Massenformierung des Weltbewusstseins
PAUL SCHREYER, 18. Juli 2022, 7 Kommentare, PDFMultipolar: Herr Ritz, Sie haben von Februar bis Juni dieses Jahres in Moskau gelebt und dort an der Universität unterrichtet. Können Sie zunächst kurz beschreiben, wie die Atmosphäre in der Stadt war? Haben Sie Feindseligkeit erlebt?
Ritz: Als es losging, als der Krieg Wirklichkeit wurde, da hatte ich natürlich am Anfang durchaus Sorge, dass ich von einigen Russen diskriminiert werden könnte. Deshalb fühlte ich mich am Anfang etwas unsicher. Das ist ja nicht leicht, als Ausländer in einem anderen Land zu sein, das sich dann in einem Konflikt mit dem eigenen Heimatland befindet. Ich muss aber sagen, dass ich erstaunlich positiv überrascht wurde, dass, egal wo ich war – im Restaurant, in der U-Bahn, im Supermarkt – überall hatte sich an der Haltung der Menschen zu westlichen Ausländern überhaupt nichts geändert. Sie waren genauso freundlich und lächelten genauso oft, wie ich es von der Zeit vor dem Krieg gewohnt war. Auch als der Krieg fortschritt und immer deutlicher wurde, dass westliche Länder Waffen liefern, änderte sich an dieser Haltung nichts. Ich würde sagen, dass die russische Gesellschaft die Fähigkeit hat, die Wahrheit aus dem Kontext zu schließen und nicht dazu zu tendieren – was, glaube ich, in protestantischen Ländern wie den USA aber auch Deutschland sehr verbreitet ist –, immer abstrakt auf die Welt zuzugreifen und dann auch schnell eine abstrakte Kategorie für verschiedene Gruppen und Parteien aufzumachen, in der dann ein Land oder eine ganze Bevölkerung eingeordnet wird. Von daher bin ich positiv überrascht von der Toleranz und der Offenheit, mit der man immer noch westlichen Ausländern begegnet.
Multipolar: Die Menschen, mit denen Sie in Moskau in Verbindung stehen und die Sie trafen, wie schauen die auf den Krieg in der Ukraine?
Ritz: Dieser Blick ist natürlich verschieden. Die russische Gesellschaft besteht aus verschiedenen Schichten und Gruppen, wie jede andere Gesellschaft auch, und da gibt es sozusagen unterschiedliche Abstufungen der Sorge. Anfangs waren alle ein wenig schockiert von der Plötzlichkeit, mit der das alles passiert ist. Alle haben sich ungefähr so gefühlt, dass sie nicht vorbereitet gewesen sind. Manche machten sich große Sorgen, dass Russland sich überhoben haben könnte, dass es nicht stark genug sein könnte für so eine große Operation. Viele waren überhaupt darüber erschrocken, dass Russen und Ukrainer – die ja eine ähnliche Kultur und Geschichte teilen, ja oftmals die gleiche Sprache sprechen, durch Familienbanden miteinander verbunden sind – plötzlich aufeinander schießen. Ich habe von einem Fall gehört, wo jemand aufgrund dessen das Land verlassen hat.
Aber ich habe auch Russen getroffen, die darin einen Befreiungsschlag sahen. Sie zeigten sich erleichtert darüber, dass diese Zeit, in der Russland vom Westen auch gedemütigt worden ist – eigentlich vom Ende der Sowjetunion bis heute –, das diese Epoche jetzt aufhört. Anfangs fürchteten viele, dass sich die Geschäfte leeren würden, weil nun die westlichen Waren ausblieben. Auch die Sorge um Massenarbeitslosigkeit durch den Wegzug westlicher Firmen bestimmten die ersten Wochen. Doch als das dann gar nicht passierte, gab das den Optimisten Auftrieb. Die Waren aus westlichen Ländern stehen nach wie vor in den Regalen, sie werden jetzt nur über Drittländer geliefert. Manche Waren werden dadurch etwas teurer. Doch zum Teil werden diese Kosten durch den stärkeren Rubel wieder ausgeglichen. Nachdem sich die anfängliche Unsicherheit gelegt hatte, kehrte eine erstaunliche Normalität in die Stadt ein. Die Restaurants und Cafés waren schnell wieder gefüllt und insgesamt hatte man das Gefühl, dass sich die russische Gesellschaft wortlos verabredet hatte, das nun gemeinsam durchzustehen.
Fast alle, mit denen ich bisher gesprochen habe, unterstützen auf die eine oder andere Weise ihr Land. Manche votieren mehr für einen Kompromiss, andere sind bereit, jetzt durch dieses Tal hindurchzugehen, bis die russische Ökonomie sich ganz vom Westen abgekoppelt hat und auf eigenen Beinen steht. Anders als man sich das im Westen vorstellt, verläuft die Trennung nicht zwischen Putinanhängern und Putingegnern, sondern eher zwischen Optimisten und Pessimisten. Gemeinsam ist beiden Gruppen aber, dass sie wissen, wie sich der Westen in den letzten 30 Jahren gegenüber Russland verhalten hat. Dass eigentlich seit mehreren Jahrzehnten ständig irgendwelche Medienkampagnen gegen Russland liefen und dass diese mehr und mehr den Boden für aktive Diskriminierung vorbereitetet haben. Der westliche Umgang mit russischen Dirigenten und Opernsängern, das streichen russischer Literatur von den Lehrplänen einiger Universitäten und ähnliche Beispiele aktiver Diskriminierung sind in Russland sehr genau registriert worden. Und sogar erklärte Liberale, die eigentlich dazu tendieren dem Westen alles zu verzeihen, zeigten sich davon verstört und konnten es mit ihrem bisherigen Weltbild nicht vereinbaren.
Multipolar: Russland hat mit dem Angriff auf die Ukraine seine Strategie geändert. Bislang hatte die russische Regierung oft defensiv agiert. Putin hatte bis vor Kriegsbeginn auch immer von "unseren Partnern im Westen" gesprochen, also sehr versöhnlich, selbst wenn es starke Angriffe gab. Die Strategie wurde nun offenkundig geändert und es stellt sich die Frage, warum gerade jetzt, im Jahr 2022? Warum nicht vor fünf Jahren? Ist in der jüngsten Zeit irgendetwas passiert, das diesen Strategiewechsel erklären könnte?
Ritz: Ich kann da auch nur spekulieren, weil ich nicht die Informationen habe, die Regierungen zur Verfügung stehen. Es gibt natürlich Mutmaßungen, die wurden auch an verschiedenen Orten öffentlich geäußert, dass möglicherweise Atomwaffen in der Ukraine stationiert werden sollten. Selenski hat bei der Münchner Sicherheitskonferenz so etwas angedeutet. Einige Monate später im Zuge des Weltwirtschaftsforums in Davos hat Rafael Grossi, der Chef der internationalen Atomenergiebehörde IAEA, in einem Interview diesen Spekulationen Auftrieb gegeben. Grossi hatte gegenüber einer Bloomberg-Journalistin bekannt gegeben, dass in dem von Russland kurz nach Kriegsausbruch eroberten Atomkraftwerk Saporischschja ca. 30.000 Kilogramm Plutonium und 40.000 Kilogramm angereichertes Uran lagern würden. Russland machte sich natürlich Sorgen, dass die Ukraine auch durch ihre Vergangenheit als sowjetische Republik das technische Know-how zum Bau einer Bombe hat, sobald das angereicherte Uran vorliegt. Und Grossis Äußerung legte nahe, dass dies bereits der Fall war. Möglicherweise erklärt dies den russischen Einmarsch. Scheinbar hat man in Moskau die Sorge gehabt, das bald der Punkt erreicht sein könnte, wo Russland aufgrund einer nuklearen Bewaffnung der Ukraine nichts mehr tun könne und auf Jahrzehnte damit konfrontiert wäre, ein nukearbewaffnetes Kleinrussland, das zudem auch eine antirussische Ideologie angenommen hat, direkt vor der eigenen Haustür zu haben.
Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt. Es gibt seit Jahren ein geheimes Wettrüsten zwischen Russland und den USA. Die USA haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die militärische Dominanz über Russland suchten und im Grunde genommen eine Welt ohne russischen Einfluss planten. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Artikel, der 2006 in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienen ist, wo damals behauptet wurde, die USA hätten die nukleare Erstschlagkapazität gegenüber Russland, weil das russische Nuklearsystem so veraltet sei und nicht modernisiert worden ist. Diese Situation wollte man dann durch die Aufstellung eines Raketenabwehrschildes in Polen und Rumänien festschreiben. Das hat dann doch nicht geklappt, weil die Russen ihre Nuklearwaffen modernisiert und neue Raketen entwickelt haben, die das Raketenschild durchbrechen können. Und vielleicht ist jetzt dadurch, dass die Russen als erste Militärmacht über Hyperschallraketen verfügen, eine umgekehrte Disbalance eingetreten, die wiederum die Amerikaner dazu veranlasst hat, die Ukraine militärisch gegen Russland in Stellung zu bringen. Es sind ja nur ein paar hundert Kilometer zwischen der ukrainischen Grenze und Moskau. Und das kann natürlich Russland ebenso wenig tolerieren, wie die USA es unter Kennedy toleriert haben, als Moskau in Kuba solche Raketen aufgestellt hat. Das ist eigentlich allgemein verständlich.
Nun sagen viele Leute, wir leben in einer globalisierten Welt, das Militär spiele keine Rolle mehr. Aber das ist eine Illusion. Man sieht ja, was mit Ländern passiert ist, die über viele Bodenschätze verfügen, aber kein starkes Militär hatten, um diese zu beschützen. Man denke etwa an das Schicksal des Iraks oder Libyens. Und ein Land wie Russland hat natürlich enorm viele Bodenschätze. Hier liegen vielleicht die meisten unerschlossenen Bodenschätze der gesamten Welt. Sibirien ist noch wesentlich unerschlossener als der nordamerikanische Kontinent. Und ein Land, das über eine solche Vielzahl an natürlichen Reichtümern verfügt, da fragen sich natürlich andere Länder, warum könnten wir das nicht bekommen? Oder könnten wir darauf billiger zugreifen? Und natürlich muss ein solches Land wie Russland mit dieser langen Grenze und den großen geologischen Reichtümern über seine militärische Sicherheit nachdenken.
Multipolar: Wir sind es seit vielen Jahren gewohnt, vor allem auch durch die Medienberichterstattung, dass der Westen im Konflikt mit Russland steht. Dahinter steht die Frage: Warum gibt es überhaupt diesen Konflikt des Westens mit Russland? Sie haben in früheren Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass es bei Russlands Rolle in der Welt und bei Russlands Politik und auch bei den Angriffen gegen Russland nicht nur um militärische Macht geht, nicht nur um Rohstoffe und Geopolitik, sondern dass der ganze Konflikt auch noch eine andere Dimension hat.
Ritz: Zuerst einmal zu den naheliegenden Gründen: Die naheliegenden Gründe sind natürlich auch die Rohstoffe, die ich gerade genannt habe und als zweiter wichtiger Faktor ist die Geographie zu nennen. Es ist bekannt, dass die Amerikaner dem eurasischen Kontinent eine besondere Bedeutung zumessen, dass sie denken, wer den eurasischen Kontinent beherrscht – das geht aus vielen Veröffentlichungen der amerikanischen außenpolitischen Elite hervor –, der beherrsche die Welt. Möglicherweise stimmt das gar nicht. Als wissenschaftliche These wurde dies nie bewiesen. Aber das spielt keine Rolle, weil die amerikanische Außenpolitik nun einmal an diese Theorie glaubt und dadurch schon eine Wirklichkeit erschafft. Und diese Kontrolle über Eurasien, die die Amerikaner anstreben, muss irgendwie von den Küsten aus erfolgen und im Zentrum liegt Russland. Und da könnte dann quasi eine Gegenmacht entstehen, die von den Küsten aus nicht mehr eingedämmt und kontrolliert werden könnte. Davor haben die USA als klassische Seemacht Angst. Und das ist sicherlich einer der Gründe, warum die USA so fixiert sind auf Russland und warum der Konflikt auch nach dem Mauerfall nicht hat gelöst werden können. Denn Russland kann ja seine Geoprafie nicht ändern und die USA auch nicht. Man kann alles ändern, das politische System, aber nicht die Geografie. Darüber hinaus gibt es sicherlich noch andere Gründe, ich wollte aber diese einfachen Gründe, die Rohstoffe und die Geographie vorher genannt haben, bevor wir auf die tieferen Gründe zu sprechen kommen.
Man könnte nämlich einwenden, dass wir heute vielleicht nicht mehr in einer Zeit leben, in der Geograpfie die gleiche Rolle spielt, wie während des britischen Empires oder auch noch im Zweiten Weltkrieg, sogar noch im Kalten Krieg. Je kleiner der Planet wird, durch Satellitentechnologien, durch schnellere Transportwege, desto unwichtiger wird vielleicht die Geographie. Natürlich braucht man die Rohstoffe und die Handelsrouten immer noch, aber es gibt jetzt etwas anderes, das hinzugekommen ist und das vielleicht die Bedeutung der Geographie und die Bedeutung der Rohstoffe zum Teil ersetzt oder überschattet; und das ist der psychologische Einfluss auf die Weltbevölkerung.
Man könnte auch sagen, früher war ja Kultur etwas, das von ganz allein entstanden ist. Auch ein absolutistischer König wie Ludwig XVI. hatte wenig Kontrolle über die Kultur seiner Bauern, die er regierte. Die Kirche hat versucht, Kontrolle auszuüben, aber das waren alles sehr begrenzte Möglichkeiten, die einem damals zur Verfügung standen. Kultur entwickelte sich weitgehend organisch, sie wuchs überwiegend von unten. Es hat niemand angeordnet, dass irgendwie Märchen entstehen oder Literatur geschrieben wird. Die klassische Musik ist von alleine entstanden. Das war nicht das Projekt von Regierungsmaßnahmen, auch wenn hier und da Förderer auftraten.
Synthetische Kultur und Massenformierung
Aber im 20. Jahrhundert hat sich etwas geändert: Im 20. Jahrhundert wird die Kultur industrialisiert. Das fängt an mit Hollywood, mit Public Relations, mit Werbung, die in großem Stil entwickelt wird, mit Werbepsychologie, die mehr und mehr an Bedeutung gewinnt und auch mit der Wissenschaft der Propaganda, die natürlich besonders in Kriegszeiten entwickelt wurde. Und da bilden der Erste und der Zweite Weltkrieg Marksteine, wo wir in die Richtung einer zunehmend synthetischen Kultur kommen, die auch nicht mehr einzelne Autoren hat, sondern wo Kollektive nach Verfahrensregeln, nach psychologischen Gesetzmäßigkeiten Kulturprodukte erschaffen, die dann auch nicht mehr die Lebenserfahrung eines einzelnen Autors ausdrücken, sondern für Verwertungszwecke hergestellt wurden, für den Profit oder auch für Propagandaziele. Also für Fremdzwecke, die nicht die Zwecke der Kultur an sich sind. Und das hat dann im Kalten Krieg noch weiter zugenommen.
