Technologie der unfreien Welt – Teil 2: Mythos und Selbsterlösung
HAUKE RITZ, 22. August 2020, 4 Kommentare, PDFIm ersten Teil dieser Reihe wurde herausgearbeitet, dass die Naturwissenschaft – trotz ihrer unterschiedlichen Einzeldisziplinen – auf einheitlichen Grundannahmen fußt. Im zweiten Teil soll nun erörtert werden, welche Einsichten sich ergeben, wenn man die Prämissen der Naturwissenschaft mit älteren Weltbildern aus der Geistes- und Religionsgeschichte vergleicht.
Naturwissenschaftler selbst wenden häufig ein, dass ihre Theorien ja prinzipiell nur Modelle darstellen. Damit soll ein Unterschied zum Wahrheitsanspruch der Religionen sowie einzelner Philosophien markiert werden. Tatsächlich ist es aber so, dass die geistigen Grundannahmen der Naturwissenschaft in nahezu alle ihre Einzeldisziplinen strukturgebend eingegangen sind. Das bedeutet, dass sich der einzelne Wissenschaftler ihrer meist nicht mehr bewusst ist. Dies führt dazu, dass das, was in den Naturwissenschaften eigentlich Modellcharakter haben sollte, wie Realitäten behandelt wird: zum Beispiel das Ausgehen von einem die gesamte Welt durchdringenden Kausalzusammenhang, der zugrunde gelegte materielle Charakter der gesamten Wirklichkeit, die Bewertung geistiger Phänomene als Sekundärphänomene, die monistische Struktur des Kosmos, die Subjektunabhängigkeit der Erkenntnis, die atheistische Grundposition der Wissenschaft im Gegensatz zur agnostischen und so weiter. Der von Naturwissenschaftlern ins Feld geführte Modellcharakter kann auf diese Grundannahmen nicht angewendet werden, ohne das gesamte Selbstverständnis der Naturwissenschaft zu gefährden. Das wiederum bedingt, dass sich die geistigen Prämissen der Naturwissenschaften trotz des beanspruchten Modellcharakters naturwissenschaftlicher Einsicht tatsächlich kaum von früheren geistigen Systemen – seien dies nun Philosophien oder Religionen – unterscheiden.
Tatsächlich begannen die Naturwissenschaften als vorurteilsfreier Denkprozess, der religiöse Dogmen hinterfragte und ein neues Verhältnis zur Empirie etablierte. Der Aufstieg und die Entfaltung naturwissenschaftlichen Denkens waren ein wichtiger Bestandteil der Aufklärung und trugen dazu bei, den Menschen aus einer unselbstständigen Position gegenüber Kirche und Adel zu befreien. Doch je mehr die Naturwissenschaften sich darauf festlegten, die Welt als ein prinzipiell totes, determiniertes, rein materielles, atomistisches, subjektloses und letztlich bewusstseinsloses Ableitungssystem zu begreifen, desto mehr begannen sie selbst eine neue Metaphysik hervorzubringen. Im Zuge der Industrialisierung und der aufkommenden Massengesellschaft verschwand allmählich der Abstand, den frühere Generationen von Naturwissenschaftlern noch zu den Prämissen der Naturwissenschaften einzunehmen vermochten. Die in allen Forschungsanstrengungen weitgehend unreflektiert mitwirkenden Grundannahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes begannen nun generell den Blick zu formen, mit dem wir die Welt und den Menschen betrachten. Im 20. Jahrhundert wurden die Naturwissenschaften schließlich in dem Maße zur dominanten kulturprägenden Kraft, wie ältere Weltbilder – zum Beispiel der christliche Glaube, der Humanismus oder die Verehrung großer Kunst – ihren gesellschaftlichen Einfluss einbüßten. Die Naturwissenschaften und das von ihnen abgeleitete Welt- und Menschenbild füllten das entstandene Vakuum. Insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Rahmen der wahrnehmbaren, denkbaren und diskutierbaren Wirklichkeit zum großen Teil von den Naturwissenschaften festgelegt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern die im ersten Teil beschriebenen Prämissen naturwissenschaftlichen Denkens heute auch die Gesamttendenz des technischen Fortschritts mit beeinflussen. Können wir von dem Weltbild, welches den Naturwissenschaften zugrunde liegt, Rückschlüsse auf die Richtung und Entwicklungslogik des technischen Fortschritts selbst ziehen? Existiert ein Zusammenhang zwischen den Voraussetzungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes und der in unserer Gegenwart sich vollziehenden technischen Herausbildung einer von Internetkonzernen mit Monopolstellung vorangetriebenen Überwachungsgesellschaft? Könnte eine Naturwissenschaft, die die Freiheit des Menschen prinzipiell leugnet, am Ende notwendigerweise eine Technologie der unfreien Welt hervorbringen?
Um diese Fragen zu beantworten ist es wichtig, das naturwissenschaftliche Weltbild in einem größeren Kontext zu analysieren. Dieser soll hergestellt werden, indem die Prämissen der Naturwissenschaften in ihrem Verhältnis zu den Religionen genauer betrachtet werden.
Dass religiöse Weltbilder zum Vergleich herangezogen werden, stellt keine Provokation dar. Es ist der Tatsache geschuldet, dass sich in den Religionen die ersten großen Zivilisationsleistungen der Menschheit verkörpert haben. Nahezu alle heutigen gesellschaftlichen Subsysteme von der Medizin über das Rechtssystem, die Philosophie, die Kosmologie und Wissenschaft waren in ihren Anfangsstadien Bestandteile der Religionen. Erst später haben sie sich von diesen emanzipiert und sind zu selbstständigen Wissensgebieten geworden. Heute ist uns diese Loslösung von der religiösen Sphäre so selbstverständlich geworden, dass wir gar nicht mehr über sie nachdenken. Aber gerade deshalb lohnt es sich, die geistigen Prämissen des naturwissenschaftlichen Weltbildes im Kontext der Religionsgeschichte zu analysieren.
Betrachtet man die heutigen Naturwissenschaften ausgehend von den im ersten Teil analysierten Grundannahmen, so lassen sich in einigen Bereichen durchaus strukturelle Ähnlichkeiten zu verschiedenen religiösen Weltbildern feststellen. Und zwar sowohl zum Religionstypus des Polytheismus und seiner stark entwickelten Mythologie als auch zum Monotheismus des Judentums und Christentums und schließlich auch zur spätantiken Gnosis. Am leichtesten lässt sich diese Ähnlichkeit am Beispiel der Mythologie der polytheistischen Kulturstufe aufzeigen, welche deshalb als Modell zur Einführung in das Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft dienen wird. Davon ausgehend soll auf weitere Merkmale des religiösen Weltbildes eingegangen werden, anhand derer das Verhältnis von Naturwissenschaft und Christentum bzw. Naturwissenschaft und Gnosis beschrieben werden kann.
Moderne Wissenschaft und mythische Traumenergien
Die größte Ähnlichkeit, die sich zwischen dem naturwissenschaftlichen Weltbild und älteren religiösen Weltbildern feststellen lässt, besteht vor allem hinsichtlich der Sehnsüchte und Wünsche, die in beide eingegangen sind. Insbesondere die Phantasien und die Träume, welche einst den magischen Ritualen der mythischer Religionen zugrunde lagen, sind jenen Wünschen und Träumen erstaunlich ähnlich, die sich in unserer Gegenwart bereits zum großen Teil im technischen Fortschritt mit realisiert haben.
