Soziologin: Unaufgearbeitete Corona-Politik ist „eiternde Wunde“ – „Wir müssen analysieren, was schief gelaufen ist“
JANA KERAC, 10. November 2022, 5 Kommentare, PDFMultipolar: Frau Kostner, wie ist es zu Ihrem aktuellen Buchprojekt gekommen?
Kostner: Ende letzten Jahres hat sich eine Gruppe namens „7 Argumente“ (gegen eine Impfpflicht, Anmerkung J.K.) gebildet. Sie entstand aus einem Kreis von Wissenschaftlern, der sehr interdisziplinär zusammengesetzt ist. Die freie Journalistin Tanya Lieske trat an die Gruppe mit der Idee heran, eine Publikation zu erstellen. Es sollte darum gehen, die Maßnahmen, die im Rahmen der Pandemiepolitik getroffen wurden, sowie die dadurch bedingten Veränderungen in der Gesellschaft zu dokumentieren, um sie für die Nachwelt festzuhalten. Wichtig war Tanya Lieske, dass keine Streitschrift entsteht. Es sollte zwar aufgezeigt werden, was schief gelaufen ist, doch das Ganze sollte im Duktus der Versöhnung gehalten sein. Es kam dann zu einem Aufruf an die zum damaligen Zeitpunkt rund 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Gruppe. Ich selbst habe mich bereiterklärt, das Buch mit Tanya Lieske herauszugeben.
Multipolar: Im Augenblick verschieben sich thematisch die Gewichte. Der Ukraine-Konflikt dominiert. Hüten sollte man sich aber sicherlich davor, nun die Aufarbeitung der Corona-Krise zu vernachlässigen. Ich denke, Ihr Buchprojekt ist nach wie vor aktuell.
Kostner: Ja, das sehe ich auch so. Die Texte sind im Januar und Februar 2022 entstanden. Die meisten Autorinnen und Autoren haben sie dann noch mal aktualisiert, dennoch handelt es sich natürlich um Analysen aus der Zeit von Anfang dieses Jahres. Manches hat sich inzwischen geändert, das ist klar. Doch für uns ist es sehr wichtig, dass das, was gewesen ist, nicht untergeht angesichts neuer Mega-Themen wie der Krieg in der Ukraine und die durch die westliche Sanktionspolitik hervorgerufene Energiekrise. Sicher kommt es manchem Politiker entgegen, dass wir uns jetzt in einem neuen Krisenmodus befinden. Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, dass der eine oder andere Politiker hofft, sich dadurch dem, was in der Rückschau zu hinterfragen ist, nicht stellen zu müssen. Doch durch die zweieinhalbjährige Maßnahmenpolitik kam es zu schweren gesellschaftlichen Verwerfungen. Es kam zu gebrochenen Lebenswegen und drastischen ökonomischen Konsequenzen. Vieles verlief unterm Radar. Das ist wie eine eiternde Wunde und wird früher oder später hochkommen. Wir müssen analysieren, was schief gelaufen ist, sonst besteht die Gefahr, dass man diese Fehler, sollte noch einmal eine Pandemie ausgerufen werden, wiederholt. In unserem Band tun dies unter anderem Rechtwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Historiker und Theologen.
Gesellschaftliches Long-Covid: zerstörtes Vertrauen
Multipolar: Sie selbst verfassten für den Band einen Beitrag zum „Gesellschaftlichen Long-Covid“. Was meinen Sie damit genau?
Kostner: Mir geht es in meinem Beitrag um die dauerhaften Folgen der Corona-Politik zumindest für einen Teil der Gesellschaft – etwa in Bezug auf soziale Beziehungen. Teilweise zerbrachen jahrzehntelange Freundschaften, familiäre Bande sind brüchig geworden. All das lässt sich nicht so leicht kitten. Und man darf dies alles nicht ignorieren, indem man sagt, das sei ja nun vergangen. Oder, das sei alles so gekommen, weil man geglaubt habe, was Politik und Medien sagten. Also zum Beispiel, dass die Impfung absolut wirksam sei und Infektionen verhindern könne, weshalb man geglaubt habe, dass Ungeimpfte eine Gefahr darstellen. Jetzt wisse man mehr. Schwamm drüber.
