsplätze zu schaffen, Verbündete und Partner der Vereinigten Staaten zu unterstützen und die Außenpolitik der Vereinigten Staaten zu stärken.“
Zwei Monate zuvor hatten der damalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern und der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel diesen Gesetzentwurf in einer gemeinsamen Stellungnahme scharf kritisiert:
„In bemerkenswerter Offenheit beschreibt der US Gesetzentwurf, worum es eigentlich geht: um den Verkauf amerikanischen Flüssiggases und die Verdrängung russischer Erdgaslieferungen vom europäischen Markt. Ziel sei es, Arbeitsplätze in der Erdgas- und Erdölindustrie der USA zu sichern. Politische Sanktionsinstrumente sollten nicht mit wirtschaftlichen Interessen in Verbindung gebracht werden. Und Unternehmen in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Staaten auf dem US Markt mit Bestrafungen zu drohen, wenn sie sich an Erdgasprojekten wie Nord Stream II mit Russland beteiligen oder sie finanzieren, bringt eine völlig neue und sehr negative Qualität in die europäisch-amerikanischen Beziehungen. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit unserer energieintensiven Industrie und um tausende von Arbeitsplätzen.“
Die damalige Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries verurteilte das Gesetz sogar als völkerrechtswidrig.
Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft erklärte in der ARD-Sendung Panorama 2018:
„Die Nord-Stream-2-Gasleitung ist ein sehr gutes Projekt nicht nur für Deutschland, sondern für Europa insgesamt. Russland: direkt vor der Haustür, sehr günstig, mit kurzem Transportwegen. Europa ist da in einer sehr, sehr günstigen Versorgungslage.“
Ende 2019 unterzeichnete Trump dann den Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA) (zu Deutsch: Gesetz zum Schutz der europäischen Energiesicherheit). Darin wurden Unternehmen und Personen, die sich konkret am Bau von Nord Stream 2 und Turk Stream sowie etwaiger Nachfolgeprojekte beteiligten, ab Januar 2020 Sanktionen angedroht. Als Begründung führte die US-Regierung an, Russland würde Nord Stream 2 als Werkzeug missbrauchen, um seine Aggressionen gegen die Ukraine fortzusetzen und eine engere Integration des Landes mit den USA und Europa zu verhindern. Des Weiteren würde die Pipeline die Abhängigkeit Europas von russischem Gas erhöhen und damit ökonomische und politische Verwundbarkeiten bei den US-amerikanischen Partnern und Alliierten in Europa schaffen.
Die Sanktionen richteten sich gegen Schiffe, die Pipelines verlegen, sowie gegen Personen, die derartige Schiffe verkaufen, zur Verfügung stellen, finanzieren, versichern oder umrüsten. Zudem sollten Personen sanktioniert werden, die Dienstleistungen für die Prüfung, Inspektion oder Zertifizierung der Pipeline erbringen. Letztere Androhungen bezogen sich somit auch auf Mitarbeiter deutscher Behörden wie der Bundesnetzagentur.
2021 wurde das Gesetz um Sanktionen erweitert, die sich auf Aktivitäten rund um die Verlegung der Pipelines bezogen, wie „die Vorbereitung des Standorts, des Aushebens von Gräben, des Vermessens, des Platzierens von Steinen, des Verfüllens, des Verlegens von Strängen, des Biegens, des Schweißens, des Beschichtens und des Absenkens von Rohren“. Vor der Verhängung von Sanktionen sollten die Regierungen Norwegens, der Schweiz, des Vereinigten Königreichs und der EU-Mitgliedstaaten konsultiert werden.
Die Sanktionsdrohungen wurden von der Bundesregierung mit dem Hinweis, dass sie deutsche und europäische Unternehmen treffen würden und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands darstellen, bedauernd zur Kenntnis genommen.
US-Sanktionen verzögern Fertigstellung um zwei Jahre
Im Dezember 2019, kurz bevor die US-Sanktionen in Kraft traten, verließen die beiden weltweit größten Rohrverlegeschiffe „Pionieering Spirit“ und „Solitaire“ des schweizerischen Unternehmens Allseas die Baustelle in der Ostsee. Der Bau war zum damaligen Zeitpunkt zu 90 Prozent fertiggestellt. Die restlichen 160 Kilometer Pipeline wurden ab Februar 2021 von den russischen Rohrverlegeschiffen „Akademik Cherskiy“ und „Fortuna“ verlegt, die jedoch vorher aufwändig umgerüstet werden mussten.
Medien meldeten im Februar 2021, dass mindestens 18 europäische Unternehmen ihre Teilnahme an dem Projekt beendet oder ihren Rückzug zugesichert hätten, darunter der Industriedienstleister Bilfinger aus Mannheim und der zur Münchner Rück gehörende Versicherer Munich Re Syndicate Limited.