Ein Gedankenexperiment mag dieses verdeutlichen. Man stelle sich einen Schamanen aus vorgeschichtlichen Zeiten vor, dem es gelänge, mittels einer Zeitmaschine in unsere Gegenwart zu reisen. Die Welt, die er hier anträfe, wäre ihm in nahezu allen Aspekten fremd. Doch eines erkennte er unzweifelhaft wieder: Er sähe in den technologischen Errungenschaften unserer Zeit die Verwirklichung seiner eigenen in magischen Ritualen beschworenen Träume und Wünsche. Die Phantasien der Magie zielten ab auf das Heilen von Todkranken, auf das Fliegen sowie die instantane Übermittlung von Nachrichten, auf die unmittelbare Befriedigung von Bedürfnissen bei gleichzeitiger Überwindung von Zeit und Raum. All diese Sehnsüchte des magischen Zeitalters werden heute mittels der modernen Medizin, der modernen Transportsysteme, der Technik zur Datenübertragung, der Flugzeuge, der modernen Messverfahren und des Internets zwar noch nicht vollständig, aber doch weitestgehend erreicht. Der in die Gegenwart gereiste Schamane würde somit Zeuge werden, wie der moderne Mensch mittels hochentwickelter Technik ehemals tödliche Krankheiten heilt, Nachrichten durch die Luft verschickt, Menschen an fernen Orten auf einem Bildschirm anspricht. Vielleicht würde er irgendwann verstehen, dass Technik nicht Magie ist, sondern dass sie auf Logik, akkumuliertem Wissen und vor allem auf Distanz zum Objekt beruht, während Magie gerade durch Nähe und nachahmende Darstellung ihren Gegenstand zu bezwingen versucht. (1) Sicherlich würde er auch Elemente seiner eigenen Religiosität in der modernen Welt vermissen. Die moderne Profanierung der Natur würde wahrscheinlich ebenso abschreckend und ernüchternd auf ihn wirken wie der Abstand, den der heutige Europäer gewohntermaßen zur ihn umgebenden Welt einnimmt. Doch selbst in diesem Fall würde er in den Erfolgen der Technik die Träume seines eigenen magischen Zeitalters wiedererkennen müssen.
Naturwissenschaft und Magie mögen in Praxis wie auch Theorie grundverschieden sein. Doch sie berühren sich hinsichtlich der Wunsch- und Traumenergie, die beiden zugrunde liegt. Hinweise hierzu begegnen uns in unzähligen Science Fiction Romanen und Filmen, in denen oft ganz selbstverständlich Hochtechnologie in eine magische Kultur eingebettet wird. Hinzu kommen zahlreiche weitere Parallelen, auf die an anderer Stelle noch einzugehen sein wird.
Die mythischen Traumenergien in der aktuellen technologischen Revolution
Es besteht somit ein guter Grund, warum die moderne wissenschaftliche Welt – trotz all ihrer unbestrittenen Erfolge – dennoch im Kontext der Religionsgeschichte neu betrachtet werden kann. Religion und Wissenschaft können miteinander verglichen werden, weil beide Antworten auf die menschliche Grundsituation darstellen. Die Ähnlichkeit, die zwischen den Träumen der Magie und denen der Technik besteht, weist zudem darauf hin, dass das wissenschaftlich-technische Zeitalter durchaus mythische Altlasten mit sich führt. Die entscheidende Frage ist nur, ob diese mythischen Traumenergien möglicherweise auch die Richtung des technischen Fortschritts mit bestimmen?
Ist die technische Entwicklung unserer Gegenwart, die zur Abschaffung der Privatsphäre und Etablierung einer Überwachungsgesellschaft führt, möglicherweise auch die Manifestation eines solchen mythischen Traums? Wohnt der modernen Technologie, wie bereits viele Philosophen angesichts der Entwicklung der Atombombe gemutmaßt haben, ein Verhängnis inne? (2)
Falls ja, so müsste diese Entwicklung bereits in der Genesis der Naturwissenschaften selbst angelegt gewesen sein. Auch die Erfindung der Dampfmaschine, des Verbrennungsmotors oder der Nutzbarmachung der Elektrizität wären dann bereits Etappen auf diesem Weg. Doch die sich heute vollziehende technische Revolution, welche alle über Internet oder Mobiltelefon vollzogenen menschlichen Handlungen in Zahlen übersetzt und mathematisch erfasst, stellt allerdings eine neue Qualität dar. Angesichts der Digitalisierung haben wir es erstmals in der Menschheitsgeschichte mit einer umfassenden Mathematisierung aller menschlichen Verhältnisse zu tun.
Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu verstehen, dass das Privatleben des Menschen im Internetzeitalter nicht allein durch die direkte Datenabschöpfung bedroht wird, sondern insbesondere durch den millionenfachen Vergleich eben dieser Daten mit denen anderer ebenfalls durchleuchteter Individuen. Indem nämlich die Datenspuren von Millionen oder bald sogar Milliarden Menschen über lange Zeiträume gesammelt, gespeichert und miteinander verglichen werden, können sogar aus randständigen Informationen wie bestimmten Geschmacksvorlieben oder dem Kaufverhalten tiefe Einsichten über die geistige und politische Orientierung eines Menschen abgeleitet werden. Weil diese Daten wiederum zur Prognose der Marktentwicklung sowie zu Werbezwecken verkauft werden können, entsteht ein Markt für Daten, der die Spirale fortschreitender Überwachung immer weiter vorantreibt. Daten, die ursprünglich zu Werbezwecken erhoben wurden, können dann wiederum von international tätigen Geheimdiensten wie dem NSA einer Zweitnutzung unterzogen werden. Auf diese Weise wächst im Schatten der privatwirtschaftlichen Datenerhebung auch die der Geheimdienste.
Bei den heute geborenen Menschen setzt diese Datenabschöpfung bereits in der Kindheit ein, so dass eines Tages sogar der geistige Entwicklungsweg eines Menschen – von seinen ersten auf dem Bildschirm gemalten Kinderzeichnungen über das Studium, die Karriere bis hin zu seinem Tod – vergleichbar sein wird mit den geistigen Entwicklungswegen von Millionen oder sogar Milliarden anderer Menschen. Folgt man den Prämissen des naturwissenschaftlichen Weltbildes, so wäre es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt, bis sogar die biographische Entwicklung von Menschen langfristig berechenbar und vorhersagbar gemacht werden könnte.
Im Zuge der Digitalisierung wird also der Versuch unternommen, den einzelnen Menschen und letztlich die gesamte Gesellschaft großflächig zu vermessen. Das Verhalten jedes Gesellschaftsmitglieds wird in ein Netz abstrakter Zahlen übersetzt, um dann aus diesem durch millionenfachen Vergleich Prognosen abzuleiten. Gelänge dies, wäre damit faktisch bewiesen, dass eine autonome Innenwelt, die menschliches Verhalten steuert, eigentlich gar nicht existiert. Dass auch das, was wir als Innenwelt bezeichnen, der mathematischen Erfassung zugänglich ist und somit letztlich in der äußeren Welt angesiedelt ist.
Während der Verlust der Privatsphäre beim Großteil der Gesellschaft, sagen wir bei 99,999 Prozent der Menschen, zum schleichenden Verlust Ihrer Würde und Freiheit führt und sie in eine Position der Ohnmacht stellt, kommen jene 0,001 Prozent, die über die großen Überwachungsapparate verfügen können, in den Besitz einer gewaltigen Machtfülle. Wie diese Machtfülle konkret aussieht, ist von dem amerikanischen Whistleblower Edward Snowden folgendermaßen beschrieben worden:
„Mein eigentliches Ziel, das wusste ich, war genau diese Schnittstelle: exakt der Punkt, an dem der Staat seinen Blick auf den Menschen richtete und der Mensch ahnungslos blieb. Das Programm, das diesen Zugang möglich machte, hieß XKEYSCORE. Am besten stellt man sich darunter eine Suchmaschine vor, mit deren Hilfe der Analyst alle Dokumente aus Deinem Leben durchsuchen kann. Stell Dir eine Art Google vor, das nicht Seiten aus dem öffentlichen Internet zeigt, sondern Suchergebnisse aus privaten E-Mails, privaten Chats, privaten Dateien, allem.“ (3)
Die kleine Minderheit, die diese große Überwachungsmaschine bedient, wird somit zum alles sehenden und alles registrierenden Auge und gelangt damit in eine quasi gottähnliche Position, während jene, die ahnungslos beobachtetet werden, mit einem nur schwer fassbaren, aber am Ende wohl doch fühlbaren Verlust Ihrer Freiheit und Würde konfrontiert werden. In beiden Fällen findet ein Prozess der Entmenschlichung statt, einmal durch Ohnmacht und einmal durch eine das menschliche Maß übersteigende Machtfülle.