Aber für diejenigen, die ausgegrenzt wurden, die also, weil man sie als „virale Gefährder“ ansah, zum Beispiel nicht an familiären Weihnachtsfeiern teilnehmen durften, ist das alles nicht vorbei. Für manche vielleicht schon, denn das ist ja auch eine Frage der Persönlichkeit. Aber viele empfinden eine schwere soziale Verwundung. Wird darüber nicht gesprochen, werden die sozialen Beziehungen dauerhaft belastet sein. „Gesellschaftliches Long-Covid“ betrifft aber auch die Vertrauensbeziehung, die Menschen in Politik, Medien und Institutionen haben. Diejenigen, die der Maßnahmenpolitik ganz oder teilweise kritisch gegenüberstanden, erlebten, dass sie in sehr vielem Recht hatten. Anders als Anfangs behauptet, gibt es zum Beispiel Impfschäden. Die Lockdowns hatten negative Folgen. Und die Modellrechnungen dramatisierten die tatsächliche Lage. Gleichzeitig sehen sie, dass Politik, Medien und Institutionen keinen Anlass sehen, dies zu thematisieren. Man hört so gut wie nirgends, dass bestimmte Fehler erkannt wurden, und dass man diese Fehler nicht mehr machen möchte. Ich sehe einen Vertrauensverlust, der nach und nach immer größere Teile der Gesellschaft umfasst.
Denn auch diejenigen, die lange auf das, was von Politik, Medien, Institutionen und „der“ Wissenschaft kam, vertraut haben, beginnen, ihr Vertrauen zu verlieren. Sie sehen jetzt, dass das, wovon sie glaubten, es sei korrekt, faktisch nicht korrekt ist. In erster Linie betrifft dies natürlich die Impfungen und deren Wirksamkeit. Eigentlich kann sich eine Demokratie einen solchen Vertrauensverlust nicht leisten, aber im Moment leistet sie ihn sich. Hinzu kommt etwas Drittes, das wir allerdings schon länger beobachten, nämlich, dass individuelle Freiheiten an Boden verlieren. Immer mehr Freiheitsrechte werden unter einem politischen oder auch ideologischen Vorbehalt gestellt. Gerade während der Corona-Krise wurden Freiheitsrechte außerdem moralisch aufgeladen. Es gab einen „guten“ und einen „schlechten“ Freiheitsgebrauch. Der „gute Freiheitsgebrauch“ folgte der Maßnahmenpolitik. Der „schlechte Freiheitsgebrauch“ stand dazu im Gegensatz. Das ist natürlich eine Abkehr von dem, was individuelle Freiheit ausmacht. Freiheit wurde nicht aufgegeben, weil klar ist, dass es sich um einen grundlegenden Wert der Gesellschaft handelt, aber der Begriff wurde entkernt und neu aufgeladen. Freiheit wurde kollektiviert und seine Bedeutung damit pervertiert. Hier sehe ich eine große Gefahr eines „Gesellschaftlichen Long-Covids“.
Multipolar: Die Kollateralschäden durch die Maßnahmenpolitik sind ja eigentlich sehr bald sichtbar geworden. Es gab zum Beispiel Pflegekräfte, die mit Suizidversuchen von demenziell veränderten, isolierten Senioren im Seniorenheim konfrontiert waren. Hospizbegleiter sahen, wie brutal sich die Maßnahmen auf einsam sterbende Menschen auswirkten. Dennoch regten sich kaum Zweifel und Protest. Wie ist das zu erklären?