Die neue US-Regierung unter Joe Biden verzichtete im Mai 2021 zunächst auf weitere Sanktionen, insbesondere gegen die Betreibergesellschaft der neuen Ostseepipeline, die Nord Stream 2 AG, obwohl sowohl Biden selbst als auch sein Außenminister Anthony Blinken sich deutlich gegen den Bau der Erdgastrasse ausgesprochen hatten. Im Juli 2021 gelangten Deutschland und die USA schließlich zu einer Einigung im jahrelangen Streit um die Pipeline. In einer gemeinsamen Erklärung bekundete die Bundesregierung ihre Absicht, sich auch zukünftig dafür einzusetzen, dass die Ukraine ein Gastransitland bleibt – obwohl dies dem eigentlichen Zweck von Nord Stream 2 widerspricht.
Trotz des vehementen Widerstands der USA war im Juni 2021 der Bau des ersten Stranges von Nord Stream 2 abgeschlossen. Im September 2021 folgte die Fertigstellung des zweiten Stranges. Die Test-Befüllung des ersten Stranges erfolgte im Oktober 2021, die Test-Befüllung des zweiten Stranges war im Dezember 2021 abgeschlossen.
Ende November 2021 kündigten die USA, trotz ihrer Einigung mit der Bundesregierung wenige Monate zuvor, neue Sanktionen gegen die Inbetriebnahme an. Acht Personen und 17 Schiffe seien nunmehr mit Strafmaßnahmen belegt.
Die Eskalation Anfang 2022
Vier Wochen vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine machte das US-Außenministerium deutlich, dass im Falle einer Invasion Russlands Nord Stream 2 gestoppt werden würde. Ein Sprecher erklärte am 26. Januar:
„Ich möchte sehr deutlich werden: Falls Russland auf die ein oder andere Art in die Ukraine einmarschiert, dann wird Nord Stream 2 gestoppt werden. Ich werde nicht in die Details gehen. Wir werden mit Deutschland arbeiten um sicherzustellen, dass das Projekt gestoppt wird.“
Am 7. Februar erklärte US-Präsident Biden gleichen Sinnes:
„Wenn Russland einmarschiert, wenn Panzer oder Truppen wieder die Grenze zur Ukraine überschreiten, dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“
Der Ökonom Michael Hudson sah in solchen Aussagen eine Strategie der USA, Russland zu einem Krieg zu provozieren um durch den darauf folgenden politischen Druck die schon fertige Pipeline doch noch in letzter Minute stoppen zu können. So schrieb Hudson am 7. Februar, mehrere Wochen vor Beginn des Krieges in einem Artikel mit dem Titel „Amerikas echte Widersacher sind seine europäischen und anderen Alliierten. Ziel der USA ist es, sie vom Handel mit China und Russland abzuhalten“:
„Die einzige Möglichkeit, die den US-Diplomaten bleibt, um die europäischen [Gas-]Käufe zu blockieren, besteht darin, Russland zu einer militärischen Reaktion zu veranlassen und dann zu behaupten, dass die Rache für diese Reaktion schwerer wiegt als jedes rein nationale wirtschaftliche Interesse. (…) Das Problem besteht darin, einen angemessenen Vorfall zu schaffen und Russland als Aggressor darzustellen.“
Der Autor Mike Whitney präsentierte am 11. Februar eine ähnliche These, die die kommenden Ereignisse präzise vorwegnahm:
„Das Biden-Team will Russland 'zu einer militärischen Reaktion veranlassen', um Nord Stream zu sabotieren. Das bedeutet, dass es eine Art Provokation geben wird, die Putin dazu veranlassen soll, seine Truppen über die Grenze zu schicken, um die ethnischen Russen im östlichen Teil des Landes zu verteidigen. Sollte Putin den Köder schlucken, würde die Reaktion schnell und hart ausfallen. Die Medien werden die Aktion als Bedrohung für ganz Europa anprangern, während führende Politiker in aller Welt Putin als 'neuen Hitler' anprangern werden. Das ist die Strategie Washingtons, und die ganze Inszenierung ist auf ein Ziel ausgerichtet: Es dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz politisch unmöglich zu machen, Nord Stream durch das endgültige Genehmigungsverfahren zu winken.“
Am 22. Februar, zwei Tage vor Kriegsbeginn, wurde Nord Stream 2 dann tatsächlich gestoppt. Bundeskanzler Olaf Scholz teilte diese Entscheidung mit und begründete sie mit der russischen Anerkennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten am gleichen Tag. Eine Sprecherin der US-Regierung kommentierte den Beschluss umgehend:
„Wir haben uns im Lauf der Nacht eng mit Deutschland abgestimmt und begrüßen die Ankündigung.“
Hohe Gaspreise nicht erst durch den Krieg
Die Preise für Erdgas auf dem europäischen Markt sind nicht erst mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar sowie den nachfolgenden Sanktionen gegen Russland gestiegen. Bereits seit Mitte 2021 befindet sich der Gaspreis in Europa auf einem bisher nie dagewesenen Höhenflug. Abbildung 2 zeigt die Endwicklung des durchschnittlichen monatlichen Preises für Erdgas-Termingeschäfte am niederländischen Handelspunkt Title Transfer Facility (TTF).