Hieraus lässt sich ein wichtiger Grundsatz ableiten. Wie auch immer die Ähnlichkeit zwischen den Grundannahmen der Naturwissenschaft und denen der Religion im Einzelnen beschaffen sein mag, so lässt sich doch bereits eine Konsequenz der modernen Technik feststellen. Die Digitalisierung scheint auf eine Teilung der Menschheit in jene, die sehen, und jene, die gesehen werden, hinauszulaufen. Der sowohl vom Christentum als auch später von der Aufklärung vertretene Grundsatz einer bestehenden Gleichheit der Menschen scheint durch den Gang der technischen Entwicklung aufgekündigt zu werden.
Der neue Pyramidenbau – Die Digitalisierung aller Lebensbereiche
Bereits heute wird angekündigt, dass die Einführung von 5G und künstlicher Intelligenz dazu führen soll, dass bald sogar gewöhnliche Haushaltsgeräte mit dem Internet verbunden sein werden und dann auch Datenspuren hinterlassen. Dies wirft die Frage auf, ob es sich bei der Digitalisierung wirklich um den nächsten Technologiezyklus handelt? Man muss bedenken, dass vergangene Technologiezyklen in der Regel von praktischen Vorteilen vorangetrieben wurden. Die Vorzüge, die das Automobil, die Elektrizität oder medizinische Erfindungen wie das Antibiotikum mit sich brachten, waren immens und sprachen für sich selbst. Doch welchen Vorteil soll es haben, wenn ein Lichtschalter, ein Kühlschrank und ein Wasserkocher in Zukunft mit dem Internet verbunden sein werden? Für den normalen Bürger sind die Nachteile, nämlich der Verlust der Privatsphäre, viel schwerwiegender als die Vorteile. Dass die praktische Notwendigkeit für die Einführung der neuen Technik fehlt, könnte bedeuten, dass es sich gar nicht um einen neuen Technologiezyklus handelt. Die Digitalisierung wirkt stattdessen eher wie ein Großprojekt unserer Zivilisation.
Nun hat es in der Menschheitsgeschichte schon oft Großprojekte gegeben, man denke etwa an den Bau der ägyptischen Pyramiden. Oft wurden diese Großprojekte von einer kleinen Elite initiiert. Ihr eigentlicher Zweck bestand oft darin, ein bestehendes gesellschaftliches Weltbild zu repräsentieren und somit seine Legitimität zu manifestieren. Ein berühmtes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Bau des Petersdoms auf dem Vatikanhügel in Rom, der im 16. Jahrhundert dazu diente, die geistige und weltliche Rolle der römischen Kirche architektonisch zu repräsentieren, dessen Errichtung jedoch unglaubliche wirtschaftliche Ressourcen verschlang. Dadurch sah sich die Kirche schließlich gezwungen, die Ausdehnung des Ablasshandels zu veranlassen, durch welchen wiederum die Reformation ausgelöst worden ist.
Sollte die aktuelle technologische Revolution ein dem Bau des Petersdomes vergleichbares zivilisatorisches Großprojekt sein? Falls ja, so würde dies bedeuten, dass die Digitalisierung nicht praktisch, sondern auch weltanschaulich motiviert ist. Als weltanschaulich motiviertes Projekt könnte sie zum Beispiel darauf abzielen, die im ersten Teil dieser Analyse beschriebenen Grundannahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes dauerhaft zu beweisen. Zum Beispiel die Grundannahme, dass die Innenwelt des Menschen eine Unterfunktion der Außenwelt ist. Nun handelt es sich hierbei um eine Annahme, die für das Menschenbild der Naturwissenschaften entscheidend ist.
Der großangelegte technische Versuch, die Lebensäußerungen des Menschen mathematisch zu erschließen und schließlich sogar prognostizierbar zu machen, wäre dann nicht nur ein Teil des Bemühens, die Grundannahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes zu beweisen. Er wäre letztlich Ausdruck des Versuchs überhaupt den Störfaktor Mensch, dessen Bewusstseins- und Freiheitspotenziale sich nie ganz in das naturwissenschaftliche Weltbild integrieren ließen, doch noch der naturwissenschaftliche Weltsicht unterzuordnen.
Nun erfolgte der Bau des Petersdoms ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als die gesellschaftliche Rolle der Kirche und das durch sie vertretene Weltbild zunehmend in Frage gestellt wurden. Damit gerieten auch die auf ihm begründeten gesellschaftlichen Machtverhältnisse unter Druck. Vielleicht waren es gerade die Risse, die während des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit im kirchlichen Weltbild zu Tage traten, welche nach einem Großprojekt wie dem Bau des Petersdoms verlangten?
Und vielleicht trifft heute Ähnliches auch auf die Naturwissenschaften und die durch sie ermöglichte Technik zu? Denn auch das naturwissenschaftliche Weltbild befindet sich inmitten einer fundamentalen Krise. So haben sich die Fortschrittserwartungen, die man noch im 18. und 19. Jahrhundert mit der Entwicklung der Naturwissenschaften verbunden hatte, nicht erfüllt. Damals stellte man sich nämlich einen Fortschritt vor, der alle Sphären der Zivilisation betreffen würde und neben der Technik auch das politische, soziale und schließlich kulturelle Leben auf immer größere Höhen führen sollte. Doch stattdessen widerfuhr Europa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage ein kaum zu leugnender Verfall seines kulturellen Erbes. Die künstlerischen Leistungen des 18. und 19. Jahrhunderts können wir heute nur noch bestaunen, wirklich erreichbar sind sie für die derzeit lebenden Europäer nicht mehr. Wenn überhaupt, so ist Fortschritt heute auf die technische Sphäre beschränkt, während sowohl die Gesellschaft als auch die Kultur in Stagnation befangen sind, ja vielerorts gerade durch den technischen Fortschritt Rückschritte erleiden.
Diese Entwicklung wird noch dadurch verstärkt, dass seit dem Zweiten Weltkrieg eine massive Expansion der naturwissenschaftlichen Forschung stattgefunden hat, häufig vorangetrieben vom militärisch-industriellen Komplex. Dadurch hat sich das Selbstverständnis der Wissenschaften stark verändert. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine relativ kleine Gruppe an Physikern – geleitet von wissenschaftlichen Idealen und im engen geistigen Austausch – die Grundlagen der modernen Physik erschaffen konnte, existieren heute so viele Forschungsinstitute, Wissenschaftler und Fachzeitschriften, dass die Forschung förmlich fragmentiert ist. Angesichts dessen gelingt es der Wissenschaft immer seltener, sich anhand ihrer eigenen inhärenten Gesetzmäßigkeiten fortzuentwickeln. Der so entstandene Autonomieverlust führt dazu, dass Wissenschaft zunehmend von finanzieller, politischer und in jüngerer Zeit auch von medialer Macht abhängig geworden ist.