Kostner: Ich hab mir noch mal die Medienberichterstattung seit Beginn der Corona-Krise angeschaut. Interessant finde ich, dass es in den ersten Monaten viel mehr kritische Berichterstattung gab als danach. Zwischen Mai und Juni 2020 wurden die Kollateralschäden relativ intensiv behandelt. Es wurde zum Beispiel gefragt, was die Maßnahmen für Kinder und für schwerkranke Menschen im Krankenhaus und was sie für die Wirtschaft bedeuten. Auch kam die Frage auf, wie viel Schutz denn gerechtfertigt ist angesichts von großem emotionalem Leid, das im Falle von sterbenden Menschen nie wieder gutzumachen ist. Diese Fragen spielten ab Herbst 2020 eine immer geringere Rolle. Plötzlich dominierte die Haltung: Augen zu und durch! Der Bekämpfung des Virus wurde alles andere untergeordnet. Meine Interpretation ist, dass die Politik gleich am Anfang einen großen Fehler gemacht hat, indem sie der Bevölkerung signalisierte, ein respiratorisches Virus könne durch politische Mittel aus der Welt geschafft werden. Das war zum Scheitern verurteilt. Je größer dann die Schäden wurden, umso schwerer wurde die Kehrtwende. Ich selbst glaube, je länger man in einer solchen Politik drinsteckt, umso größer wird die Gefahr, dass man in Grausamkeit abrutscht. Eben das konnte man ja dann im Diskurs über die Ungeimpften sehen.
„Es fehlte die Empathie“
Multipolar: Ich gehe noch mal kurz zurück auf den Anfang der Corona-Krise. Damals hat man ja oft gehört, als wie entlastend der erste Lockdown empfunden wurde. Endlich kann man mal wieder dazu, seine Wohnung aufzuräumen oder Bücher zu lesen. Das Bewusstsein, dass hier Freiheitsrechte massiv eingeschränkt werden, war kaum vorhanden. Das ist eigentlich erstaunlich.
Kostner: Ich selbst kann mich auch noch daran erinnern, dass es Menschen gab, die froh waren, dass sie im ersten Lockdown mal zu Dingen gekommen sind, die länger liegen geblieben waren. Die Folgen wurden ausgeblendet. Etwa, was es für Kinder bedeutet, wenn sie längere Zeit in ihrem Bildungserwerb behindert werden. Ich habe beobachtet, dass es gerade unter Akademikern am Anfang so war, dass man sich freute, endlich mal etwas mehr Zeit zu haben. Aber genau zu dem Zeitpunkt ging die Entwicklung ja schon auseinander. Während sich der Akademiker über mehr Freizeit gefreut hat, litt der Gastronom. Doch es fehlte die Empathie, sich in die Menschen, die unter den Maßnahmen gelitten haben, hineinzuversetzen.
Multipolar: Es ist schon verblüffend, wie wenig Bewusstsein es von Anfang an gegeben hat, was denn da eigentlich passiert. Auch die Ministerpräsidentenrunde wurde weithin fraglos akzeptiert. Das wirft die Frage auf, inwieweit die politische Bildung versagt hat.
Kostner: Ich selbst finde besonders frappierend, dass diejenigen, die von den Maßnahmen zunächst überhaupt nicht negativ betroffen waren, die sie vielmehr als Freiraum erlebt haben, gleichzeitig am häufigsten das Wort „Solidarität“ in den Mund genommen haben. Sie haben sich auf der “Seite der Guten“ gefühlt und betont, wie solidarisch sie sich verhalten. Kleiner Exkurs: Ich flog im Februar 2020 nach Sidney und machte mir vorab eine Liste von Themen, über die ich nach meiner Rückkehr schreiben wollte. Auf dieser Liste stand unter anderem “Missbrauch des Solidaritätsbegriffs“. Wie gesagt, das war im Februar 2020. Seitdem ist dieser Begriff noch sehr viel mehr missbraucht worden. Aber zurück zur Frage nach der politischen Bildung. Wenn man sich die politischen Bildungsprogramme der letzten Jahrzehnte anschaut, sieht man eine starke Fokussierung auf das Thema „Demokratie“. Die Grundrechte und damit die individuellen Freiheitsrechte hingegen waren kaum im Blick. In jüngster Zeit bedeutet Politische Bildung vielerorts, Bildung zu „Toleranz“ und „Weltoffenheit“. Es ist eine starke Vereinseitigung festzustellen. Das Wissen fehlt, was Grundrechte sind, und warum wir sie eigentlich haben.
