Der Ukraine-Krieg im Lichte des Völkerrechts
RUDOLF BRANDNER, 5. November 2022, 4 Kommentare, PDFDer Westen verurteilt die russische Intervention in der Ukraine einhellig als Völkerrechtsbruch: Verletzt würden die beiden grundlegenden Prinzipien des in der UN-Charta festgeschriebenen Völkerrechts – Territoriale Integrität und Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dies ist, so allgemein formuliert, auch korrekt: So wie der Einmarsch auf ukrainisches Staatsgebiet deren territoriale Integrität verletzt, so wird auch das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer, das ihnen freistellt, ob sie zu EU/NATO oder eher zur GUS gehören wollen, durch Russland nicht anerkannt.
Die Verletzung des Völkerrechts ist eine gängige Praxis der Machtpolitik, vor allem der Großmächte, so daß die realgeschichtliche Dynamik seine Normativität immer wieder aufhebt. (1) Um aber nicht dem fatalen Zug zu folgen, solche Verletzungen gegeneinander aufzuwiegen und damit wechselseitig zu legitimieren, empfiehlt sich, erst einmal nachzufragen, wie es mit diesen Prinzipien des Völkerrechts steht.
I. Die zwei Prinzipien des Völkerrechts
„Territoriale Integrität“ ist ein konservatives Prinzip der Bewahrung des Status quo staatlich geeinter Territorien und steht damit gegen den Krieg als gewaltsamer Aneignung anderer Staatsgebiete. Aber außer Acht bleibt, wie denn das Territorium eines Staates selbst geschichtlich zustande kam: Abstrahiert wird von den geschichtlichen Bedingungen, unter denen der aktuelle Status quo staatlichen Territorialbesitzes erzeugt wurde.
Auch im Prinzip der „Selbstbestimmung der Völker“ wird davon abstrahiert, was überhaupt als „Volk“ gilt, unter welchen Bedingungen und zu welcher – vielleicht auch nur folkloristischen – „Selbstbestimmung“ es legitimiert ist. Wo verschiedene „Völker“ (sprachlich-kulturell/religiös geeinte Ethnien) ein Staatsgebiet ausmachen, mag das „Selbstbestimmungsrecht“ als „Sezessionsrecht“ gegen die territoriale Integrität des Staates geltend gemacht werden, zu Bürgerkrieg und gewaltsamer Abspaltung eines neuen Staatsgebietes führen.
Damit enthält das Völkerrecht in seinen Grundintentionen: Frieden und Freiheit, selbst schon jene explosive Spannung, die in geschichtliche Gewalt ausbrechen kann. Es setzt im Prinzip „Territorialer Integrität“ den Staat, im Prinzip der „Selbstbestimmung“ das Volk als maßgebliches Rechtssubjekt; jenes ist ein politisches Macht-, dieses aber ein ethisches Freiheitsprinzip. Beide gehen nicht deckungsgleich ineinander auf, sondern im Gegenteil, widersprechen sich oftmals und drohen damit, das ganze Völkerrecht aufzuheben.
Macht es die Differenz der Prinzipien unmöglich, das Völkerrecht als einfachen Maßstab friedlicher Koexistenz anzuwenden, muß ihre Gleichwertigkeit aufgehoben, dem einen der Primat vor dem anderen eingeräumt werden: Welches Prinzip behauptet dann den Vorrang vor dem anderen?- Das politische Machtprinzip. Denn allein dieses ist rechtssetzend und staatsgründend; und kein Staat wird seine Machtminderung durch Sezession so ohne weiteres hinnehmen.