Die Enttäuschung, die mit dieser Entwicklung verbunden ist, führt dazu, dass immer häufiger kritisch auf die Grundannahmen wissenschaftlichen Denkens reflektiert wird. Insbesondere die mangelnde Fähigkeit der Naturwissenschaften, die Existenz von Bewusstsein und Freiheit als Primärphänomen anzuerkennen, gewinnt immer mehr Aufmerksamkeit. (4)
Doch gerade in dieser Situation wird noch einmal der groß angelegte Versuch unternommen, die Gesellschaft nach dem Weltbild der Naturwissenschaften umzugestalten. Indem menschliches Handeln und gesellschaftliche Vorgänge in Zukunft kontinuierlich und im großen Umfang mathematisch erfasst werden, soll der Beweis erbracht werden, dass menschliches Handeln errechenbar ist und der Mensch an sich tatsächlich als der biologische Roboter betrachtet werden kann, als den die Naturwissenschaft ihn immer schon begriffen hat. Gewaltige wirtschaftliche Anstrengungen werden unternommen, nur um das Menschenbild, welches aus den Naturwissenschaften hervorgegangen ist, in eine Gesellschaftsordnung zu übersetzen. Scheinbar kann nur so sichergestellt werden, dass nicht irgendwann ein neues Menschenbild die Grundannahmen der Naturwissenschaften in Frage stellt.
Sind also die Naturwissenschaften, die einst angetreten waren, die Welt zu entmythologisieren, nun ihrerseits zum Zentrum einer mythischen Weltwahrnehmung geworden? Der Vorwurf ist nicht neu. Bereits Max Weber notierte angesichts des Ersten Weltkriegs, wie leicht Wissenschaft in den Strudel unschlichtbarer Werteentscheidungen hineingeraten kann. In seinem 1919 gehaltenen Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ äußert er:
„Wie man es machen will, »wissenschaftlich« zu entscheiden zwischen dem W e r t der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. […] Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ (5)
Und von Adorno und Horkheimer wurde die These von der Wiederkehr einer polytheistischen Geisteslage während des Zweiten Weltkriegs detailliert ausgearbeitet, als mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik schon einmal eine ganze Welt in Schutt und Asche gelegt wurde. Im einleitenden Satz der „Dialektik der Aufklärung“ schreiben sie:
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinne fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (6)
Adorno und Horkheimer diagnostizierten einen Umschlag von Aufklärung in Mythologie und forderten zu deren Korrektur eine zweite Aufklärung, die über die Fehlentwicklungen der ersten Aufklärung aufklärt ohne ihren grundsätzlichen Anspruch preiszugeben.
Doch wie könnte eine solche zweite Aufklärung aussehen? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu verstehen, welche Aspekte des religiösen Weltbildes sich in Naturwissenschaft und Technik wirklich manifestieren. Dies wiederum macht es notwendig, die drei Religionstypen genauer zu betrachten, die die europäische Geistesgeschichte geprägt haben, nämlich Mythologie, Christentum und Gnosis.
Mythische Genealogie und das Freiheitsdementi der Naturwissenschaft
Für die Naturwissenschaften ist die Welt von einer unendlichen und lückenlosen Kausalkette durchdrungen. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive hat jedes Phänomen seine Ursache in einem vorangegangenen, welches wiederum in einem vorherigen begründet ist usw. Alles ist miteinander verkettet. Nichts existiert aus sich selbst heraus. Obwohl die angenommene Geschlossenheit des kausalen Zusammenhangs praktisch nicht bewiesen werden kann und eine metaphysische Setzung darstellt, begründet sich auf ihr das Freiheitsdementi der Naturwissenschaften. (7) Dieses hat wiederum im 20. Jahrhundert einen enormen kulturellen Einfluss entfaltet. Nun ist es interessant festzustellen, dass die Naturwissenschaft nicht das erste gedankliche System ist, das ein solches Weltbild entwickelt hat und infolge dessen auf einem Freiheitdementi begründet wurde.
Eine durchaus ähnliche Grundhaltung ist im Weltbild der Mythologie anzutreffen, deren griechische Ausprägung besonders gut überliefert ist. Auch die Welt der Mythologie besteht aus Ableitungssystemen, die hier allerdings aus der Ahnenreihe entwickelt werden. Durch die Ahnenreihe empfängt der Einzelne sein Sein und letztlich auch sein Schicksal, da sich in der genealogischen Ordnung der Mythologie auch Schuld von Generation zu Generation weiter vererbt. Weil das Schicksal sich u.a. aus der Herkunft ableitet, ist ihm kaum zu entkommen. Der Mythos von Ödipus mag dies verdeutlichen.
Schon bei seiner Geburt lastet auf Ödipus der Fluch, er werde seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Iokaste ehelichen. Damit sich die Prophezeiung nicht erfülle, beschließen Iokaste und Laios, Ödipus solle von einem Hirten ausgesetzt und dem Tod überantwortet werden. Dieser hat jedoch Mitleid mit dem Säugling, wodurch Ödipus zunächst an andere Hirten und schließlich als Adoptivsohn an den Hof von Korinth gelangt. Als Erwachsener erfährt er vom Orakel, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter ehelichen werde. Entsetzt von der Prophezeiung entflieht er seinen Adoptiveltern, welche er für seine wirklichen Eltern hält. Bereits auf der Flucht begegnet er seinem ihm unbekannten leiblichen Vater und erschlägt diesen. Als er dann auch noch das Rätsel der Sphinx löst und die Stadt Theben von dieser erlöst, wird ihm als Dank Iokaste, seine eigene Mutter, als Frau zugesprochen. Als Ödipus schließlich durch das Orakel von der Erfüllung des Fluchs erfährt, sticht er sich die Augen aus.
Diese Tragödie von Ödipus ist ein Sinnbild der Ohnmacht, welcher der Mensch im mythologischen Zeitalter gegenüber den Schicksalszusammenhängen ausgesetzt ist. Diese regieren sein Leben selbst dann, wenn er ihnen nach bestem Wissen und Gewissen auszuweichen versucht. Sogar die Götter sind in der religiösen Überlieferung der griechischen Antike dem Verstrickungszusammenhang des Schicksals nicht enthoben. Da es sich bei ihnen letztlich um Naturmächte handelt, sind auch sie Bestandteile der Welt. Damit sind auch sie durch ihre Abstammung und Herkunft definiert und somit in den Schicksalszusammenhang mit einbegriffen. Der Gedanke der Erlösung existiert auf dieser Kulturstufe noch nicht, weder für die Menschen noch für die Götter.
Stattdessen versucht man die Umwelt durch Rituale und Magie zu beeinflussen. Die Magie stellt einen frühen Versuch dar, das angenommene religiöse Ableitungssystem in den Dienst des Menschen zu stellen. Die Manipulation der Umwelt durch Magie bedeutet allerdings keine Erlösung vom Schicksalszusammenhang, lediglich eine vorübergehende Erleichterung bzw. Nutzbarmachung. Die Befragung des Orakels im Ödipusmythos zeigt jedoch, wie trügerisch die Magie ist. Statt Ödipus vom Schicksalszusammenhang zu befreien, gerät er durch die Prophezeiungen des Orakels erst vollends in diesen hinein.
Nicht zuletzt aus diesem Grund dürften die späteren monotheistischen Religionen die Praxis der Magie verboten und verfolgt haben. Weil die Offenbarungsreligionen von der Existenz einer wirklichen Erlösung ausgingen, konnte ihnen die Magie nur als eine zusätzliche Verstrickung in das mythische Netz von Schuld und Sühne erscheinen. (8)
Das mythische Zeitalter zeichnete sich dadurch aus, dass es den Menschen in Opferzwänge verstrickte. Es gehört geradezu zum Wesensmerkmal des mythologischen Weltbildes, dass es von seinen Gläubigen an bestimmten Punkten immer wieder das Opfer verlangte. Denn das Opfer und der mit ihm verbundene Ritus waren das Einzige, was den Menschen mit einer Welt verbinden konnte, die als eine Welt genealogischer Ableitungen vorgestellt wurde. (9) Der vorgeschichtliche Mensch stellte sich die Welt als eine Ordnung vor, deren einzelne Elemente sich jeweils von bestimmten Ursprüngen ableiteten. Den Ursprüngen wurde jeweils Seinsmächtigkeit zugesprochen.