Der Mensch als Gefährder – „ein totalitäres Konzept“
Multipolar: Ich denke auch, dass noch nie so deutlich wurde, wie wenig Grundrechtsbildung es hierzulande gibt. So scheint kaum Wissen darüber zu existieren, dass es sich bei den Grundrechten um Abwehrrechte gegen den Staat handelt.
Kostner: Ja, das stimmt. Vor allem wird nicht wahrgenommen, welche Verschiebungen stattgefunden hat. Diese Verschiebungen kommen aber natürlich auch auf leisen Sohlen daher. Schwierig wird das Ganze dadurch, dass ein und derselbe Begriff etwas völlig Unterschiedliches bedeuten kann. Wie gesagt, ging es auch bei den Corona-Maßnahmen um „Freiheit“. Geäußert wurde, dass die individuelle Freiheit dort endet, wo man einen anderen Menschen gefährdet. Nun wurde aber dieses „Gefährden“ ausgedehnt auf den ganzen Menschen in seiner Existenz. Jeder Mensch atmet ein und atmet aus und hat somit die Fähigkeit, Viren aufzunehmen und Viren abzugeben. Wenn der Mensch aufgrund dieser Fähigkeit als „Gefährder“ angesehen und kontrolliert wird, dann handelt es sich um ein totalitäres Konzept. Denn es hat nichts mehr mit Freiheit zu tun. Wir haben das nicht gemerkt. Ich selbst habe in vielen Gesprächen gehört: Es ist doch richtig, dass man niemand anderen gefährden darf! Nicht reflektiert wurde, was es denn bedeutet, wenn der Mensch qua Menschsein als „Gefährder“ begriffen wird. Hier befinden wir uns auf einer abschüssigen Bahn hin zu einer autoritären Gesellschaft.
Multipolar: Vor allem muss man sich ja vor Augen halten, dass das Virus niemals so gefährlich war, wie sehr lange Zeit behauptet wurde. Interessant ist die Frage, inwieweit dieser Umstand in politischen Kreisen bekannt war.
Kostner: Das ist ein wichtiger Punkt. Man sieht ja, dass es nach wie vor Menschen gibt, die in Angst erstarrt sind. Bei denen scheint sich am Wissensstand in zweieinhalb Jahren nichts verändert zu haben. Sie denken offenbar immer noch, dass es sich um ein super gefährliches Virus handelt. Dabei könnte man schon ziemlich lange wissen, dass das Corona-Virus für den allergrößten Teil der Bevölkerung nie außerordentlich gefährlich war. Daten weltweit zeigen, dass es sogar weniger gefährlich als ein schweres Grippevirus ist. Es gab schon immer Menschen, die an Grippe gestorben sind, und dennoch ist die Gesellschaft damit vergleichsweise entspannt umgegangen. Wobei es inzwischen ja auch Menschen gibt, die sagen, dass die Grippe genauso bekämpft werden muss wie das Corona-Virus. Letztlich ist festzustellen, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod verändert hat. Wir wissen ja, dass die so genannten Corona-Toten sehr häufig ein Alter jenseits der durchschnittlichen Lebenserwartung erreicht haben. Mit oder an Corona sind also in allererster Linie Menschen am Ende ihres Lebens gestorben. In der Corona-Krise wollte man plötzlich wirklich jeden Tod verhindern.