Dies ließe sich mühelos an der neuzeitlichen Staatenbildung Europas durchdeklinieren, selbst über den Versailler Vertrag hinaus bis in die Neuordnung der staatlichen Territorien nach 1945. Die realgeschichtliche Anschaulichkeit dieser Sachlage bietet aber schon der grobe Blick auf die afrikanische und nahöstliche Staatenwelt, die von den ehemaligen Kolonialmächten nach ihren eigenen, rein geostrategischen Macht- und Herrschaftsinteressen gebildet wurde. Ganz verschiedenen Ethnien werden einem europäischen Staatsbegriff zwecks „nation building“ unterworfen, „um die oft willkürlichen Grenzziehungen durch die Kolonialmächte durch Identitätsbildung nachträglich zu rechtfertigen“. (2)
Das maßgebliche Rechtssubjekt ist nicht das Volk, sondern das zum „Staat“ ernannte (post-) koloniale Herrschaftsgebilde, das nach dem völkerrechtlich angewandten „uti possidetis Prinzip“ (3) alles im Krieg durch Gewalt und Unrecht Erworbene als rechtmäßiges Eigentum festschreibt: De facto Grenzen werden als de iure Grenzen zu Unverletzlichkeiten erklärt. Die Sakralisierung faktischer Machtgebilde lebt von der Negation der freien Selbstbestimmung geschichtlicher Gemeinschaften. So in der afrikanischen Menschenrechtserklärung von Banyul: „Willkürliche, Stammeskulturen schematisch zerreißende Grenzziehungen sollen auf keinen Fall angetastet werden (uti possidetis-Doktrin), um neuerliche Auseinandersetzungen und den möglichen Zerfall junger afrikanischer Staaten zu verhindern“. (4)
Das politische Machtprinzip behauptet den Vorrang vor dem ethischen Freiheitsprinzip – ohne jede Rücksicht auf die kulturellen Ethnien, die zu einem Zwangstaat zusammengepfercht werden, den sie gemeinsam tragen sollen – aber aufgrund ihrer kulturell-ethnischen Differenzen nicht können. So bricht das konstruierte Kunstgebilde „Staat“ in einander bekämpfende Clanherrschaften und Bürgerkriege auseinander – und zwar unter dem Schutz der verhängnisvollen Menschenrechtserklärung von Banyul, die unter Berufung auf das „uti possidetis“-Prinzip eine Revision der kolonialstaatlichen Grenzziehungen untersagt: Die gewaltsame Unterdrückung von Unabhängigkeitsbestrebungen wird als Staatsräson legitimiert, um partikularistische Fliehkräfte einzelner Bevölkerungsgruppen zu bannen, deren Legitimität zur Sezession auch fragwürdig sein kann – siehe Katalonien oder Schottland.
Bedroht das Selbstbestimmungsrecht den Staat mit anarchischem Zerfall, so bedroht umgekehrt die Unverletzlichkeit der staatlichen Einheit die Autonomie ethnischer Kulturen. Das politische Machtprinzip „territorialer Integrität“, das die friedliche Koexistenz von Staaten gewährleisten soll, verkehrt sich am ethischen Freiheitsprinzip kulturell-ethnischer Selbstbestimmung zur Quelle realgeschichtlicher Gewalt. Das „Sezessionsrecht“ bleibt eine Sache machtpolitischer Durchsetzbarkeit, das post factum anerkannt, nicht aber auf Grundlagen des Völkerrechts entschieden wird. Wer würde heute noch vom Selbstbestimmungsrecht der Kurden sprechen?- Ganz zu schweigen von den Tibetern, deren „territoriale Integrität“ längst an die des sie erobernden Staates, China, übergegangen ist, damit aber jedes tibetische Selbstbestimmungsrecht staatsrechtlich kriminalisiert und der legalen Verfolgung aussetzt. (5)
Die Beispiele ließen sich vervielfachen: Weil das ethische Freiheitsprinzip immer abhängig ist von seiner Durchsetzungsmacht, bleibt es eine unselbständige Intention, die dem politischen Machtprinzip von Staaten untergeordnet ist und das Völkerrecht selbst der realgeschichtlichen Dynamik von Machtverhältnissen unterwirft. So folgt auch die Auslegung des Völkerrechts immer politischen Machtinteressen – und nicht einem auf Freiheit gegründeten moralischen Gerechtigkeitsbegriff, dem das Machtprinzip dann per se für „unmoralisch“ gilt.