Die Seinsmacht eines Stammesmitglieds leitete sich in diesem Vorstellungsraum von seinen Vorfahren ab, deren entfernteste Vertreter in der Regel als überaus mächtig vorgestellt wurden. Je näher jemand dem Ursprung stand, desto größer war dementsprechend seine Seinsmächtigkeit. (10) Das Modell der Ahnenreihe wurde auf die Götter und die Naturmächte übertragen, so dass in der mythologischen Welt fast nichts existierte, das nicht von etwas anderem abgeleitet wurde, das nicht auf eine Ursprungsmacht rückbezogen werden konnte, der es sein Sein, sein Wesen und letztlich sein Schicksal verdankte. Die polytheistische Welt war somit eine Welt konstanter Ableitungsketten, über die sich auch Schuld vererbte und an deren Ende jeweils Ursprungsmächte standen. (11)
Hierbei war das Opfer die wesentliche Kulturpraxis, durch die der Mensch seinen Platz in diesem Ableitungssystem finden und einnehmen konnte. Um sich mit der Welt verbinden zu können, musste der Mensch opfern. (12) Nur so konnte er eines ihrer Glieder werden, nur so vermochte er sich in das unendliche Netz der vom Ursprung abgeleiteten Geschlechterkette einzuhaken. Nur so konnte er selbst Seinsmächtigkeit erlangen und sich ihrer versichern.
Doch der Opferzwang beinhaltete eine Reihe von Widersprüchen. Blieb zum Beispiel – trotz vollzogener Riten und Opferungen – der ersehnte Regen aus oder konnte die Beute nicht erjagt, die Krankheit nicht geheilt werden, so bedeutete dies für den vorgeschichtlichen Menschen unter Umständen, dass noch nicht genug geopfert worden war, dass also weitere Opfer notwendig wurden. Der Opferzwang konnte sich auf diese Weise bis hin zum Menschenopfer steigern und zu einer neurotischen, irrationalen gesellschaftlichen Macht werden.
Hinzu kamen weitere Widersprüche. Etwa der, dass die mythologische Welt mehrere Götter und Naturmächte kannte. Jede Lebenssphäre verfügte über ihre eigene Gottheit. Die Gemeinschaft konnte auf diese Weise allerdings zwischen den verschiedenen Göttern und ihren imaginierten Ansprüchen auch leicht zerrissen werden. (13) Die griechischen Tragödien bezeugen noch heute den Konflikt, der hieraus resultierte. In der Welt, von der die Tragödien erzählen, musste oft aus Treue Verrat geübt werden. Um dem einen Gott, der einen Naturmacht treu zu sein, war es notwendig, Verrat an einem anderen Gott, Untreue gegenüber einer anderen Naturmacht zu verüben. Das mythologische Weltbild reproduzierte somit seine eigenen Widersprüche, die sich teilweise ins Absurde steigern konnten. Innerhalb dieses Weltbildes waren diese Widersprüche kaum zu überwinden.
Einige der hier beschriebenen Elemente des mythologischen Weltbildes weisen strukturelle Ähnlichkeiten zu den im ersten Teil beschriebenen Prämissen der naturwissenschaftlichen Weltsicht auf. Auch die Naturwissenschaften begreifen die Welt als ein lückenloses Ableitungssystem, in dem jedes Phänomen seine Ursache in einem vorherigen hat, welches wiederum in einem vorherigen gegründet ist. Aufgrund der unendlichen und lückenlosen Ableitung, einmal in Gestalt der Genealogie von Zeugung und Geburt und einmal in Gestalt der unendlichen und zugleich geschlossenen Kausalkette, sehen beide Weltbilder sich gezwungen, die Möglichkeit menschlicher Freiheit zu dementieren. Und beide Weltdeutungen beschreiben aufgrund dieser Grundannahme eine Welt, in der Erlösung von der unendlichen Schicksalsverkettung bzw. Kausalverkettung praktisch nicht existiert. Aufgrund dieser Parallelität begreifen auch beide Weltbilder den Kosmos als monistisch. Denn der polytheistische Götterhimmel ist ja selbst in der Welt beheimatet. Damit leugnen sie nicht nur den Gedanken der Freiheit und der Erlösung, sondern überhaupt die Befähigung des Menschen, in seinem Lebensvollzug eine Beziehung zur Transzendenz aufbauen zu können.
Beide Weltbilder, das der Naturwissenschaften als auch das magische Denken des Polytheismus, bieten deshalb auch keinen Raum für die Sonderstellung des Menschen als Bewusstseinswesen. (15) Die besondere Würde, welche dem Menschen aufgrund seines Bewusstseins zukommt, kann von ihnen nicht anerkannt und kulturell integriert werden. Während der Mensch im mythischen Weltbild sich selbst nur als ein Naturwesen unter Naturmächten wahrnehmen kann, ist der Mensch in der Moderne gezwungen, sich als funktionalen Organismus inmitten einer Maschinenwelt zu begreifen. Aufgrund dieser Defizite streben beide Weltbilder – einmal mit den Mitteln der Magie und ein anderes Mal mit den Mitteln der Technik – lediglich nach einer vorübergehenden Erleichterung in einem ansonsten determinierten, monistischen und unfreien Existenzzusammenhang.
Das Aufkommen des Judentums und Christentums
Aufgrund der genannten Widersprüche des Ahnenkultes, der Ableitungsketten, des Opferzwangs und der einander widersprechenden Ansprüche unterschiedlicher Gottheiten geriet das mythologische Weltbild bereits innerhalb der Antike mehr und mehr an seine Grenzen. Insbesondere in der Spätantike entsprach es nicht länger dem wachsenden Selbst- und Freiheitsbewusstsein des Menschen. Dem Kleinmut des mythischen Zeitalters, der die Unterwerfung des Menschen unter Schicksalszusammenhänge als Gegebenheit akzeptierte, hatten einst die jüdischen Propheten das Versprechen der Erlösung und das Versprechen des Bundes mit Gott entgegengehalten. Die Propheten wendeten sich gegen das Opfer und die mythische Idee einer Vererbbarkeit der Schuld. So heißt es beim Propheten Ezechiel:
„Und nun sagt ihr: ‚Warum trägt nicht der Sohn die Schuld des Vaters mit?‘ […] Ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters, noch ein Vater die Schuld des Sohnes mittragen. Nur dem Gerechten kommt seine Gerechtigkeit zugute, und nur über den Gottlosen kommt seine Gottlosigkeit.“ (14)
Deutlicher könnte der mythologische Schicksalszusammenhang nicht zurückgewiesen werden. In der Spätantike wird dieser Einspruch schließlich den jüdischen Kulturraum überschreiten und unter christlichem Vorzeichen auch für die gesamte römische Welt verbindlich werden.
Der Inhalt der prophetischen Botschaft beinhaltete zum einen den Zorn Gottes, der immer dann verkündet wurde, wenn der Mensch der Forderung, die an ihn als Träger von Bewusstsein gerichtet waren, nicht gerecht wurde. Und zum anderen das Versprechen, dass Gott den Menschen nicht vergessen hat, so sehr auch eine von Krankheit, Schicksal und Tod geprägte Wirklichkeit den menschlichen Geist und die menschliche Freiheit zu dementieren schien. Die Propheten versprachen ihrem Volk, dass Gott den Menschen als ein mit Freiheit und Geist begabtes Wesen gemeint hatte und ihm den Bund anbot, als er die Welt erschuf.