Jeder Krieg, jede Auseinandersetzung hat diese Entwicklung zu einer synthetischen Kultur, zu einer industriellen Kultur, die nach Marktprinzipien oder Machtprinzipien strukturiert wird, noch gesteigert. Im Ersten Weltkrieg etwas, im Zweiten Weltkrieg wurde es noch intensiver, dann im Kalten Krieg noch intensiver, und man kann sagen, jetzt am Anfang des 21. Jahrhunderts existieren Techniken der Massenformierung, der Massenformierung des Bewusstseins, die noch vor Kurzem ganz unvorstellbar waren. Durch das Internet, die Technologie des Dataminings, verbunden mit künstlicher Intelligenz ist es erstmals möglich geworden, Propaganda auf bestimmten Zielgruppen und psychologische Typen zuzuschneiden. Durch dieses Mikrotargeting ist es möglich die Weltorientierung zukünftiger Generationen ganz tiefgreifend zu beeinflussen.
Bei jungen Menschen könnte dieser Einfluss sogar soweit gehen, dass bereits die Genese ihres Weltbildes zunehmend von einflussreichen Akteuren beeinflusst werden könnte. Und das bedeutet, dass die Großmächte heute sich nicht mehr nur um Bodenschätze und geografische Räume streiten, sondern auch zunehmend um diese Möglichkeiten der Massenformierung des Weltbewusstseins. Denn damit gehen ja ganz konkete Fragen einher. Wenn es möglich ist, das Massenbewusstsein zu formieren, kann man dann auf die Anwendung dieser Technologien verzichten? In der Vergangenheit war es kaum möglich eine Technologie zu verhindern. Wenn es aber nicht möglich ist, dann stellt sich die Frage, ob man diese Technologie zumindest regulieren kann. Kann man wenigstens bestimmen, welche Inhalte durch sie vermittelt werden, mit welcher Gesamtausrichtung? Diese Fragen sind, denke ich, ein Streitpunkt im neuen Kalten Krieg, der bislang kaum richtig in den Blick geraten ist.
Multipolar: Das heißt, wir haben hier auch einen Konflikt um die Vorherrschaft geistiger Prinzipien zwischen Russland und dem Westen?
Ritz: Ja, aber damit man versteht, um welche Inhalte hier eigentlich gestritten wird, muss man sich vorher die Rolle, die die europäischen Kultur in der Welt spielt, noch einmal bewusst machen. Denn diese Massenformierungstechniken können ja prinzipiell von jedem Land eingesetzt werden – von China genauso wie von Indien, von den USA, von Russland –, das steht ja heute eigentlich jedem zur Verfügung, auch wenn es da Entwicklungsstandards gibt und die Amerikaner auf diesem Gebiet sicherlich am weitesten fortgeschritten sind. Aber jetzt kommt noch etwas Zweites hinzu, denn der europäische Imperialismus war abhängig von einem bestimmten Merkmal der europäischen Kultur, das andere Kulturen nicht unbedingt haben, weshalb es ihnen schwer fiel große Imperien aufzubauen. Und das ist der sogenannte Universalismus der europäischen Kultur.
Die europäische Kultur war im Gegensatz zur chinesischen und vielen weiteren in der Lage, in andere Kulturen einzudringen, sie zu penetrieren, sie auf sich auszurichten, anschlussfähig an sie zu werden, ihre eigenen Ideen auf fremde Kulturen zu übertragen. Die chinesische Kultur konnte das nicht oder konnte das nur in ihrer allernächsten Umgebung machen und hat das selbst dort nicht so stark gemacht. Diese Fähigkeit der europäischen Kultur kommt aus dem antiken Erbe, das sich ja bekanntlich aus drei Kulturen zusammensetzt, der griechischen, römischen und jüdischen Kultur. Der griechische Glaube an eine logische und erkennbare Wahrheit hat sich mit dem jüdischen Geschichtsdenken verbunden und ist vor dem Hintergrund des römischen Vorbilds imperial geworden.
Der einzige Kulturkreis, der ebenfalls diese Fähigkeit zum Universalismus gehabt hat, ist der Islam, der sich in bestimmten Perioden ebenalls extrem schnell ausgebreitet hat. Und diese Fähigkeit der europäischen Kultur, ihren eigenen Blick auf die Welt zu universalisieren und zu sagen, so wie wir die Welt sehen, so ist sie wirklich, so sollten alle sie sehen, auch die anderen Völker, das setzt ja auch voraus, dass man Wahrheit nicht mehr konextabhängig versteht, sondern als Abstraktum. Und das ist der europäischen Kultur zu eigen und das wurde für den Imperialismus benutzt.
Wenn wir uns kurz der Geschichte des Imperialismus zuwenden, dann war es so, dass die Spanier ja ihre kolonialen Ausgriffe nach Südamerika und Mittelamerika mit der universellen Bedeutung des Christentums begründet haben. Die Indios müssen eben getauft und ihre Seelen gerettet werden, egal zu wievielen Verwerfungen und Toten es dabei kommt. Frankreich hat später seine kolonialen Expansionen mit der Aufklärung und den Werten der Französischen Revolution begründet. Später, als die Amerikaner zu einer imperialen Macht wurden, ging es um Demokratie. Und im Kalten Krieg ging es dann oft um Menschenrechte und Individualismus und Konsumkultur, die verbreitet werden sollten. Mittlerweile sind es die Werte des Umweltschutzes, der LGBT-Bewegung sowie Feminismus, mit denen die Ausdehnung geopolitischer Macht begründet wird.
Auch wenn der Begründungszusammenhang sich von Epoche zu Epoche geändert haben, das Muster ist im Wesentlichen das gleiche geblieben. Die Indienstnahme des europäischen Universalismus für imperiale Zwecke ist eigentlich eine sehr schädliche Entwicklung. Denn der europäische Universalismus hat auch eine positive Seite. Durch den Glauben an eine universelle und allgemeingültige Wahrheit konnten bestimmte Fortschritte überhaupt erst erzielt werden, wie die Wissenschaft, die ja nur funktionieren kann, wenn man an eine allgemeingültige Wahrheit glaubt.
Durch den europäischen Universalismus konnte sich die europäische Philosophie den Widersprüchen der Menschheitsgeschichte ganz öffnen und darüber nachdenken, was es wirklich bedeutet ein Mensch zu sein und als Menschheit inmitten einer ständig fortschreitenden Geschichte zu leben. Auch die Entwicklung einer Rechtsordnung war ganz entschieden von diesem Merkmal der europäischen Kultur abhängig. Doch diese positive Seite des europäischen Universalismus wird, durch seine Verwendung für imperiale Zwecke beschädigt. Diese Beschädigung müsste dringend kritisiert und korrigiert werden. Denn es ist vor allem diese positive Seite des europäischen Universalismus, durch den die europäische Kultur zur Weltkultur geworden ist. Heute bilden europäische Werte, Begriffe und Denkkategorien den Referenzrahmen, in dem nahezu alle Probleme – auch die zwischen nichteuropäischen Ländern – verhandelt werden. Der Missbrauch unserer Werte für imperiale Zwecke beschädigt diesen Referenzrahmen, ja beschädigt am Ende die Friedensfähigkeit der gesamten Welt. So tragisch die Geschichte des europäischen Imperialismus auch ist, so gibt es im Moment doch keine Alternative zu den Werten Europas, dessen Kultur nun einmal zu einer Weltkultur geworden ist.
