Die entkoppelte Regierung
PAUL SCHREYER, 15. September 2022, 7 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast sowie auf Italienisch verfügbar.
Immer mehr Bürger und inzwischen auch Lokalpolitiker fordern in diesen Tagen die Öffnung von Nord Stream 2, um die absehbare Katastrophe bei der Energieversorgung abzuwenden. Doch der Stopp der fertig gebauten Erdgaspipeline ist für die Regierung Scholz unumstößlich. Vergessen scheint, dass dieser Stopp in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ohne jedes demokratische Verfahren, zwei Tage vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine beschlossen wurde. Ein kurzer Rückblick anhand dreier Agenturmeldungen vom 22. Februar 2022 verdeutlicht die Umstände dieser Entscheidung:
22.2., 10:44 Uhr: Putin sagt Fortsetzung aller Gaslieferungen zu – Ungeachtet der Eskalation der Ukraine-Krise hat Russlands Präsident Wladimir Putin laut Nachrichtenagentur Tass zugesagt, die Gaslieferungen an die Weltmärkte ohne Unterbrechung fortzusetzen.
22.2., 12:05 Uhr: Bundesregierung stoppt Zertifizierung von Nord Stream 2 – Bundeskanzler Olaf Scholz hat entschieden, die Inbetriebnahme der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 auf Eis zu legen. Dies kündigte Scholz in Berlin an. Er verurteilte die Entscheidung von Präsident Wladimir Putin zur Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten als schwerwiegenden Bruch des Völkerrechts.
22.2., 14:56 Uhr: US-Regierung begrüßt Stopp von Nord Stream 2 – Die US-Regierung hat den von Deutschland beschlossenen vorübergehenden Stopp des Genehmigungsverfahrens für die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 begrüßt. US-Präsident Joe Biden habe klargemacht, dass die Erdgas-Pipeline bei einem russischen Angriff auf die Ukraine nicht in Betrieb gehen dürfe, erklärte seine Sprecherin Jen Psaki auf Twitter. „Wir haben uns im Lauf der Nacht eng mit Deutschland abgestimmt und begrüßen die Ankündigung“, schrieb sie weiter.
Gab es eine Debatte zu Scholz´ Beschluss vom 22. Februar? Fand eine demokratische Abstimmung in Gremien statt oder überhaupt eine Diskussion in der Öffentlichkeit? Fehlanzeige. Scholz´ Entscheidung, die die deutsche Energieversorgung nachhaltig zu ruinieren droht, wurde laut US-Regierung „im Lauf der Nacht“ vom 21. auf den 22. Februar, Hals über Kopf, am Telefon gefällt und wird seither als unumstößlich dargestellt.
Corona-Ausnahmezustand: auf welcher Basis?
Nicht anders erscheint das Vorgehen bei anderen Grundsatzentscheidungen, etwa zu den Corona-Maßnahmen und zur Massenimpfung. Am 17. März 2020 erklärte das der Bundesregierung nachgeordnete Robert Koch-Institut (RKI) erstmals:
„Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit insgesamt als hoch ein.“
Bis zum Vortag hatte die Gefahr lediglich als „mäßig“ gegolten. Eine Begründung für die Verschärfung wurde nicht genannt. Am 16. wie am 17. März, also vor und nach der Verschärfung erklärte das RKI vielmehr pauschal, eine Belastung des Gesundheitswesens könne „örtlich sehr hoch sein“ sowie: „auch tödliche Krankheitsverläufe kommen vor“. Deren Zahl belief sich am 17. März 2020 laut RKI auf 12, ihr Altersmedian auf 83 Jahre.
Die Feststellung des RKI vom 17. März war weitreichend. Sie bildete die Grundlage sämtlicher staatlichen Freiheitsbeschränkungen in den folgenden Monaten und Jahren. Regelmäßig argumentierten Gerichte mit der „hohen Gefährdung“, die das RKI erklärt hatte, um Klagen von Bürgern gegen die Maßnahmen pauschal als unberechtigt abzuweisen. Der „Corona-Staat“ des permanenten Ausnahmezustands etablierte sich.
Doch wie kam die Behörde überhaupt zu ihrer Einschätzung, die Gefährdungsstufe auf „hoch“ heraufzusetzen? Welche Argumente wurden abgewogen? Welche Gremien und Personen waren beteiligt? Wie verlief der Diskussionsprozess? Gab es überhaupt einen? All diese Fragen sind bis heute – von allgemeinen Floskeln abgesehen – unbeantwortet. Multipolar hat deshalb Ende 2021 vor dem Verwaltungsgericht Berlin Klage gegen das RKI erhoben, um Einblick in die entsprechenden Protokolle des Krisenstabes der Behörde zu erhalten. Eine Entscheidung des Gerichts dazu steht noch aus.