Die Kunde von der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott erschütterte den von Schicksalsglauben und Opferzwängen beherrschten monistischen Kosmos der Antike und erlaubte es, dass der Mensch sich als Träger des Geistes selbst erkannte und seiner Sonderstellung (15) in der Welt einsichtig wurde. Die Kultur veränderte sich infolge des Übergangs zum Monotheismus dahingehend, dass die Welt zunehmend aus einer Perspektive der Dualität wahrgenommen wurde. An die Stelle der weltimmanenten Götter – die eigentlich Naturmächte vorstellten – und des eindimensionalen Ableitungssystems mit seinen Opferzwängen und seinem Ahnenkult trat der Gegensatz von Welt und Gott, Leben und Erlösung, Immanenz und Transzendenz. Hieraus entstand der Gedanke von der Möglichkeit eines „Auszugs“ (Exodus) aus der „gefallenen Welt“, nämlich die angespannte messianische Erwartung auf einen geschichtlichen Bruch, mit dem eine neue erlöste Zeit anbrechen würde. Der Ort der Religiosität verlagerte sich auf diese Weise vom Raum auf die Zeit, vom Körper auf den Geist, vom heiligen Ort auf die Heilige Schrift.
In der antiken Welt trat dieser Exodus in mehreren Varianten auf, zunächst als Flucht der Juden aus der ägyptischen Sklaverei, dem Gründungsmythos der jüdischen Religion. Dann als ein über Generationen hinweg vollzogenes Warten auf das Erscheinen des Messias, mit dem eine neue Welt anbrechen sollte. Schließlich als Glaube an Jesus Christus als den nun leibhaftig erschienenen Messias und das Ausharren der ersten Generationen von Christen im Zustand wiederkehrender Verfolgung. Entscheidend ist in all diesen Fällen, dass durch Glaube und Hoffnung und im Falle des Christentums auch durch Liebe ein Transzendenzbezug hergestellt wurde. Dabei blieben jedoch Immanenz und Transzendenz miteinander vermittelt. Das Christentum etablierte sich als eine Religion, die das Leiden und somit die Widersprüche der Welt in sich aufnahm, ja seine Gläubigen geradezu dazu aufforderte, in der Nachfolge Jesu das Kreuz als symbolische Verkörperung irdischer Widersprüche auf sich zu nehmen.
In der immanenten Welt des Mythos fehlt der Transzendenzbezug noch, der durch den aufkommenden Bezug auf den einen Gott hergestellt wird. In der mythischen Welt lebt der Mensch noch als Naturwesen unter Naturmächten. Ein Wissen um seine besondere Stellung15, die dem Menschen als Träger von Bewusstsein innerhalb der Welt zukommt, ist ihm zu diesem Zeitpunkt noch fremd. Erst im Zuge der monotheistischen Kulturrevolution – nämlich der Einsicht in die Existenz eines einzigen Gottes, der als Schöpfer der Welt dieser einerseits verbunden ist und andererseits von ihr geschieden ist – erlangt der Mensch ein Bewusstsein seiner Sonderstellung in der Welt. Damit entsteht auch der Gedanke einer zukünftigen Erlösung bzw. einer Heilsgeschichte, die auf die Erlösung hinführt.
Der Mensch gewinnt fortan ein neues Bewusstsein von seiner eigenen Bedeutung als Bewusstseinswesen und damit auch von seiner Rolle innerhalb der Schöpfung. Es gelingt ihm nach und nach, sich von den Naturmächten zu emanzipieren. Das Opfer wird fortan aufs Tieropfer beschränkt und schließlich sogar nur noch symbolisch vollzogen. Die Religiosität verlagert sich auf den Ritus, das Gebet und das Studium der Heiligen Schrift. Der Geist rückt ins Zentrum menschlichen Selbstverständnisses und bereitet so den Aufstieg von Wissenschaft und von der Aufklärung in der Neuzeit vor. An die Stelle der vielen oft konkurrierenden Götter und Ursprungsmächte tritt der eine Gott. Der eine Gott ist zugleich Sinnbild einer Wahrheit und einer Weltgeschichte. Der eine Gott hat den Menschen zudem als frei erschaffen, was die Möglichkeit der Abkehr von Gott – also die Befähigung zum Bösen – mit einschließt. Auf diese Weise realisiert der Mensch fortan in der Gottesbeziehung zugleich auch seine Freiheit, die wiederum Ausweis seiner Ebenbildlichkeit zu Gott ist.
In der Botschaft der jüdischen Propheten spricht sich somit ein neues Bewusstsein des Menschen von sich selbst aus. Statt den Menschen an die Ursprünge zu binden, an die Ahnen, an die Vergangenheit, verweisen die Propheten auf die Zukunft, das Kommende, die Erwartung des Messias. Die prophetische Botschaft leitet auf diese Weise einen Kultursprung ein, der zu seiner Zeit bereits eine frühe Form der Aufklärung darstellt. Eine Aufklärung allerdings, die sich zwar noch gänzlich im Medium der Religion vollzieht, die aber dennoch die Widersprüche des mythologischen Zeitalters aufzuheben vermag.
Aber so wie das Judentum und das spätere Christentum gegenüber dem Mythos bereits eine frühe Form der Aufklärung darstellten, so bereiten bestimmte Elemente des Christentums bereits den späteren Aufstieg der Naturwissenschaften mit vor. Indem in Gestalt Jesu Christi Gott Menschengestalt angenommen hat, ist durch diesen Akt auch der Mensch indirekt vergöttlicht. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zitiert die Ebenbildlichkeit des Menschen gegenüber Gott aus dem Ersten Buch Moses und spricht dem Menschen Göttlichkeit zu. Der Mensch wird dadurch stark aufgewertet, weshalb oft vermutet wurde, dass die wissenschaftliche und technologische Aneignung der Welt ebenfalls durch das Christentum mit vorbereitet worden ist. Hierbei muss allerdings bedacht werden, dass sich diese Verbindung nur unter Ausschaltung anderer Glaubenssätze der christlichen Lehre behaupten lässt. Weil die Göttlichkeit des Menschen im Christentum nur in Demut, also in der Nachfolge des Leidensweges Jesu Christi realisiert werden kann, geht sie sofort verloren, sofern sie aktiv als Macht und Wirkung angestrebt wird.
Gleichwohl existiert eine Verbindung zwischen dem Christentum und der modernen technischen Welt. Die heilsgeschichtliche Erwartung des Judentums und Christentums und der lineare Begriff von Zeit, auf dem beide Religionen beruhen, haben den Fortschrittsglauben der Aufklärung mit vorbereitet. Lange bevor europäische Staaten die geschichtliche Dynamik durch Handel und Industrialisierung beschleunigten, war sie bereits in der Idee christlicher Heilsgeschichte vorformuliert. So schreibt der Religionsphilosoph Jacob Taubes:
„War Fortschritt einst bei Paulus als Tilgung der Sündenspur exponiert, so konnte Fortschritt verzeitlicht zum Index für die Entwicklung von Gas, Dampf und Elektrizität werden.“ (16)
Auch die für die Naturwissenschaften entscheidende Vorstellung eines der gesamten Wirklichkeit zugrunde liegenden naturgesetzlichen Prinzips wurde durch den Glauben an den einen Gott mit ermöglicht. Nach jüdischer und christlicher Vorstellung hat Gott die Welt aus seinem Wort erschaffen, was den Gedanken nahelegt, dass Gottes Wort prinzipiell in allen Phänomenen anwesend und aufspürbar sei. (17) Die naturwissenschaftliche Grundannahme, nach der die Verschiedenheit der Welt auf einheitliche Gesetze zurückgeführt werden könne, war somit durch die Schöpfungstheologie des Christentums bereits vorbereitet worden. Die christliche Gottesvorstellung legte zudem eine Distanz zwischen dem Gott und seiner Schöpfung zugrunde, die es in der frühen Neuzeit den ersten Naturwissenschaftlern erlaubte, die Welt ebenfalls aus einer Distanzposition heraus zu analysieren. Auf diese Weise bereitete der christliche Gottesbegriff die Abstraktionen des naturwissenschaftlichen Denkens zum Teil mit vor. Doch obwohl der christliche Gottesbegriff den späteren Aufstieg der Naturwissenschaft mit ermöglicht hat, ist das Christentum selbst gemäß seiner Glaubensinhalte etwas grundsätzlich anderes als die technisch-naturwissenschaftliche Welt.