Doch diese Kritik am Mißbrauch unserer Werte für imperiale Zwecke kann nicht alleine von außereuropäischen Kulturen ausgehen. Wenn man mit einem Menschen aus Ostasien spricht, dann kann er oft nicht unterscheiden zwischen der Moderne und der Postmoderne. Für ihn sieht das gleich aus. Er kann auch nicht unterscheiden zwischen Europa und den USA, das verschwimmt schnell zu einer Gemengelage, so ähnlich wie Europäer die Unterschiede zwischen der chinesischen, koreanischen und japanischen Kultur kaum wahrnehmen können. Dieses Unverständnis bedeutet konkret, dass Asien auf die von Europa geschaffene Weltkultur kaum Einfluss nehmen kann. Die Korrektur unserer auf imperiale Zwecke ausgerichteten Kulturpolitik müsste von Europa selbst ausgehen. Nur wir Europäer können unsere wahren Werte von der Ideologie trennen und auf diese Weise die europäische Kultur, die ja eine Weltkultur ist, erneuern.
Multipolar: Noch einmal zurück zur Frage, warum es überhaupt den Konflikt mit Russland gibt.
Ritz: Wie bereits erwähnt, hat die Fähigkeit der europäischen Kultur, die eigenen Werte zu universalisieren, eine machtpolitische Potenz. Und die kann von Imperien in Anspruch genommen werden. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten vor allem von den USA in Anspruch genommen. Die USA haben ihre Teilhabe an der europäischen Kultur benutzt, um ein Weltmodell, eine Weltzivilisation zu stiften, mit Elementen, die oft aus den USA kommen, wie zum Beispiel der Kampf gegen Diskriminierung, der ja auch in den USA lange Zeit ein Problem darstellte, oder auch die Ideen der sogenannten Genderstudies, die ja auch von amerikanischen Universitäten vorgedacht worden sind. Also die Kultur, die heute mit dem Westen verbunden wird, hat ein amerikanisches Design, ein amerikanisches Gepräge und wurde in dieser Art dann auch auf Europa übertragen, ja selbst in kleinere Länder hinein, wo es dann plötzlich auch eine Black Lives Matter Bewegung gibt, obwohl es vielleicht in diesem kleinen Land kaum Schwarze gibt, nie Sklaverei gab und das Problem dort gar nicht verankert ist oder nur ganz peripher.
Russlands Souveränität erlaubt eigene Perspektive
Und jetzt ist es so, dass Russland eben über Souveränität verfügt, zwar keine vollkommene Souveränität, aber doch eine gewisse Souveränität, die auch eine eigene Perspektive, eigene Maßstäbe in der Kulturpolitik zulässt. Das wiederum bewirkt, dass die Unabhängigkeit des Denkens in Russland stärker ausgeprägt ist als zum Beispiel in Deutschland oder Italien. Es besteht eben die Möglichkeit, dass Russland eine andere Interpretation der europäsischen Kultur anbietet, was es ja auch im Kalten Krieg schon einmal getan hat. Russland könnte das noch einmal machen. Und das würde für das bestehende von den USA angeführte Weltsystem eine große Gefahr darstellen, weil diese russische Interpretation der europäischen Kultur eine globale Ausstrahlungskraft hätte. Sie würde auch auf Indien einwirken und auf den Iran, lateinamerikanische Länder und viele andere Staaten der Welt würden das zur Kenntnis nehmen und als Zweitmeinung berücksichtigen. Denn bestimmte Dinge nehmen wir erst wahr, wenn wir vergleichen können.
Das heißt, dieses Weltsystem, das die Amerikaner entworfen haben, ist außerordentlich stark, ja suggestiv, wenn es das einzige ist. Dann erscheint es wie die Natur selbst, dann ist es einfach die natürliche Entwicklung, dass es das alles gibt, was ich gerade aufgezählt habe. Dann ist die Konsum- und Popkultur eben einfach die moderne Welt. Wenn es aber ein zweites Modell gibt in einem großem Land, das sagt: "Wir machen das anders. Bei uns bleibt impfen vielleicht Privatsache und wir glauben auch nach wie vor, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Wir sagen nicht Eltern 1 und Eltern 2, sondern das sind Mann und Frau und Heirat gibt es nur zwischen Männern und Frauen und so weiter. Und wir behalten die Erinnerung an unsere Geschichte und Traditionen, wir pflegen auch noch die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wir wollen nicht hypermodern sein in allen Bereichen, sondern behalten die Erinnerung unserer Herkunft und sind ein bisschen konservativer. Und wir wissen auch noch, dass wir vom Christentum geprägt sind und versuchen dessen Werteordnung auf die moderne Situation zu übertragen. Wir wollen nicht im Zuge der Digitalisierung alle unsere Traditionen wie einen alten Zopf abschneiden. Wir wollen das Alte mit dem Neuen versöhnen als ein Teil Europas."
Also wenn ein Land das sagen würde, dann wäre plötzlich sozusagen eine Vergleichbarkeit hergestellt. Und bei diesem Vergleich würde das westliche Modell, vorsichtig ausgedrückt, nicht immer positiv abschneiden. Es würde seine Natürlichkeit verlieren, es wäre nicht mehr die unangefochtene Verkörperung des Modernen, des Aktuellen, des absolut Notwendigen. Das heißt nicht, dass umgekehrt das andere System dann kritiklos hinzunehmen wäre – das will ich damit nicht sagen –, aber allein der Vergleich würde Türen öffnen, wir würden wieder in einer polaren Ordung leben.
Nun kann man sagen, dass unter allen Ländern der Welt kurzfristig nur die Russische Föderation diese Fähigkeit hat. Denn den Staaten der EU mangelt es an Souveränität. China, Indien und Iran gehören einem anderen Kulturkreis an und können die europäische Kultur nicht beeinflussen. Lateinamerika, das stark von der europäischen Kultur beeinflusst ist, ist zu schwach und durch extreme gesellschaftliche Klassenkämpfe paralysiert. Wenn man nun aber in Russland – als einem Teil Europas – diese Potenz hat, dann ist es nur verständlich, dass die USA diese kulturelle Souveränität in Russland lieber heute als morgen ersticken möchten, so wie man eine glühende Kohle, aus der irgendwann ein Feuer entstehen könnte, schnell austreten möchte.
Kulturelle Hegemonie über die Weltbevölkerung
Viele Kritiker der amerikanischen Außenpolitik haben ihre Verwunderung darüber geäußert, warum Washington sich in den letzten 15 Jahren mehr um Russland als um China gekümmert hat, wobei ja wirtschaftlich betrachtet der eigentliche Herausforderer der USA die Volksrepublik China ist. Doch die Wirtschaft ist vielleicht nicht einmal das wichtigste. Wenn man den Gedanken zulässt, dass die psychologische und kulturelle Hegemonie über die Weltbevölkerung noch wichtiger sein könnte, dann ist es durchaus nachvollziehbar, warum die USA auf Russland fixiert geblieben sind. Unter den amerikanischen Eliten herrscht einfach eine große Angst vor dem intellektuellen und kulturellen Potential Russlands, das man vielleicht sogar mehr fürchtet als seine Atomwaffen.