Multipolar: Warum war die Bereitschaft, all die Maßnahmen mitzumachen, im Osten viel weniger stark ausgeprägt als im Westen? Hat das mit der jüngsten Geschichte zu tun?
Kostner: Ich denke, ja. Im Westen muss man relativ alt sein, um sich an einen sich autoritär gebärdenden Staat erinnern zu können. Im Westen fehlen anscheinend die Sensoren, die erkennen, wenn autoritäre Tendenzen aufkommen. In Ostdeutschland haben viele Menschen noch direkt einen autoritären Staat erlebt, deshalb war man wohl deutlich wachsamer und hat früh erkannt, auf welch abschüssige Bahn uns die Pandemiepolitik führt. Ich glaube, dass man im Osten tendenziell auch mutiger ist, eine abweichende Meinung zu äußern. Vielleicht, weil man mehr Menschen um sich herum hat, die das ebenfalls tun. Dadurch kommt es im unmittelbaren Umfeld nicht zu einer derart massiven Stigmatisierung wie im Westen. Das Schwierigste ist immer, eine abweichende Meinung ganz alleine zu äußern.
Multipolar: Lassen Sie uns kurz noch mal zur Wissenschaft kommen. Man hat ja den Eindruck gewinnen können, dass es eine weitestgehend geschlossene wissenschaftliche Phalanx gibt, die die Politik unterstützt. Nun ist aber Wissenschaft nie geschlossen. Wie konnte es dennoch zu diesem Eindruck kommen?
Kostner: Dieser Eindruck trat in der Tat auf bei jenen Wissenschaftlern, die sich in den Mainstream-Medien äußern konnten. Das lag sicher daran, dass der Preis einer abweichenden Äußerung zum Teil sehr hoch war. Wer sich konform geäußert hatte, konnte zum Beispiel mit Forschungsgeldern rechnen. Oder man wurde in ein Expertengremium berufen. Wissenschaftler, die die Maßnahmen kritisiert haben, mussten hingegen, selbst wenn sie sehr gute Fakten hatten, mit einem Reputationsverlust rechnen. Von daher hat man sich natürlich sehr genau überlegt, was man öffentlich äußert. Diejenigen, die abweichende Äußerungen getroffen haben, waren ganz überwiegend bereits emeritiert. Sie mussten weder für sich noch für ihre Mitarbeiter Folgen befürchten. Nicht emeritierte Professoren wären ja von negativen Folgen aufgrund einer öffentlichen Äußerung nicht alleine betroffen gewesen. Wer keine Forschungsgelder mehr bekommt, kann zum Beispiel seine Mitarbeiter nicht weiter beschäftigen. Ein junger Wissenschaftler, der bei jemanden promoviert hat, der sich durch eine abweichende Äußerung hervortat, könnte fortan als „kontaminiert“ gelten. Solche Überlegungen waren sicherlich im Spiel bei jenen Wissenschaftlern, die die Maßnahmen der Politik kritisch gesehen haben, sich dazu aber nicht öffentlich äußerten.
„Wissenschaft lebt vom Zweifeln“
Multipolar: Vor diesem Hintergrund war es leicht, immer wieder von „der“ Wissenschaft zu sprechen.
Kostner: Ja das stimmt. Dabei sollten sofort die Alarmglocken zu schrillen beginnen, wenn von „der“ Wissenschaft die Rede ist. Bei Wissenschaft handelt es sich grundsätzlich um ein lernendes System. Wissenschaft lebt vom Zweifeln. Der aktuelle Wissensstand ist stets nur so lange gültig, solange er nicht widerlegt ist. Kern der Wissenschaft ist schließlich die Diskussion. So kann man bei ein und derselben Studie zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Wenn von „der“ Wissenschaft die Rede ist, hat man es in der Regel mit einer politisierten Wissenschaft zu tun. Sei es, dass sie sich selbst politisiert hat, oder dass sie sich von der Politik instrumentalisieren ließ, weil man sich Reputationsgewinne oder Ressourcen zum Beispiel in Form von Forschungsgeldern erhoffte. Ganz schwierig ist es im Übrigen, wenn man als Wissenschaftler, der eine abweichende Ansicht vertritt, quasi als Feigenblatt in eine Podiumsrunde eingeladen wird, in der man die einzige Person mit dieser Ansicht ist. Viele überlegen sich gut, ob sie sich das antun sollen. Ich bewundere Leute wie Sahra Wagenknecht und Ulrike Guérot, die das eisern tun.