Die spätantike Gnosis
Die spätantike Gnosis ist die dritte Religionsform, die die abendländische Kultur beeinflusst hat. Die Entstehung der Gnosis erfolgte in der Spätantike. Es handelte sich um eine Interpretation der Evangelien, die stark mythologische Elemente aufwies, ja vielleicht den Punkt markierte, an dem der christliche Monotheismus erneut in Mythologie zurückfiel. Gleichwohl ist die Gnosis als Denk- und Interpretationsmöglichkeit bereits in der biblischen Lehre angelegt. Die Dialektik der Gottesvorstellung scheint die Entstehung der Gnosis begünstig zu haben. Und auch als die spätantike Gnosis von der Kirche verfolgt und erfolgreich unterdrückt worden war, schien die Gnosis eine Variante theologischer Entwicklung zu bleiben. Jedenfalls hat der Verdacht, eine bestimmte Denkweise oder Weltanschauung gehöre der Gnosis an, die abendländische Ideengeschichte über Jahrhunderte hinweg begleitet.
Dies wird verständlich, wenn wir uns die dialektische Entwicklung vergegenwärtigen, die hinter der Entstehung der Gnosis stand. Der jüdische Gott ist noch in erster Linie ein Schöpfergott, dessen Erlösungskraft sich durch das Erscheinen des Messias vor allem irdisch realisiert. Nun geriet das Judentum über die Jahrhunderte in eine Krise, weil der Messias nicht erschien. Es war daher konsequent, sein Erscheinen zu behaupten. Das Christentum, welches das Erscheinen des Messias bezeugt, kann deshalb als die dialektische Konsequenz aus der Krise verstanden werden, in die das Judentum durch das Ausbleiben der prophetischen Erwartung geraten war. Dabei ist es zu einer strukturellen Verschiebung im Verhältnis von Gott, Welt und Mensch gekommen. Das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung hat sich im Übergang vom Judentum zum Christentum gelockert, während gleichzeitig die Interaktion zwischen Gott und der einzelmenschlichen Seele zugenommen hat. In gewisser Weise hat sich der Schwerpunkt von der Schöpfung auf die Erlösung verlagert. So tritt an die Stelle der formalen Einhaltung der Gesetze im Judentum der Gewissensbezug der christlichen Lehre. Die innerseelische Wirklichkeit wird gegenüber der äußeren Welt aufgewertet.
Aber auch das frühe Christentum geriet seinerseits schon nach wenigen Jahrzehnten durch das Ausbleiben des unmittelbar erwarteten Jüngsten Gerichts in eine Krise. Zwar hatte mit der Kreuzigung und Auferstehung Christi eine Zwischenzeit begonnen. Diese wurde jedoch anfangs lediglich als kurze Frist aufgefasst. So war die Mission des Paulus eine sehr hastige Mission, da er das Eintreten des Jüngsten Gerichts noch zu Lebzeiten erwartete. Doch schon nach wenigen Jahrzehnten ließ der reale Fortbestand der Welt einen Widerspruch in der christlichen Lehre scharf hervortreten. Denn es ist nicht unmittelbar einzusehen, warum der allmächtige Schöpfergott zugleich derjenige sein soll, der über seine Schöpfung richtet und sie durch ihre apokalyptische Vernichtung erlöst.
Die Gnosis der Spätantike hat aus diesem Widerspruch der frühen christlichen Lehre die Konsequenz gezogen, indem sie den Gott der Erlösung scharf vom Gott der Schöpfung trennte. Der Schöpfergott des Alten Testaments wurde von den Gnostikern als Demiurg eingestuft – als Pfuschergott –, der eine missratene Welt geschaffen hat, weil er selbst schlecht und unvollkommen ist. Dem gegenüber stand für die Gnostiker der neue, bis dahin unbekannte Gott als der Gott der Erlösung. Während der nun als Demiurg bewertete Gott des Alten Testaments den Tod geschaffen hat, sollte nach gnostischer Lehre der unbekannte Gott das ewige Leben bringen. Dieser unbekannte Gott hatte sich für die Gnostiker überhaupt das erste Mal in Jesus Christus offenbart und verkörperte gegenüber der missratenen Schöpfung das ganz Andere. Lediglich durch innere Selbsterfahrung der Gläubigen war der Gott der Erlösung mit der Welt verbunden, und durch die Erfahrung der eigenen seelischen Wirklichkeit können die Gläubigen die Erlösung innerlich vorwegnehmen.
Die Gnosis reagierte somit auf die Krise, in die das frühe Christentum durch Ausbleiben der Apokalypse gestürzt war. Gnosis heißt so viel wie „Wissen“, „Einsicht“. Die Gnostiker suchten die Erlösung im inneren Selbstbezug. Doch im Zuge dessen radikalisierten sie auch die apokalyptische Erwartung. Bleibt der Christ sogar in seiner Erwartung des Jüngsten Gerichts noch der Welt in dem Sinne verbunden, dass er ihre Widersprüche auf sich nehmen muss, sein Kreuz zu tragen hat, so beinhaltet die Gnosis die vollständige Abwendung von der Welt und ihrem Schöpfergott. Der theologische Gründervater der Gnosis, Marcion, zog daraus die Konsequenz, indem er alle Bezüge zur älteren jüdischen Tradition aus den Evangelien herausstrich. Der Religionsphilosoph Jacob Taubes betont jedoch, dass „die gnostische Negation der Geschichte […] in einer bestimmten geschichtlichen Konstellation entstanden“ ist. „Die Negierung von Geschichte in der Gnosis ist selbst geschichtlich zu begreifen.“ (18)
Darüber hinaus verwandelte Marcion das Christentum in eine mönchische Religion, die ausschließlich die Liebe zu Gott gestattete. Dabei gingen die Gnostiker sogar so weit, dass der Same aus der Welt zu schaffen sei. Dem lag wiederum die Erwartung zugrunde, dass man das Eintreten der Erlösung erzwingen könnte, wenn die Menschheit kinderlos ausgetrocknet würde. „Der Gedanke zu Ende gedacht heißt ja: die Welt aushungern, indem ihr der Same entzogen wird. Es ist eine das Weltende praktizierende oder exekutierende Kirche.“ (19) Indem man der Welt konsequent den Samen entzog, sollte das Jüngste Gericht aktiv herbeigeführt werden. Daraus folgt, dass es sich bei der Kirche Marcions um keine Volkskirche gehandelt haben kann, die von ihrem Nachwuchs leben konnte, sondern um eine Kirche der ständigen Mission, die ihre Anhänger stets neu rekrutieren musste.
Allerdings sind die Schriften Marcions nicht überliefert, da die spätantike Kirche sich durch die Gnosis in ihrer Existenz bedroht sah und deshalb eine vollständige Vernichtung der gnostischen Interpretation des Christentums anstrebte. Jedoch war die Auseinandersetzung mit der Lehre Marcions in der frühen Kirche so stark, dass man aus den Kommentaren und Streitschriften, insbesondere anhand der Texte Tertullians, fast das gesamte Evangelium Marcions rekonstruieren kann.