Abbildung 2: (für größere Darstellung Bild anklicken) Durchschnittlicher monatlicher Preis für Erdgas-Termingeschäfte am niederländischen Handelspunkt TTF, Datenquelle: Investing.com, abgerufen am 20.09.2022
Demnach ist bereits im August 2021 der Preis für Erdgas in Europa über das Niveau der Vorjahre gestiegen und hat sich in den Folgemonaten noch deutlich erhöht. In den Medien fanden sich Ende 2021 vielerlei Spekulationen über die Gründe für den enormen Anstieg. Der wichtigste Auslöser dürfte jedoch die ausgebliebene Gaslieferung aus Russland gewesen sein. Abbildung 3 zeigt, wie seit Mitte August 2021 die Übertragung von Erdgas über die Jamal-Europa-Pipeline deutlich zurückgeht.
Abbildung 3: (für größere Darstellung Bild anklicken) Gaslieferungen aus Russland je Pipeline, Datenquelle: Bruegel, abgerufen am 20.09.2022
Zunächst war ein Feuer in einer Erdgasaufbereitungsanlage in Sibirien der offizielle Grund für eine Reduzierung der Gasflüsse über die Erdgasleitung, die durch die Transitländer Weißrussland und Polen führt. Tatsächlich hatte das teilstaatliche russische Gasunternehmen Gazprom jedoch bereits im August 2021 weniger Übertragungskapazitäten über die Jamal-Europa-Pipeline und das ukrainische Transitnetzwerk reserviert, um Gas nach Europa zu liefern.
Ganz offensichtlich ist das Unternehmen davon ausgegangen, dass mit der damals kurz bevorstehenden Inbetriebnahme von Nord Stream 2 diese Kapazitäten, welche hohe Zahlungen an die Transitländer Weißrussland, Polen und Ukraine verursachen, nicht mehr nötig wären. Dieses Vorgehen wurde von der damaligen Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, als Erpressung gewertet.
An Abbildung 3 ist auch erkennbar, dass Gazprom die Gaslieferungen über Nord Stream 1 erst dann signifikant reduziert hatte, als die deutsche Bundesregierung Ende April die Belieferung der Ukraine mit schweren Waffen angekündigt hatte.
Die hohen Gaspreise in Europa sind keine direkte Folge höherer Produktionskosten, sondern dem freien Handel an den europäischen Börsen und in Direktverträgen geschuldet. Während sich der durchschnittliche monatliche Gaspreis in Europa im Vergleich zum Mittelwert der vorangegangen drei Jahre seit Mitte 2021 zeitweise verzehnfacht hat, stieg der entsprechende Gaspreis in den USA im selben Zeitraum nur um maximal das Dreifache an. Die hohe Nachfrage in Europa und das geringe Angebot aufgrund mangelnder Gaslieferungen aus Russland trieben die Preise in die Höhe und sorgen für außerordentlich hohe Gewinne bei den Gasproduzenten und Händlern.
Geopolitische Interessen der USA
Aus geopolitischer Sicht sind die USA bestrebt, grundsätzlich eine enge wirtschaftliche Kooperation zwischen Europa, Russland und China zu verhindern. Der einflussreiche polnisch-amerikanische Politikwissenschaftler und Politikberater Zbigniew Brzeziński schrieb bereits 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (S. 15, englischer Originaltitel: „The Grand Chessboard. American Primary and Its Geostrategic Imperative“):
„Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt (...) davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann. Folglich muss die amerikanische Außenpolitik den geopolitischen Aspekt der neu entstandenen Lage [nach dem Ende der Sowjetunion] im Auge behalten und ihren Einfluss in Eurasien so einsetzen, daß ein stabiles kontinentales Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten als politischem Schiedsrichter entsteht. Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird.“
Vor diesem Hintergrund gefährden Projekte wie die Neue Seidenstraße oder Nord Stream 2 grundsätzlich die geopolitischen Interessen der USA auf dem eurasischen Kontinent.
Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat.
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