Multipolar: Auch dies ist ja im Grunde kein neues Phänomen. Ich selbst erinnere mich, dass vor über zehn Jahren die ersten Hörsäle nach den jeweiligen Firmen, von denen sie gesponsert wurden, benannt worden sind. Inwieweit sehen Sie denn Forschungsgelder und Drittmittel als Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit an?
Kostner: Ich selbst bin als Geistes- und Sozialwissenschaftlerin hiervon kaum betroffen, weiß aber natürlich, wie problematisch es ist, zum Beispiel gute medizinische Forschung zu machen, denn die ist extrem teuer. Gerade medizinische Forschung ist schon ziemlich lange zu einem größeren Teil auf Drittmittel angewiesen, und diese Drittmittel kommen nicht selten von der Pharmaindustrie. Durch die liberalen Reformen ist in den vergangenen 15 Jahren ist ein weiteres Problem hinzugekommen. Man wollte Wettbewerbselemente in die Hochschulen hineinbringen. In mancher Hinsicht war das schon auch gerechtfertigt, aber das Ganze hatte nicht beabsichtigte Konsequenzen. So wurde die Grundfinanzierung zurückgefahren. Seitdem ist der eigene Status an einer Universität umso höher, umso mehr Drittmittel man einwirbt. Die Drittmittelgeber aus der Pharmaindustrie wurden durch diese Entwicklung für die medizinische Forschung natürlich noch bedeutsamer. Das hat Folgen für die Frage, wozu geforscht wird, und welche Ergebnisse die Forschung hervorbringen soll.
Natürlich betrifft das nicht jeden einzelnen Wissenschaftler. Das hängt vom jeweiligen Charakter ab. Manche spielen mehr mit. Manche weniger. Aber natürlich ist es einfach problematisch, wenn das System insgesamt so funktioniert. Wer nicht mitspielt, kann Forschung womöglich nur noch in einem kleinen Rahmen machen. Ansonsten muss man sich, um überhaupt forschen zu können, auf Financiers einlassen, die selbstverständlich Eigeninteressen haben. Eigentlich wäre Corona eine gute Steilvorlage dafür gewesen, einmal zu diskutieren, inwiefern die Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft womöglich zur Korrumpierung der Wissenschaft führt. Wissenschaft funktioniert dann am besten, wenn das Erkenntnisinteresse im Mittelpunkt steht. Je stärker die Faktoren Geld und Macht ins Spiel kommen, umso weniger ist das System Wissenschaft in der Lage, seine Funktion zu erfüllen. Das wiederum führt zum Vertrauensverlust. Es gab zum Beispiel aus der Wissenschaft so viele unrichtige Aussagen zu dem, was als „Impfung“ deklariert wurde. Also etwa, dass die Impfung sicher und wirksam sei. Die dadurch hervorgerufenen Vertrauensverluste der Bevölkerung in die Wissenschaft und das medizinische System werden ebenfalls nicht thematisiert. Da sind wir dann wieder bei unserem Buch. Es muss unbedingt diskutiert und analysiert werden, was schief gelaufen ist.
Multipolar: Nachdem Sie an dieser Stelle noch einmal auf Ihr Buch zu sprechen kamen, würde ich gerne noch eine Bemerkung zum Titel machen. Warum verwenden Sie den Begriff „Pandemie“? Allein dieser Begriff polarisiert ja. War es jemals wirklich eine „Pandemie“?