Impfung für alle: woher der Automatismus?
Die Agenda der Massenimpfung schließlich wurde am 15. April 2020 von der Bundesregierung, wie nebenbei, im Unterpunkt 17 eines „Telefonschaltkonferenzprotokolls“ vorgestellt und verkündet:
„Eine zeitnahe Immunität in der Bevölkerung gegen SARS-CoV-2 ohne Impfstoff zu erreichen, ist ohne eine Überforderung des Gesundheitswesens und des Risikos vieler Todesfälle nicht möglich. Deshalb kommt der Impfstoffentwicklung eine zentrale Bedeutung zu. Die Bundesregierung unterstützt deutsche Unternehmen und internationale Organisationen dabei, die Impfstoffentwicklung so rasch wie möglich voranzutreiben. Ein Impfstoff ist der Schlüssel zu einer Rückkehr des normalen Alltags. Sobald ein Impfstoff vorhanden ist, müssen auch schnellstmöglich genügend Impfdosen für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen.“
Auffällig an dieser Formulierung ist der dogmatische Ton. Es wurde der irreführende Eindruck erweckt, als handle es sich um völlig unstrittige Aussagen. Doch von wem stammte der Vorschlag der Massenimpfung überhaupt? Wer hatte ihn mit wem debattiert? Welche demokratischen Verfahren gingen dem Beschluss voraus? Auch bei diesem Schlüsselthema liegen die Antworten bis heute im Dunkeln. Wiederum erscheint das Handeln der Regierung losgelöst von demokratischen Spielregeln – und das mit, angesichts des Ausmaßes an schweren Impfschäden, unabsehbaren Folgen für die kommenden Jahre.
Verschwinden von Verantwortlichkeit
Wesentlich für die beschriebene Entkopplung der Regierung in diesen drei Beispielen ist, dass sie mit dem Verschwinden von Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht einhergeht. Alle an den Entscheidungen Beteiligten wähnen sich „unbelangbar“, handeln als Rädchen in einem technokratischen Getriebe, das den Blick auf den eigentlichen Motor, den jeweiligen Impulsgeber der Beschlüsse verdeckt.
Dieses Verlöschen von Verantwortlichkeit geht an die Substanz. Der Staat, verstanden als Gemeinwesen der Bürger (im Unterschied zum Staat als synthetische, fassadenhafte Verwaltungseinheit zur Durchsetzung von Konzerninteressen), wird erst durch eine Rechenschaftspflicht der leitenden Beamten und Politiker legitimiert. Wo diese Verantwortlichkeit sich auflöst, da schwindet nicht nur Stück für Stück die öffentliche Akzeptanz des Staates, sondern letztlich auch dessen Legitimität.
„Delegitimierung des Staates“
Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht mit seinem 2021 eingeführten neuen Beobachtungsbereich „Delegitimierung des Staates“ davon aus, diese Delegitimierung sei verfassungsfeindlich und gehe von Bürgern aus, deren „öffentlich geäußerte Meinungen oder Aktionen über einen legitimen Protest hinaus“ reichten und die darauf abzielten, „das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen“. Der Verfassungsschutz übersieht in dieser Analyse – und muss das als Regierungsbehörde wohl auch übersehen – dass die Regierung selbst ihre Legitimität untergräbt, wenn sie Grundsatzentscheidungen, die alle Bürger nachhaltig betreffen, weitgehend ohne demokratische Verfahren fällt, ohne Transparenz und ohne dass die handelnden Akteure haftbar sind, also auch tatsächlich in der Praxis zur Rechenschaft gezogen und nicht von anderen Verfassungsorganen gedeckt werden.
Wo keiner mehr haftbar ist, wo jeder Politiker und Behördenleiter sich hinter anderen versteckt, wo die eigentlichen Player und Impulsgeber verborgen bleiben, da wird am Ende der Staat selbst obsolet, erscheint als leere Hülle, die den Bürgern nicht nützt, sondern die von anderen einflussreichen Akteuren für eigene Zwecke benutzt wird.
Die beschriebene Entkopplung der Regierung zu beenden, eine Rechenschaftspflichtigkeit einzufordern und auch wiederherzustellen wäre Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Staat, der Akzeptanz findet. Wo das nicht mehr möglich ist, da sind neue, demokratischere und gerechtere Organisationsformen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gefragt. Die Debatte dazu aber steht noch ganz am Anfang.
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