Multipolar: Ich versuche das einmal so zusammenzufassen: Wenn man es geopolitisch betrachtet, gibt es drei große Pole auf der Welt: der westliche Pol, unter Führung der USA, dann China und dann Russland – als die drei stärksten Mächte. Und der westliche Pol betrachtet China in kultureller Hinsicht nicht als Bedrohung, weil China nicht diese Fähigkeit hat, seine Kultur so auszubreiten, aber Russland eben schon.
Ritz: Ja, genau – die kulturelle Bedrohung für den Westen geht von Russland aus, nicht von China. Erstens hat die chinesische Kultur nicht diese Eigenschaft, sich selbst als universal gültig zu betrachten. Die Chinesen haben Jahrhunderte lang Mauern gebaut. Sie haben circa ein Jahrhundert vor Kolumbus Afrika entdeckt, ohne deswegen ihre Bevölkerung dorthin zu exportieren oder Kolonien dort anzulegen. Das haben sie nicht gemacht, sondern lediglich eine Giraffe von dort mitgenommen. Das zeigt eine Haltung, die man auch heute noch in China antreffen kann. In der chinesischen Kultur spielt nämlich die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung eine enorm große Rolle. So ist in China der Gedanke auch im Alltag weit verbreitet, dass das Positive notwendig wieder in ein Negatives umschlägt, wenn man sich ihm zu sehr hingibt. Und das führt dann im Alltag dazu, dass man sich Glück, das einem einem zufällt, nicht vollständig aneignet, weil man fürchtet, dass daraus wiederum etwas schlechtes entstehen könnte.
Aber selbst wenn die chinesische Kultur das Positive so naiv und zielgerichetet anstreben und konsumieren würde, wie Europäer und Amerikaner dies gewöhnlich tun, so könnte die chinesische Kultur dennoch nicht einfach die Eigenschaft einer universalen Weltkultur erwerben. Dafür wären hundert Jahre oder zumindest mehrere Generationen erforderlich, um überhaupt erst die Übersetzungsleistung hinzubekommen, die notwendig ist, damit die chinesische Kultur in anderen Teilen der Welt verstanden werden kann. Denn auch die europäische Kultur hat diese universelle Kraft nicht einfach so gehabt, sondern die ist dort auch erarbeitet worden, indem entsprechende Philosophien entwickelt, Literatur geschaffen, Musik komponiert, Rechtssysteme aufgebaut, wissenschaftliche Theorien erdacht und humanistische Ideale entworfen worden sind. Das ist ja alles nicht über Nacht entstanden. Daran haben Generationen gearbeitet. Als es dann aber da war, hatte es eine universelle Ausstrahlungskraft.
China hat sicherlich diese Dinge in der Vergangenheit, müsste sie aber für die Gegenwart noch einmal neu formulieren und das kann nicht auf Knopfdruck geschehen. Das kann man auch nicht staatlich anordnen. Da braucht man einfach viele kreative Menschen, die sich gegenseitig befruchten. Das ist die Arbeit von mehreren Generationen. Vielleicht wird China über ein solches Erbe in 60 oder 100 Jahren verfügen, aber früher sicherlich nicht. Kurzfristig könnte eine Infragestellung des derzeitigen Zivilisationsmodells von Russland ausgehen oder auch von Europa. Aber von Europa auch wiederum nicht, weil sich Europa in einer zu starken Abhängigkeit von den USA befindet. Und wenn jetzt bei uns ein Think Tank entstehen würde oder Universitäten entstehen würden, die anfangen, in diese Richtung über diese Fragen nachzudenken, so würden diese relativ schnell in Frage gestellt und angegriffen werden, sodass sie gar nicht weiter arbeiten könnten.
Multipolar: Da kommen wir zur eigenartigen Rolle Deutschlands. Auf der einen Seite ist Deutschland, genau wie Russland zu großen Teilen, ein Teil Europas. Es gibt also starke Verbindungen. Auf der anderen Seite sind wir machtpolitisch ganz eng an die USA angeschlossen und können uns auch gar nicht mehr vorstellen den westlichen Block zu verlassen. Angesichts des Krieges stellt sich Deutschlands vollkommen auf die Seite des Westens und liefert sogar Waffen. Die deutsche Regierung erweckt den Eindruck, als hätte man jetzt aktuell mit Russland nichts mehr zu tun, als wäre Russland der totale Gegenpol, von dem man sich nur noch abgrenzen kann. In Ihren Veröffentlichungen haben Sie aber immer wieder darauf hingewiesen, dass es tiefe Verbindungen, Gemeinsamkeiten zwischen deutscher und russischer Kultur gibt, die jetzt in der Wahrnehmung ausgelöscht werden sollen. Worin bestehen diese tiefen Gemeinsamkeiten der deutschen und russischen Kultur?
Ritz: Dies berührt historische Zusammenhänge, die der Öffentlichkeit heute kaum noch bekannt sind. Jahrhundertelang standen Deutschland und Russland in einer äußerst engen Kooperation. Es existierte für 150 bis 200 Jahre so etwas wie eine deutsch-russische Allianz, die erst mit der Entstehung eines deutschen Nationalstaates und dem Machtverlust Bismarcks an ihr Ende kam. Von der Zeit Peter des Großen bis zum Ersten Weltkrieg gab es große Einwanderungswellen Deutscher nach Russland, die dort große Beiträge zur Entwicklung der Wirtschaft, der Landwirtschaft, aber auch der Wissenschaft und des Staates leisteten. Viele Deutsche standen im russischen Staatsdienst. Deutsche waren in Russland dreimal Kanzler, einmal sogar als Zarin (Katharina die Große) und unzählige Male als Minister tätig.
Deutschland war ein Land, das sich nach Osten orientierte
Umgekehrt war Russland auch in Deutschland präsent, genauer in den verschiedenen deutschen Ländern. Der russische Staat unterhielt ein Art Allianz mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und trug erheblich zum Machtgleichgewicht und zur Stabilität des Reiches bei. Die Allianz zwischen Deutschen und Russen war so eng, dass sich damals faktisch niemand einen Krieg zwischen beiden Ländern hätte vorstellen können. Sicher gab es die Beteiligung Russlands am siebenjährigen Krieg gegen Preußen. Aber auch dieser Krieg geschah im Rahmen des Heilgen Römischen Reiches deutscher Nation, dem gegenüber Preußen zu stark geworden war und es geschah im Bündnis mit Österreich, das damals zum Heiligen Römischen Reich gehörte. In den zwei Jahrhunderten der Deutsch-Russischen Allianz war Deutschland ein Land, das sich nach Osten orientierte. Der Osten Europas fing in gewisser Weise in Deutschland an, während der klassische Westen auf England und Frankreich beschränkt war.
Die Deutsch-Russische Allianz wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht eine gewisse Affinität zwischen beiden Kulturen gegeben hätte. Noch heute fällt der Kontakt zwischen Russen und Deutschen sehr leicht. Beide Kulturen ähneln sich erheblich und dort wo sie sich unterscheiden, ergänzen sie sich. Die Deutsch-Russische Allianz wurde letztlich durch die Entstehung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates geschwächt, der wiederum den Panslavismus in Russland förderte und so eine nationale Konkurrenz erzeugte, die das vorherige Zusammenwirken konterkarierte. Hätte sich die Allianz weiter entwickelt, so hätten Deutschland und Russland zusammen einen wirtschaftlichen Einfluss entfalten können, der sogar den der USA in den Schatten gestellt hätte. Die Folge von Deutsch-Russischen Kriegen, vom Ersten Weltkrieg zum Zweiten Weltkrieg bis hin zum Kalten Krieg, stellt vor diesem Hintergrund eine wirkliche Katastrophe dar, durch die ein gewaltiges Entwicklungspotential für beide Länder zerstört worden ist.