Das ist es nicht: Es ist nicht „un-“, sondern „außermoralisch“, insofern es die realgeschichtliche Grundlage darstellt, die alle Moral als gesellschaftliche Rechtsordnung menschlicher Freiheit allerdings ermöglicht, ihr also immer schon zugrundeliegt. Macht- und Freiheitsprinzip widersprechen einander nicht: Denn Macht als elementare Grundbedingung allen Lebens, sich gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen, ist selbst der grundlegende Freiheitsbegriff des Politischen und gehört zu seinem Wesen. Macht befreit von aller Not und ermöglicht allererst die freie Selbstbestimmung seiner Bevölkerung. Jede menschliche Gemeinschaft beruht so auf der Befähigung, sich von allen inneren und äußeren Gefährdungen ihrer Existenz zu befreien; und es ist diese Daseinsmächtigkeit, die alle menschlichen Gemeinschaften in ihrer politischen Verfassung und moralischen Rechtsordnung als Bedingung ihrer Möglichkeit institutionalisieren. Damit wird die Moral selbst zu einem Machtfaktor des Politischen, an dem sich eine menschliche Gemeinschaft ihrer Daseinsmächtigkeit vergewissert – der Selbstbejahung ihres „Heils“. Was voraussetzt, daß sie überhaupt ein aus ihrer Lebenswirklichkeit heraus gewachsenes Gemeinschaftsbewußtsein ausgebildet – sich also als „ein Volk“ konstituiert – hat. Unter diesen Bedingungen gibt es keinen Widerstreit von Macht- und Freiheitsprinzip: Macht als Freiheitsbegriff des Politischen fällt mit dem ethischen Freiheitsbegriff der Selbstbestimmung des Volkes zusammen.
Erst die politische Staatenbildung, die als wechselseitige Übermächtigung menschlicher Gemeinschaften zum Zuge kommt, dissoziiert das eine vom anderen, indem sie das neue, vom Volk unterschiedene Rechtssubjekt „Staat“ erzeugt: Mit dem Staat wird die Macht als Rechtsordnung begründet und zu Herrschaftsformen institutionalisiert. Das „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“ gehört nun einzig und allein der Staatsmacht als rechtsetzender Gewalt an, die auch darüber entscheidet, worin und wozu dieses Selbstbestimmungsrecht besteht. Einer übermächtigten Minderheit mag man ihre Folklore, notfalls auch ihre Götter gönnen – nicht aber die Teilhabe an der staatlichen Macht.
Die institutionalisierte Staatsmacht bestimmt nun selbst, wie das Freiheitsprinzip der Selbstbestimmung zu verstehen und zu praktizieren sei. Denn der Staat selbst gründet in einem Freiheitsverständnis, das sich in seiner Verfassung und Rechtsordnung objektiviert. So beruht das moderne Völkerrecht auf einem europäischen Freiheitsverständnis, der seinen Staatsbegriff auf die postkoloniale Staatenordnung anwendet und weltweit exportiert, um ihm alle menschlichen Gemeinschaften zu unterwerfen – dem der Demokratie. Ausgeschlossen wird das Recht eines Volkes, sich zu einer theo- oder autokratischen Verfassung zu bestimmen, etwa einem Scharia- oder Ein-Parteien-Staat.
Die Aporetik läßt sich an der postkolonialen Staatenbildung selbst verfolgen. So erfolgte die Dreieilung Indiens durch die britische Kolonialmacht unter Verletzung seiner jahrtausendealten territorialen Integrität zwar dem Prinzip religiöser Selbstbestimmung (Muslime - Hindus); aber um den Preis, daß diese nicht nur die internen Konflikte der Ordnungsmacht einer einheitlichen Rechtsordnung eines Staates entzog und zu zwischenstaatlichen Kriegen veräußerte; sondern mit der muslimischen Staatsbildung auch die institutionelle Rechtsordnung der Scharia legitimierte, die dem westlichen Staatskonzept und seinem ethischen Freiheitsprinzip schlechthin entgegengesetzt ist. Das Recht auf Selbstbestimmung soll also auch inhaltlich in einer bestimmten Staatsform realisiert werden, die mitunter seine ethisch-religiös fundierte kollektive Daseinsmächtigkeit aushöhlt und untergräbt: also auf politische Übermächtigung durch die völkerrechtlichen Autoritäten (Autoren) verweist.
In einer faktisch festgefügten Staatenwelt kommt das Selbstbestimmungsrecht politisch also nur im Gegensatz von staatlichem Selbstbehauptungsrecht und Sezessionsrecht zur Geltung. Das Sezesionsrecht aber untersteht wiederum dem Machtprinzip seiner praktischen Durchsetzbarkeit, der dann meist auch seine (völkerrechtliche) „Legitimierung“ folgt. Politisch gilt: „Auctoritas, non veritas facit legem“ (Hobbes) - „Herrschaft, nicht Wahrheit macht das Gesetz“. Nach ihm wird Recht und Unrecht beurteilt, was immer das einzelne, ethisch-moralische Gerechtigkeitsempfinden meinen mag. Es wird sich letztlich doch nach der Seite der Siegreichen biegen; und so wird auch, was in der Ukraine Krise Recht und was Unrecht ist, nun auf dem Schlachtfeld entschieden. (6)