Kostner: Wir legen bewusst den Fokus auf die „Pandemiepolitik“. Uns geht es darum, was von verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen als „Pandemie“ gesehen wurde. Das Buch gibt keine Antwort auf die Frage, ob es nun wirklich eine Pandemie war oder nicht. Große Teile von Politik, Gesellschaft und Medien gingen nun mal davon aus, dass es sich um eine Pandemie gehandelt hat.
Verengter Debattenraum
Multipolar: Lange durfte ja allein die Frage, ob es sich um eine Pandemie handelt oder nicht, öffentlich kaum diskutiert werden. Am Begriff „Pandemie“ ist, wie ich denke, sehr gut abzulesen, in welchem Maße sich der Debattenraum verengt hat.
Kostner: Die Politik hat in der Tat irgendwann die Entscheidung getroffen, in dem, was da geschieht, eine Pandemie zu sehen, und dieser Pandemie mit nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zu begegnen. Etwa mit Lockdowns. Nun gab es allerdings sehr früh schon, zum Beispiel aufgrund von Daten von John Ioannidis, Zweifel daran, ob es sich wirklich um ein sehr gefährliches Virus und damit um eine Pandemie handelt. Eigentlich hätte die Politik dann sagen müssen, dass es sich auf Basis vorliegender Daten wohl eher nicht um eine pandemische Bedrohung handelt. Weshalb man die verfügten Maßnahmen nicht weiterführen müsse.
Doch wir haben nun zweieinhalb Jahren intensive Maßnahmenpolitik hinter uns. Wobei ja im medizinischen Bereich bis auf das Puschen der Impfung fast nichts passiert ist. Das ist doch höchst erstaunlich, sollte man doch davon ausgehen, dass man in einer Pandemie das Gesundheitssystem so gut wie nur irgend möglich aufstellt. Man führte hingegen eine Freihaltepauschale für Betten ein, die zum Missbrauch einlud, was dann ja auch der Bundesrechnungshof gerügt hat. Allerdings hat man nichts dafür getan, dass jene Menschen, die wirklich schwer erkrankt sind, und die gab es natürlich, medizinisch bestmöglich versorgt werden konnten.
In anderen Ländern wurden Ivermectin und Hydroxychloroquin eingesetzt. Und zwar mit guten Erfahrungen. Hier hieß es, dass man diese Therapeutika nicht im Off-Label-Use einsetzen dürfe. Das war äußerst fragwürdig, nachdem es ja Ärzte gab, die diese Medikamente etlichen Patienten mit gutem Erfolg verabreicht hatten. Menschen, die nah am Patienten waren und die fachlich verstanden haben, was sie machen, sagten, dass es etwas gibt, was wirkt. Die Frage, warum man es Ärzten dann nicht ermöglicht hat, diese Medikamente zu nutzen, halte ich ebenfalls für ein wichtiges Thema der Aufarbeitung. Wer ist verantwortlich dafür, dass die Politik so gehandelt hat? Das zu wissen, wäre doch sehr wichtig vor allem mit Blick darauf, dass einmal eine Pandemie kommen könnte, die diesen Namen auch verdient. Solche Fehler dürfen nicht noch einmal gemacht werden.
Missbrauch des Begriffs „Solidarität“
Multipolar: Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz darauf zu sprechen kommen, dass Sie bereits an einem neuen Buchprojekt arbeiten. Dabei soll es um den Ukraine-Krieg gehen. Dieses Buch soll im Winter erscheinen?