Im 20. Jahrhundert hat der größte Krieg der bisherigen Menschheitsgeschichte sich zu einem großen Teil zwischen diesen beiden Ländern abgespielt. Hinzu kommt ja noch, dass es sich beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion um einen Vernichtungskrieg gehandelt hat. Das Dritte Reich hat diesen Krieg anders geführt als etwa den mit Frankreich. Es ging nicht nur um das Besiegen einer Armee, sondern die russische Bevölkerung sollte vermindert werden, einerseits, weil die damalige Rassenideologie der Nazis die slawische Rasse als vermeintliche Untermenschen identifiziert hatte, andererseits, weil man nur so glaubte, den riesigen russischen Raum langfristig beherrschen zu können. Alleine in Weißrussland wurden über 5.000 Dörfer zerstört.
Nun versteht es sich von selbst, dass man vor diesem geschichtlichen Hintergrund nicht noch einmal dieses Land zum Feind haben sollte. Wir würden ja auch nicht auf die Idee kommen, gegen Israel irgendetwas zu unternehmen, militärisch gar, das wäre vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte vollkommen unvorstellbar.
Die Sowjetunion hat die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht
Hinzu kommt noch, dass 1989 vor allem die Sowejtunion die deutsche Wiedervereinigung vorangetrieben hat. Die anderen Siegermächte hatten eine ablehnende oder verhaltene Position. Frankreich und Großbritannien lehnte diesen Vorschlang eines einheitlichen deutschen Staates anfangs grundsätzlich ab und die USA waren nur dazu bereit, wenn die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO und damit deren Fortbestand gesichert werden konnte. Es war die Sowjetunion, die durch Rücksichtnahme auf die amerikanischen Bedenken die deutsche Wiedervereinigung überhaupt ermöglicht hat. Dass die Sowjetunion so handelte, hängt mit dem sehr positiven Deutschlandbild zusammen, dass wiederum in der Epoche der Deutsch-Russischen Allianz gestiftet worden war und trotz des Zweiten Weltkrieges in Russland fortbestand. Weil man die deutsche Kultur respektierte und wertschätzte, wünschte man sich in Moskau Deutschland als Partner und sah die Wiedervereinigung als Vorbedingung dafür an.
Nun ergibt sich daraus von selbst, dass angesichts des Geschenks der Wiedervereinigung Deutschland gegenüber Russland nicht als eine Macht auftreten kann, die die Teilung des russischen Kulturraums vorantreibt. Leider tun wir aber genau dies mindestens seit 2013/14, als Deutschland das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ungeachtet einer bestehenden Freihandelszone zwischen Russland und der Ukraine vorantrieb. Als die damalige Regierung Janukowitsch zögerte und die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen verweigerte, unterstütze Berlin kurzerhand zusammen mit den USA die Proteste auf dem Maidan in Kiew. Deutschland hat unter der Regierung Merkel mitgeholfen, die Urkaine aus der russischen Einflussspähre herauszulösen und so letztlich an dem Projekt teilgenommen den russischen Kulturraum, zu dem auch Belarus und die Ukraine gehören, zu teilen. Mit anderen Worten, das Geschenk der deutschen Wiedervereinigung wurde durch eine Politik der Teilung des russischen Kulturraums beantwortet.
Und jetzt liefern wir sogar Waffen in die Ukraine, mit denen russische Soldaten getötet werden. Es ist für mich schwer zu begreifen, wie die deutsche Politik derart geschichtsvergessen agieren kann. Noch in den 90er und 00er Jahren hatte man das Gefühl, dass es durch die Aufarbeitung des Dritten Reiches eine zivilisatorische Grundsubstanz in Deutschland gab, die derartige Handlungen nicht zulassen würde. Es ist erstaunlich zu sehen, wie sich das alles in wenigen Jahren aufgelöst hat und heute Handlungen eingeleitet werden können, die man zuvor für undenkbar hielt.
Multipolar: Was ist mit den USA?
Ritz: Wir sind in der Situation, dass die amerikanische Macht angezählt ist. Amerika als Supermacht ist im Abstieg begriffen. Dieser Prozess vollzieht sich bereits seit langem und ist, meine ich, unumkehrbar. Nun gibt es verschiedene Länder, die sich überlegen, ob sie den Platz einnehmen könnten oder ob sie sozusagen ihre Macht, vor dem Hintergrund der schrumpfenden amerikanischen Macht, ausbauen könnten. Und das betrifft auch Deutschland, nicht nur China und Russland, sondern auch Deutschland. Deutschland versucht, innerhalb des bestehenden, von den Amerikanern geschaffenen Weltsystems, aufzusteigen. Und es versucht sich ausdrücklich nicht zum Anderen des Weltsystems zu machen. Russland versucht, sich in gewisser Weise zum Anderen des Weltsystems zu machen und ist auch gezwungen so zu handeln. Denn für den russischen Staat gab es im bestehenden Weltsystem, das nach 1989/91 entstanden ist, keinen akzeptable Postion. Dieses Weltsystem sieht keinen Platz vor für ein Land, das seine Souveränität, seine Staatlichkeit bewahren und seine Rohstoffe selbstbestimmt nutzen möchte.
Staatlichkeit auflösen zugunsten überstaatlicher Netzwerke
Denn die gesamten von den USA ausgehenden Zukunftsplanungen gehen genau in die gegenteilige Richtung. Im Zuge der Globalisierung sollte Staatlichkeit zugunsten überstaatlicher Netzwerke aufgelöst werden. Souveränität sollte dabei genauso in den Hintergrund treten wie das Verfügungsrecht der verschiedenen Nationalstaaten über ihre Rohstoffe. Kurz, für das Russland in seiner momentanen Geographie und mit seiner bisherigen Geschichte war kein Platz in den Zukunftspanungen der USA.
Multipolar: Putin hat in seiner Rede zu Beginn des Krieges darauf hingewiesen, dass Russland im Jahr 2000 den USA ein Angebot gemacht hat und seine Bereitschaft erklärt hat, Mitglied der NATO zu werden, und darauf wäre nicht eingegangen worden. Vielleicht ist das ein ganz starkes Indiz dafür, dass der westliche Pol der Meinung ist, dass Russland nicht integrierbar ist in das westliche System, weil es eben ein Konkurrent ist.
Ritz: Wenn Russland in das bestehende Weltsystem integriert worden wäre, oder gar in die NATO aufgenommen worden wäre, so hätte man ja die enormen Rohstoffmengen Russlands in Kooperation mit dem russischen Staat fördern müssen. Und dann wäre Russland natürlich durch die Einkünfte aus diesen Rohstoffvorkommen stärker geworden und man hätte langfristig einen selbstbewussten Akteur mit am Tisch sitzen gehabt, einen Akteur dessen Einfluss allmählich gewachsen wäre. Mit anderen Worten: Das bestehende Machtgefüge mit den USA als Hegemon hätte keine unangefochtene Gültigkeit mehr gehabt. Das wollten die USA nicht und die Europäer haben die Verantwortung von sich gewiesen und letztlich den USA das Handeln überlassen.