II. Verletzt Russland das Völkerrecht?
Dennoch bleibt die völkerrechtliche Frage für das Selbstverständnis der agierenden Kriegsparteien vor allem im Hinblick auf ein mögliches Friedensabkommen von großer Relevanz. Infrage steht dabei einzig und allein das Sezessionsrecht ukrainischer Teilgebiete; nur dies entscheidet, ob Russland in der Ukraine das Völkerrecht verletzt. David C. Hendrickson, emeritierter Professor der Politikwissenschaft am „Colorado College“ und Präsident der „John Quincy Adams Society“, hat nun in einem längeren Essay die Völkerrechtsfrage eindeutig zugunsten des Selbstbestimmungsrechts der russischen Bevölkerung der Ukraine entschieden: Er plädiert für das Sezessionsrecht von Krim und Donbass und damit für das Recht Russlands, diese Gebiete in sein Staatsgebiet aufzunehmen und auch entsprechend gegen die Aggression der Kiewer Zentralregierung zu verteidigen. (7) Zeichnen wir seine Argumentation in groben Zügen nach.
Die sowjetische Verfassung kannte das Recht auf Sezession, das mit dem Zerfall der Sowjetunion auch von Russland als das Selbstbestimmungsrecht seiner Regionen anerkannt wurde. Nur waren diese keine in einem ethnisch-kulturellen Volkssubjekt geeinten Nationalstaaten, die sich zur Sowjetunion als Bundesstaat vereinigt hätten, sondern reine Verwaltungseinheiten eines multinationalen Staates mit internationaler Ausrichtung, der die Vielzahl seiner verschiedenen, bunt durchmischten sprachlich-religiösen Ethnien nur poltisch einte, in ihrer kulturellen Eigenheit aber anerkannte und auch förderte. (8)
Der Zerfall der Sowjetunion mußte deshalb dazu führen, daß in den ehemaligen Verwaltungsgebieten, die sich nun als Nationalstaaten formieren sollten, die Suche nach einer nationalen Identität aufbrach. In den ehemaligen Khanaten der südrussisch-asiatischen Region hatte diese kaum einen geschichtlichen Rückhalt, während das Baltikum auf eine solche zurückgreifen konnte. Anders verlief die nationalstaatliche Abgrenzung in den Kaukasus-Regionen und nicht zuletzt, aufgrund der engen ethnischen wie sprachlich-kulturellen Verwandtschaft, in Weißrussland und der Ukraine.
Obwohl auch Putin deren Sezessionsrecht und damit ihre nationale Autonomie anerkannte, bleibt seine Erinnerung von erheblichem völkerrechtlichen Gewicht, daß die Ukraine nicht mehr Territorium aus der Union mitnehmen durfte als sie bei der Aufnahme in die UdSSR eingebracht hatte. Dies betrifft in erster Linie die Krim, die Chruschtschow 1954 der Ukraine aus rein verwaltungstechnischen Gründen überschrieb, da deren Wasserversorgung von der Ukraine abhängt. Die Krim hätte also schon 1990 wieder an Russland zurückgegeben werden müssen; und von einer völkerrechtswidrigen „Annexion“ der Krim, wie die westliche Sprachregelung lautet, könnte keine Rede sein. (9)
Putins Verweis birgt aber noch andere Untiefen, insofern der aus der Sowjetunion entlassene und zum Staatsterritorium erhobene Verwaltungsbezirk Ukraine eine multikulturelle „Ansammlung von Regionen“ (so kürzlich Henry Kissínger) darstellt, zu denen nicht zuletzt auch das durch den Hitler-Stalin Pakt der Ukraine zugeschlagene Ostpolen gehört. Auch dieses hätte die Ukraine dann – aber an wen? – zurückzugeben. Vermutlich ist die vehemente antirussische Parteiergreifung Polens für die Ukraine auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Selensky selbst sah sich sicher nicht von ohngefähr dazu veranlaßt, den Polen generell die unumschränkten ukrainischen Bürgerrechte zuzuerkennen, wodurch sie auch Zugang zu allen führenden Staatsämtern inklusive der Präsidentschaft über die Ukraine erhielten.