Kostner: Das war ursprünglich so geplant gewesen, aber nun wird es doch Frühjahr 2023 werden. Ich mache das zusammen mit einem befreundeten Politikwissenschaftler, Stefan Luft. Wir haben sehr bald nach Beginn des Krieges begonnen, über die Hintergründe, die Vorgeschichte, die Ziele Russlands und den geopolitischen Kontext zu sprechen. Uns ist beiden schnell aufgefallen, dass die Presse wiederum von Anfang an sehr einseitig berichtet hat. Auch der Umgang mit Andersdenkenden war wieder genauso, wie während der Corona-Krise. Abweichende Argumente und andere Perspektiven werden wieder sofort diskreditiert. Der Debattenraum wurde also abermals geschlossen, was ein Zeichen dafür ist, dass es wieder um starke politische Interessen geht. Das führt neuerlich weg von den Grundlagen der liberalen Verfasstheit unseres Gemeinwesens.
An dieser Stelle heißt es dann immer, dass doch in Deutschland jeder sagen kann, was er möchte. Natürlich wird man für eine abweichende Meinung hierzulande nicht verhaftet. Doch wer bestimmte Argumente einbringt, kann in ein äußerst diskreditierendes Licht gerückt werden, und zahlt damit für seine Äußerung einen sehr hohen sozialen Preis. In der Corona-Krise war man ein Covidiot, nun ist man ein Putintroll. Vielen ist dieser Preis zu hoch, weshalb sie sich aus der Debatte zurückziehen. Darum laufen schon wieder die öffentliche und die veröffentlichte Meinung immer weiter auseinander. Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschieden, möglichst zeitnah eine wissenschaftliche Analyse vorzulegen, was angesichts der dynamischen Prozesse zugegeben schwierig ist. Dennoch wollen wir die Herausforderung annehmen, zeitnah möglichst gute Analysen zu den Hintergründen und zur Vorgeschichte des Krieges sowie zu möglichen Folgen vorzulegen. Übrigens wird es auch in diesem Buch um den Missbrauch des Begriffs „Solidarität“ gehen. Wie man während der Corona-Krise gegenüber den vulnerablen Gruppen solidarisch zu sein hatte, soll man nun gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern solidarisch sein.
Multipolar: Interessant ist, dass man im Vergleich der Corona-Krise mit der Ukraine-Krise auf ähnliche Muster stößt.
Kostner: Ja, und zwar bis hin zu der Tatsache an, dass wieder einmal maximale Ziele verfolgt werden. Bei Corona wollte man das Virus komplett besiegen, was von Anfang an ein völlig irreales Ziel war. Im Fall der Ukraine geht es nun darum, die territoriale Integrität wiederherzustellen, logischerweise verbunden mit der absoluten Niederlage Russlands. Schon bei der Corona-Krise wurden ja die Folgen dieser Politik der maximalen Ziele von Anfang an nicht in den Blick genommen. Nun habe ich den Eindruck, dass man die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation ausblendet, weil man hofft, es wird schon alles gut gehen. Initiativen, die auf einen Verhandlungsfrieden abzielen, sind nicht zu sehen. Es heißt an dieser Stelle meist, Putin wolle nicht verhandeln. Doch ich denke angesichts der Verwüstungen und all der Toten, die die Politik der maximalen Ziele zur Folge haben wird, dass man mit aller Kraft versuchen sollte, Verhandlungen zu führen. Auch wenn man erst mal nicht weiß, ob das erfolgreich sein wird. Für mich war es im Übrigen erschreckend, dass Leute wie Alice Schwarzer, die sich für eine Verhandlungslösung stark gemacht haben, quasi als verwerfliche Menschen diskreditiert wurden.
Sandra Kostner, Tanya Lieske, Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?, Ibidem Verlag, 210 Seiten, 24 Euro
Über die Interviewpartnerin: Dr. Sandra Kostner ist Historikerin und Soziologin. Seit 2010 ist sie als Migrationsforscherin und Geschäftsführerin des Masterstudiengangs Interkulturalität und Integration an der PH Schwäbisch Gmünd tätig.
Über die Interviewerin: Jana Kerac ist ein Pseudonym. Die Autorin ist seit 30 Jahren publizistisch tätig. Sie lebt und arbeitet zum Teil in Deutschland und zum Teil in Finnland.
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