Weil die USA ihre Vormachtstellung behalten wollten, haben sie leider – und das ist eigentlich die Tragik und der grundsätzliche Fehler, glaube ich –, eine Politik der wirtschaftlichen Eindämmung betrieben. Und sie haben darauf spekuliert, dass Russland in Folge dessen eine absteigende Macht sein würde. Sie glaubten und haben das vielerorts geschrieben, dass Russland in fünf Jahren noch schwächer sein würde als jetzt und in weiteren fünf Jahren noch einmal schwächer und so weiter. Und, dass man vor diesem Hintergrund eigentlich gar nicht mit Russland verhandeln müsse, da das Land ja ohnehin immer schwächer und schwächer werden würde. Und wenn es irgendwann schwach genug sei, so könne man einen Regimechange durchführen und die Rohstoffe wie schon einmal in den 1990er Jahren weitgehend umsonst bekommen.
Im Westen ist man der Phantasie erlegen, man könne alles haben
Das hat nun dazu geführt, dass China sich gesagt hat, nein, sie sind bereit diese Rohstoffe in Kooperation mit Russland zu bekommen – wodurch sie diese Rohstoffe jetzt wahrscheinlich tatsächlich dauerhaft bekommen werden. Der Westen und die bewusstlosen Europäer hätte sie auch bekommen können. Aber im Westen ist man der Phantasie erlegen, man könne alles haben. Und das Resultat ist nun, dass man jetzt gar nichts bekommt. Das ist ja immer das Risiko, das man auch aus dem Leben kennt: Wenn ich alles haben will, bekomme ich am Ende gar nichts. Und Russland wäre eben nur integrierbar gewesen in das westliche System, wenn das westliche System sich geändert hätte. Es hätte dann bedeutet, dass die USA nicht der alleinige Herr in diesem System gewesen wären. Es hätte auch bedeutet, dass die amerikanische Interpretation der europäischen Kultur nicht die allgemein verbindliche gewesen wäre und dass die russische Fähigkeit zur unabhängigen Analyse die Europaer angesteckt hätte und sie sich allmählich von den Amerikanern emanzipiert hätten.
Multipolar: Vielleicht vergleichbar mit der Deutschen Einheit. Dass Deutschland eine Chance gehabt hätte, wenn die DDR nicht einfach nur angeschlossen worden wäre, sondern wenn der Westen auch bereit gewesen wäre, sich zu verändern. Vielleicht ist das ein vergleichbarer Fall?
Ritz: Genau. Und in gewisser Weise ist jetzt auch die Tragik Deutschlands mit dieser einseitigen Wiedervereinigung verbunden, denn Deutschland versucht – ich hatte das eben schon angerissen –, innerhalb des westlichen Systems aufzusteigen. Auf der einen Seite gibt es Argumente dafür: Wenn ich innerhalb des bestehenden Systems aufsteige und die Werte des Systems übernehme, dann fordere ich den Hegemon nicht heraus. Dann bin ich sogar der Diener des Hegemons und wachse in seiner Dienerschaft. Das hat ja Habeck kürzlich auch noch einmal gesagt, dass Deutschland seine Position verbessert, indem es dient. Das Problem dabei ist aber, wenn ich innerhalb des bestehenden Weltsystems aufsteige und die Werte dieses Systems einfach spiegele, dann werde ich auch zum Mitautor dieser Werte und trage Verantwortung für sie. Und nun könnte man sagen, diese Werte sind nicht immer eins zu eins vereinbar mit den Ansprüchen der menschlichen Zivilisation. Da gibt es ja verschiedene Punkte, wo man einhaken könnte: Moment einmal, widerspricht dieses westlich-amerikanische Wertesystem nicht in einigen Punkten den Ansprüchen der menschlichen Zivilisation? Und dann würde eine Macht wie Deutschland, die versucht, dieses System einfach fraglos zu übernehmen, in eine Mitverantwortung eintreten.
Multipolar: Können Sie das konkreter machen? In welchen Punkten widerspricht Ihrer Ansicht nach das westliche System den Ansprüchen der Zivilisation?
Ritz: Ich glaube, es gehört zum Anspruch des Erbes der menschlichen Zivilisation, dass es darin viele Kulturen gibt. Und wir bräuchten eine Welt, die kulturell vielstimmig ist. Aber dieses Weltsystem, was aufgebaut wird, basiert auf kultureller Vereinheitlichung, die auch ganz konkret gebunden ist an wirtschaftliche Monopole, durch die dann Abhängigkeiten geschaffen werden, in deren Folge Souveränität, insbesondere kulturelle Selbstbestimmung allmählich unmöglich wird.
Man sieht das in verschiedenen Bereichen. Wie zum Beispiel das Design von Hollywood-Filmen, das die Filmkunst in verschiedenen Ländern förmlich überschreibt. Man sieht es jetzt auch an der Vereinheitlichung der Gesundheitspolitik im Rahmen der Corona-Krise. Man sieht es auch an der Verarmung des Debattenraums in allen Ländern, die diesem System angehören. Dass es sozusagen auch intern in diesen Ländern immer weniger Vielstimmigkeit gibt. Dass es in nahezu allen europäischen Ländern immer schwerer wird sich auf die eigenen Tradition, eigene Gesichtspunkte und geschichtlichen Zusammenhänge zu beziehen. Und dass an die Stelle der einzelnen Kulturen eine, ich möchte sagen, sehr unterkomplexe, hysterische, englischsprachige Weltkultur getreten ist, die zwar schrill und laut ist, aber die die wirklichen Probleme und Lebenserfahrungen der Menschen nicht mehr berühren, geschweige denn ausdrücken kann.
Verschwinden der Gesellschaft
Im Zuge dieser kulturellen Vereinheitlichung löst sich allmählich die historisch gewachsene Gesellschaft auf. Und mit dem Verschwinden der Gesellschaft, beziehungsweise der Entstehung unzähliger Minigesellschaften, auf der Basis unterschiedlicher Lifestylegruppen, Ethnien und Religionen kommen dann sogar die Errungenschaften ins Rutschen, auf die die USA sich einst zu recht berufen konnten – nämlich die republikanischen Grundlagen der westlichen Gesellschaften.
Multipolar: Um noch einmal auf die Rolle Deutschlands zu kommen. Es sieht ja so aus, als ob Russland sich jetzt entschlossen hat, sich mit diesem Angriff auf die Ukraine vom Westen abzuwenden.
Ritz: Ja, das befürchte ich auch. Ich vergleiche das mit einer Beziehung, wo vielleicht der Mann seine Frau lange Zeit geschlagen hat, aber die ganze Zeit gedacht hat, sie bleibe trotzdem bei ihm, und auf einmal geht sie tatsächlich. Und was Russland jetzt macht, und was im Westen noch nicht richtig verstanden wird, ist: Russland geht. Die Wirtschaftsbeziehungen werden jetzt unterbrochen, die Waren werden in Zukunft aus anderen Teilen der Welt kommen oder in Russland selbst hergestellt werden. Russland hat diese Sanktionen von Anfang an einkalkuliert. Und ich glaube auch, das hier ein Plan Wirklichkeit geworden ist, der im Kreml acht Jahre oder länger vorbereitet worden ist. Man hat immer mit der Möglichkeit dieses Rückzugs gespielt, man hat aber auch gleichzeitig die Kooperation aufrecht erhalten und zu diesem Zweck eine kleine prowestliche Elite an der Macht im Kreml beteiligt. Man hatte die Hoffnung, dass sich im Westen irgendwie die Vernunft Geltung verschaffen könnte, dass Politiker wie Sahra Wagenknecht oder andere irgendwie Einfluss auf die Politik nehmen könnten und zu einer Kursänderung fähig wären. Und nun hat man erkannt, das wird nicht passieren und man zieht sich zurück, weil ja auch in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht wurde, dass man mit den Politikern Chinas und Indiens und Irans viel leichter und besser kommunizieren kann, ja mit denen viel pragmatischer umgehen kann, als es mit den oft sehr ideologisch sprechenden Politikern des Westens der Fall ist.