Die staatliche Einheit qua territoriale Integrität der Ukraine ist ein durchaus fragwürdiges geschichtliches Gebilde, dem trotz nationalistischer Bewegungen im Gefolge eines erklärten Nazis (Stepan Bandera) jede Fundierung in einem nationalstaatlichen Gemeinschaftsbewußtsein fehlt. (10) Das spiegelt sich auch an ihrer inneren, rechtsstaatlich defizitären Verfassung wider, von Korruption, Oligarchenherrschaft und Unterdrückung von Minderheiten – bis hin zum Bürgerkrieg. Nach gängiger US-amerikanischer Redensart wäre die Ukraine also ein „failed state“.
Der Westen, so der entscheidende Vorwurf Hendricksons, berufe sich nun ganz einseitig auf eine fragwürdige territoriale Integrität und überblende dabei das andere, ihr vorgeordnete Prinzip des Völkerrechts: das Selbstbestimmungsrecht. (11) Der Westen reduziere dies auf das souveräne Recht des Staates, seine Bündniszugehörigkeit (EU-NATO oder GUS) frei bestimmen zu können. Dieses aber wird schon durch das Istanbuler Abkommen von 1999 begrenzt, wonach solche Bündnisse nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten abgeschlossen werden dürfen. Es abstrahiere zugleich von dem maßgeblichen Rechtssubjekt der Selbstbestimmung (Volk), das in multiethnischen Gesellschaften wie der Ukraine mit einem erheblich Anteil an ethnisch-kulturellen Russen nicht mit dem Staat zusammenfalle:
„Weder die Ukraine – Kiev – noch die Vereinigten Staaten anerkannten das Prinzip der Selbstbestimmung für die Russophilen in der Ukraine“.
Entscheidend bleibt für Hendrickson, daß mit dem westlich initiierten Maidan-Putsch und der verfassungswidrigen Installation einer pro-westlichen Regierung die Verfassungstreue der einzelnen Landesteile aufgehoben war. (12) Genau damit würde nun das Selbstbestimmungsrecht als das Recht auf „Sezession“ wirksam: Es ist das Recht der russischstämmigen Menschen, von einer solchen durch Putsch an die Macht gekommene Kiewer Regierung nicht mehr regiert werden zu wollen:
„Hatten sie das Recht, dies zu tun? Die Logik des Gesetzes diktiert, dass sie es hatten. Dieses Recht war durch die vorherige Aufhebung der Verfassung auf sie übergegangen“.
Es ist also der unstrittige Verfassungsbruch des Maidan-Putsches, der dem völkerrechtlichen Prinzip der Selbstbestimmung den Primat über die territoriale Integrität verleihe und die Referenden (Krim/Donbass) legitimiere. Sie seien zwar nach der ukrainischen Verfassung verfassungswidrig; aber rechtmäßig, weil eben diese Verfassung selbst keine Gültigkeit mehr hatte. Indem die Zentralregierung damit das Land in einen Bürgerkrieg stürzte und die sezessionsbereiten Gebiete mit rassistischer Diskriminierung, kultureller Unterdrückung, Gewalt und Krieg überzog - mit offiziell laut UN etwa 14.000 Toten, kann von einem Recht territorialer Integrität keine Rede mehr sein, da sie von der Regierung selbst aufgehoben und der diesbezügliche Versuch (Minsk II) von der Ukraine und dem Westen selbst bokottiert wurde.
Bekanntlich war Minsk II der Versuch, die territoriale Integrität der Ukraine unter den Bedingungen eines föderalen Selbstbestimmungsrechts des russisch-sprachigen Donbass zu wahren. Bekanntlich wurde dieser Versuch von Russland gefördert, von Kiev und dem Westen aber boykottiert:
„Die Vereinigten Staaten haben sich in erster Linie schuldig gemacht – insbesondere durch die skandalöse Unterstützung einer verfassungswidrigen Revolution in der Ukraine im Jahr 2014 und dann dadurch, dass sie als Basis für Friedensverhandlungen nicht akzeptierten, dass sowohl die Krim als auch der Donbass ein Mitspracherecht zu ihrem eigenen Schicksal haben sollten“.
Die Anklage gegen Russlands Verletzung des völkerrechtlichen Prinzips territorialer Integrität sei gerade seitens der USA und ihrer jahrzehntelangen Interventionspolitik heuchlerisch und delegitimiere sich selbst. Denn nach dem alten Rechtsgrundsatz des „tu quoque“ (Du auch!) ist keiner zum Richteramt über Vergehen befugt, derer er selbst schuldig wurde.