Dieser Rückzug wird bedeuten, dass auch ein neues Geldsystem aufgebaut wird. Es gibt in Russland schon die Kreditkarte "Mir" und es wird bald auch ein internationales Zahlungssystem geben, das von Russland und China gemeinsam vorbereitet wird und dem sich auch viele andere Schwellenländer anschließen dürften. Denn es gibt ja viele Länder in der Dritten Welt, die auch ihre schlechten Erfahrungen mit den westlichen Ländern gemacht haben. Sei es, dass sie einst Kolonien von England oder Frankreich waren, oder dass die Amerikaner sie auch schon einmal mit einem Regimechange oder mit Sanktionen bedacht haben. Und in diesen Ländern wird die Bereitschaft sehr groß sein, sich den historisch nicht so belasteten Ländern China und Russland anzuschließen und sich mit ihrem Geldsystem, das sie zur Verfügung stellen, zu verbinden. Und das wird bedeuten, dass das westliche Finanzsystem an Volumen verlieren wird. Da aber eben enorme Geldmengen angehäuft worden sind, wird das zur Überlastung des Geldsystems führen. Es wird zusammenbrechen und vielleicht zu Inflation führen und dann wird es sozusagen eine Welt geben, in der es einen stabilen Teil gibt, das wird dann dieser asiatische Raum sein, und einen instabilen im Westen. Und dann wachen wir plötzlich in einer neuen Weltordnung auf, und dann könnte es sich als Fehler erwiesen haben, dass Deutschland versucht hat, innerhalb des bestehenden Weltsystems aufzusteigen. Dann könnte es sich tatsächlich als klüger erwiesen haben, dieses Weltsystem frühzeitig zu verlassen.
Multipolar: Welche Optionen stehen Deutschland denn dann noch offen? In welche Richtung kann Deutschland sich dann noch entwickeln?
Ritz: Wenn dieser Fall eintritt, dann wird Deutschland natürlich alle Schocks, die das westliche System erwartet, auch auf sich ziehen. Also Inflation würde dann auch uns treffen und möglicherweise käme es noch zu weiteren Versorgungsengpässen, etwas im Bereich der Energieversorgung. Der Erfolg der deutschen Industrie in den letzten 30 Jahren beruhte zu einem ganz erheblichen Teil auf dem Zugang zu billigem russischen Gas und anderen Rohstoffen. Wenn das wegfällt, wird eine gewaltige Schrumpfung und schmerzhafte Umstrukturierung der deutschen Industrie ausgelöst werden. In der Rangfolge der Industrienationen wird Deutschland dann um mehrere Ränge absteigen. Der Verlust ist dann später auch nicht mehr aufzuholen.
Viele US-Amerikaner haben mir erzählt, dass sie manchmal Angst vor einem Bürgerkrieg in den USA haben. In der europäischen Gesellschaft sind die inneren Spannungen nicht ganz so dramatisch wie in den USA, weil die ideologischen Lager nicht so stark ausgeprägt sind. Zudem haben wir nicht so viele Waffen in der Bevölkerung. Aber auch unsere Gesellschaften sind alles andere als homogen und von starken Spannungen durchzogen. Und die können sich dann entladen.
Revolte im Weltsystem
Russland hat jetzt sozusagen die Unzufriedenheit aufgegriffen, die in weiten Teilen der Welt gegenüber dem westlichen Weltsystem existiert. Ich glaube, der Kreml hätte so nicht gehandelt, wenn Russland allein in der Welt wäre. Sie haben sich vorher abgesichert, auf jeden Fall mit China und sie bekommen auch Zuspruch aus vielen anderen Schwellenländern. In gewisser Weise handelt es sich um eine Revolte im bestehenden Weltsystem, aus dem am Ende entweder ein gespaltenes oder ein ganz anderes Weltsystem hervorgehen könnte. Da Russland über Atomwaffen verfügt und diese auch modernisiert hat, kann es jetzt auch militärisch nicht daran gehindert werden, das zu machen, was es tut. Doch im Windschatten Russlands beteiligen sich auch andere Länder an dieser Revolte.
Es wäre klüger gewesen, wenn der Westen bereits vor Jahren den Ausgleich sowohl mit Russland als auch den wichtigsten Schwellenländern gesucht hätte. Durch das Festhalten an der unrealistischen Idee einer alleinigen westlichen Vormachtstellung ist für den Westen jetzt eine ganz ganz prekäre, ja fast katastrophale Situation entstanden.
Die Welt, in der wir die letzten 20, 30 Jahre gelebt haben, war auch keine gute Welt. Wir wissen auch nicht, ob jetzt die neue Weltordnung, die entsteht, besser sein wird. Diese kann auch wieder neue Fehler aufweisen. Auch eine von anderen Mächten beherrschte Welt kann Phänomene wie Imperialismus und so weiter hervorbringen. Da müssen wir misstrauisch bleiben und abwarten.
Dialog über die Grundlagen der Zivilisation
Aber ich glaube, dass es generell in der Logik der Geschichte liegt, dass die alte europäische Zivilisation mit der alten chinesischen Zivilisation in eine Art Kontakt und Austausch eintreten muss, dass der östliche und westliche Teil des eurasischen Kontinents einen langanhaltenden Dialog über die Grundlagen der Zivilisation beginnen werden. Das wurde auch schon von dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz vor 300 Jahren erträumt. Leibniz hat bereits damals Briefe an Missionare geschrieben, die der Vatikan nach China geschickt hatte und versuchte, von ihnen Informationen über China zu bekommen.
Ich denke, das ist die Richtung, die die Zivilisationsentwicklung nehmen wird – eine Verbindung zwischen Asien und Europa zu knüpfen, wobei Russland die Rolle eines Mediators, einer Brücke zukäme. Und das atlantische Modell, das sozusagen mit Kolumbus angefangen hat und dem zufolge der atlantische Raum das Zentrum der Weltzivilisation bildet, das kommt nun allmählich an sein Ende. Und dieses Ende einer 500-jährigen Epoche wird natürlich von großen Verwerfungen begleitet.
Russland hat sowohl geographisch als auch kulturell eine sehr gute Position in dieser neuen Weltordnung. Und die USA werden in dieser neuen Weltordnung mehr eine abgelegene Insel sein. Entscheidend ist aber nicht die geographische Ordnung, sondern die zivilisatorischen Inhalte, die dann ins Zentrum rücken. Können wir eine Zivilisation schaffen, die der technischen Entwicklung nicht einfach blind folgt, sondern sie weise einzusetzen vermag? Wird es uns gelingen den Ausweg aus einer zunehmend synthetischen Kulturentwicklung zu finden? Können wir die neuen Technolgien der Propaganda und Bewusstseinsformierung kontrollieren und eindämmen, so ähnlich wie wir einst den Bau und Erwerb von Massenvernichtungswaffen der Kontrolle unterworfen haben? Die geopolitischen Verwerfungen, die wir jetzt erleben, zertrümmern unseren Glauben an eine bestehende feststehende Ordnung und erlauben es uns somit diese Fragen offener zu diskutieren.
Über den Interviewpartner: Hauke Ritz promovierte im Fach Philosophie und publiziert insbesondere zu Themen der Geopolitik und Ideengeschichte. Sein Buch "Der Kampf um die Deutung der Neuzeit" erschien 2015 in zweiter Auflage.
Artikel von Hauke Ritz bei Multipolar:
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