Willkürlich sei auch die US-amerikanische Position zum Sezessionsrecht, das „im Kosovo und im Südsudan“ befürwortet, in der Ukraine aber ohne jegliche Begründung abgelehnt wurde. (13) Die USA hätten an die Stelle des von der UN-Charta verbrieften Völkerrechts ein neues, allein für sie reserviertes Interventionsrecht gesetzt. Um die friedliche Koexistenz der Staaten zu garantieren, sei es aber nun unabdingbar, zur UN-Charta zurückzukehren: zum „Recht, das allen Völkern der Erde gleiche Rechte zugesteht“.
Realpolitisch gesehen klingt dies naiv – und ist es auch. Die Normativität des Völkerrechts ist eine Frage der Macht – und keine des Rechts. Die Macht aber ist auch die von ethischen Gemeinschaften, die sich nicht gegen ihr geschichtliches Selbstbewußtsein in eine staatliche Rechtsgemeinschaft pressen lassen, die auf ihre rechtliche und ethnische Diskriminierung – wenn nicht ihre Vernichtung – aus ist. Wie sollten auch die ukrainischen Russen noch ein affirmatives Verhältnis zum ukrainischen Staate haben, von dessen Zentralregierung sie acht Jahre lang bombardiert, diskriminiert und um ihre Identitätsrechte gebracht wurden? Daß sie die Aufnahme ins russische Staatsgebiet als ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen und als Befreiung erfahren, sollte nicht verwundern. Es ist Kiev selbst, das nach jahrzehntelangem Unvermögen, ein nationalstaatlich geeintes Gemeinschaftsbewußtsein hervorzubilden, die territoriale, das heißt rechtsstaatliche Einheit der Ukraine zerstört hat.
Über den Autor: Rudolf Brandner, Jahrgang 1955, ist Philosoph. Nach dem Studium der Philosophie, Psychologie und Indologie in Freiburg, Paris-Sorbonne und Heidelberg promovierte er 1988 über Aristoteles. 1993 folgte eine Habilitationsarbeit zum philosophischen Begriff der Geschichtlichkeit. Nach umfassender Lehrtätigkeit im deutschsprachigen Bereich und zahlreichen Gastprofessuren in Frankreich, Italien und Indien zog er sich seit 2000 von der akademischen Lehrtätigkeit zurück in die philosophische Grundlagenforschung. Zuletzt erschien sein Buch Die Ideologie der Menschenrechte und das Ethos des Menschseins.
Weitere Artikel zum Thema:
- Ein durchtrenntes Europa (Ulrike Guérot und Hauke Ritz, 25.10.2022)
- Völkerrecht: Zur Doppelmoral des Westens (Kai Ambos, 17.10.2022)
- Massenformierung des Weltbewusstseins (Hauke Ritz, 18.7.2022)
- Krieg in der Ukraine – Schwarze Tage Europas (Redaktion, 27.2.2022)
- Der Gleichklang und das Narrativ – Wie Medien Auslandskonflikte strukturieren. Das Beispiel Maidan (Stefan Korinth, 14.5.2021)
Leseempfehlung:
Weiterer Artikel von Rudolf Brandner:
- In der NATO-Falle (Rubikon, 10.11.2022) – Auszug: „Vom Ende her gedacht stehen wir am Anfang einer Revolution, die über die geschichtliche Existenz Europas entscheiden wird; und es liegt auf der Hand, dass eine europäische Friedensordnung mit Russland überhaupt nur möglich werden wird, wenn das durch den Westen zerbrochene Vertrauen durch eine gänzlich erneuerte politische und mediale Führungsschicht auf einer neuen Grundlage wieder hergestellt wird.“
Anmerkungen
(1) Vgl. den entsprechenden Wikipedia-Artikel: „Der Rechtscharakter des Völkerrechts wurde und wird von zahlreichen Autoren bestritten“. Sicher nicht zufällig „bestreiten vor allem einige US-amerikanische Autoren die Normativität des Völkerrechts und sprechen ihm die Eigenschaft ab, auf das Verhalten von Staaten einwirken zu können“. Es diene durch die Dominanz westlicher Institutionen und ihr Auslegungsmonopol v.a. der „Verbrämung hegemonialer Machtpolitik“. Vgl. auch Kai Ambos, Doppelmoral (Frankfurt a.M. 2022)
(2) Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Einführung von Eibe Riedel. Bundeszentrale für politische Bildung. Dritte, erw. Aufl. Bonn 1999, S. 34
(3) „So wie ihr besitzt, möget ihr auch besitzen“ (Uti possidetis, ita possideatis).
(4) a.a.O., ebd.
(5) Ganz anders dagegen müßte die rein politisch motivierte Sezession Taiwans ganz zu Recht als Verletzung der territorialen Integrität Chinas, und damit als völkerrechtlich illegitim beurteilt werden, wie es schon die US-amerikanische Administration unter Nixon/Kissinger (1971) mit der „One China-Politik“ gehandhabt und Taiwan jede staatsrechtliche Anerkennung verweigert hatte. Die auch gewaltsame Wiedervereinigung Taiwans mit Festland-China wäre also selbst aus westlicher Sicht völkerrechtlich legitim, und keine Verletzung der territorialen Integrität Taiwans.
(6) Im Kontext des Völkerrechts wird immer wieder zu Recht der Vorwurf der „Doppelmoral“ erhoben. Woher aber die „Doppelmoral“?- Sie gründet in der elementaren, für alle menschlichen Gemeinschaften konstitutiven Unterscheidung von „Binnen-“ und „Außenmoral“, d.h. der Verhaltensregeln, die für die eigene Gemeinschaft gelten und nach der andere beurteilt werden. Woher aber wiederum diese Unterscheidung?- Aus dem Machtprinzip – der Selbstermächtigung einer Gemeinschaft gegen andere, sich selbst ihre Verhaltensregeln zu geben und daran ihre existentielle Selbstbejahung: ihr „Heil“ - zu finden. Sie muß deshalb anderen, entgegengesetzten Gemeinschaften abgesprochen werden, da diese dem eigenen Dasein und Heil zuwiderlaufen. Der Vorwurf, als könne es überhaupt anders sein, ist also realgeschichtlich nichtig; er schöpft sein Recht nur aus der irrealen Sphäre abstrakt-universalistischer Intentionen, die an der Realität scheitern.
(7) David C. Hendrickson, Die Abspaltung des Donbass von der Ukraine war kein Verstoss gegen das Völkerrecht. Alle Zitate nach der Übersetzung auf globalbridge.ch, dort auch Referenz auf den englischen Originaltext
(8) Vgl. dazu den lehrreichen Artikel von Thomas Kunze und Thomas Vogel von 2011
(9) Dies gilt auch für die vier nun nach dem Sezessionsrecht und per Referenden Russland beigetretenen Regionen (Doneszk, Luhansk, Saparischja, Cherson): auch sie gehörten ursprünglich zu Russland und wurden erst 1922 von Lenin der Ukraine zugeschlagen.
(10) Man betrachte dazu die offizielle Wahlkarte 2012, die in aller Deutlichkeit die Landesteilung in pro-westlich und pro-russisch abbildet. Von einer völkerrechtlich gewaltsamen „Invasion“ der Ukraine kann dann keine Rede mehr sein, wenn die sich verfassungsrechtlich als autonom erklärten Donbass Republiken Russland um Schutz vor der Bombardierung durch die Zentralregierung bitten. Man vergleiche den Fall Yugoslawien/Kosovo.
(11) „Das Selbstbestimmungsrecht ist das übergeordnete Prinzip gegenüber der territorialen Integrität, weil es jedem Volk gleiche Rechte einräumt in der grundlegenden Frage, wer es regieren soll“. Das aber ist universalistisch, nicht realpolitisch gedacht.
(12) Hendrickson: „Richtig ist auch, dass die Maidan-Revolutionäre mit Unterstützung des Westens die Macht übernommen haben. Zwei Wochen vor dem Sturz Janukowitschs hatte die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland bereits das Kabinett ausgewählt, das dessen Nachfolge antreten sollte“.
(13) Russland bezieht sich völkerrechtlich selbst auf die völkerrechtswidrige Intervention der NATO in Yugoslawien und die Sezession des Kosovo, dessen Unabhängigkeitserklärung vom Internationalen Gerichtshof für rechtswirksam erklärt wurde (IGH, 22/7/2010). Warum sollte es sich im Falle der Krim (et al.) anders verhalten?
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