In gewisser Weise wird in der spätantiken Gnosis der eine Gott des Alten und Neuen Testaments in zwei Götter geteilt, von denen der eine die Welt und der andere den Geist repräsentiert. Die vollständige, ja fanatische Identifikation der Gnosis mit dem Geist und der innerpsychischen Wirklichkeit bei gleichzeitiger Zurückweisung der Welt wirkt heute auf uns nicht nur wie der Ausdruck eines neurotischen Bewusstseins, ja, es scheint fast die spiegelbildliche Umkehrung des naturwissenschaftlichen Weltbildes zu sein. Ähnlich wie im naturwissenschaftlichen Weltbild wird die Spannung zwischen Gott und Welt, Geist und Körper, Transzendenz und Immanenz durch die einseitige Auflösung des einen Pols unterschlagen und verdrängt.
Während die naturwissenschaftliche Denkweise die Möglichkeit von Gott, Geist und Transzendenz verneint und lediglich die Welt, Materie und den Körper als Realitäten ansieht, tendiert die Gnosis genau umgekehrt dazu, das baldige Ende der materiellen Welt zu predigen und somit der Materie, der Welt, dem Körper und der Immanenz ihre Bedeutung abzusprechen. Gemeinsam ist jedoch beiden gedanklichen Systemen, dass sie die Spannung zwischen Gott und Welt, Geist und Körper, Transzendenz und Immanenz auflösen, indem sie behaupten, einer der beiden Pole würde nicht wirklich existieren bzw. würde bald aufhören zu existieren.
Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund stellt, ist, ob die naturwissenschaftliche Weltsicht Züge einer spiegelbildlich verkehrten Gnosis aufweist? Kann überhaupt von einer gnostischen Geisteslage die Rede sein, wenn die Pole sich vertauschen? Im Prinzip ja, nämlich dann, wenn auch diese spiegelbildlich verkehrte Gnosis eine Befreiung und Herauslösung der menschlichen Innenwelt aus der Ambivalenz unserer materiellen Existenz anstrebt. Und tatsächlich gibt es innerhalb der heutigen Naturwissenschaften weltanschauliche Strömungen, die mit den Mitteln der Technologie eine Verlängerung unserer Lebensspanne anstreben, ja überhaupt von der Herauslösung des menschlichen Bewusstseins aus dem irdischen Körper träumen. Diese Strömungen sind besonders in den USA und dort besonders im Silicon Valley populär geworden. Alljährlich treffen sich ihrer Anhänger auf dem Burning Man Festival in der Wüste von Nevada. „Die dort zelebrierte ‚kalifornische Ideologie‘ […] hat Wurzeln zum einen in der Hippiekultur der 1960er Jahre, zum anderen im militärisch-industriellen Komplex, der seit den fünfziger Jahren im Silicon Valley einen wichtigen Stützpunkt hat.“ (20) Diese Mischung aus Gegenkultur, Computerbesessenheit und militärischer Forschung hat eine Ideologie erzeugt, die heute auch unter dem Namen Transhumanismus bekannt geworden ist.
Der Transhumanismus propagiert einerseits offen die Überwindung aller körperlichen Limitierungen durch Technologie, während er andererseits alle zivilisatorischen Probleme durch Technik lösen möchte. Im Konfliktfall zwischen den Ansprüchen der Zivilisation und denen der Technik gibt er letzterer immer den Vorrang, ja der Transhumanismus verlangt im Grunde genommen, dass sich die Zivilisation zur Gänze der Technologieentwicklung unterzuordnen habe. So wird von vielen Transhumanisten die Aussicht, dass die künstliche Intelligenz den Menschen eines Tages ablösen könnte, sogar positiv bewertet. (21) In der transhumanistischen Lehre gibt es keinen Bereich unserer Lebenswirklichkeit, der nicht durch Technologie verbessert werden könnte. Von der Lebensspanne, über die Intelligenz und das Gedächtnis bis hin zur Epigenetik glaubt der Transhumanismus, alle Bereiche unseres Körpers technologisch aufrüsten zu können. Ja, es gibt bereits Überlegungen, dass eines Tages sogar das Bewusstsein selbst mit einer Maschine verbunden werden könnte. Wäre es dem Bewusstsein möglich, seine kohlenstoffbasierte „Wetware“ gegen eine siliziumbasierte „Hardware“ zu vertauschen, so wäre der transhumanistische Traum von der Unsterblichkeit beinahe erreicht. (22) Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob diese Phantasien realisiert werden können. Entscheidend ist, dass sie geglaubt werden. Der Begriff Transhumanismus selbst gibt bereits zu verstehen, dass eine derartige Überlappung von Mensch und Maschine mit einer Preisgabe der Menschlichkeit verbunden wäre.
Begegnen uns also in der Vorstellungswelt des Transhumanismus die geheimen Traumenergien wieder, die bereits der Technik zugrunde liegen und die ihren ersten Ausdruck in den Träumen und Wünschen der vorgeschichtlichen Magie gefunden haben? Markiert die aktuelle technologische Revolution wie bereits Adorno und Horkheimer gemutmaßt haben den Übergang in eine neue mythologische Gesellschaftsordnung? Oder hat im Transhumanismus der alte gnostische Traum aus der Spätantike, der auf die Scheidung von Geist und Materie abzielte, eine neue – nämlich technisch-wissenschaftliche – Form gefunden? Ist der Transhumanismus vielleicht sogar eine neue Variante des spätantiken Versuchs, das Jüngste Gericht aktiv herbeizuzwingen, indem der herkömmliche Mensch durch technologische Aufrüstung für obsolet erklärt wird?
Die Aktualität der monotheistischen Kulturrevolution
Es ist jedenfalls erstaunlich, wie fast alle Widersprüche und Ambivalenzen unserer heutigen Zivilisation in der antiken Welt wiedererkannt werden können. Die Religionsgeschichte der Antike hat bis heute ihre Relevanz behalten. In gewisser Hinsicht ist unsere gegenwärtige Situation mit der antiken Situation durchaus vergleichbar und kann somit auch mit den verschiedenen religiösen Strömungen der antiken Welt verglichen werden.
Ähnlich wie in der vorchristlichen Welt sieht sich der heutige Mensch erneut in einen Immanenzzusammenhang verstrickt, aus dessen innerer Logik es praktisch kein Entkommen gibt. Eingeschüchtert vom Reduktionismus, Materialismus und Determinismus des naturwissenschaftlichen Weltbildes hat der Mensch seine Identität als Träger von Bewusstsein fast gänzlich aufgegeben. Er hat sich daran gewöhnt, sich selbst als bloßen Organismus, ja, als eine biologische Maschine inmitten einer Maschinenwelt zu begreifen. Der Dualismus des christlichen Weltbildes wurde durch die monistische Weltwahrnehmung der Naturwissenschaften abgelöst. Die im christlichen Weltbild abgebildete Spannung zwischen Außen- und Innenwelt wurde durch einen Totalitarismus der Außenwelt ersetzt.
Vor dem Hintergrund dieser Kulturveränderung vollzieht sich heute eine technologische Revolution, die noch die letzten verbliebenen Winkel unserer seelischen Existenz durch permanente Datensammlung mathematisch erfassen möchte. Nach menschlichem Ermessen kann die flächendeckende Totalüberwachung durch Datamining, künstliche Intelligenz, 5G und das Internet der Dinge kaum noch aufgehalten werden. Ist das Überwachungsnetz erst einmal flächendeckend installiert und hat sich jeder Kühlschrank und jeder Lichtschalter in einen Überwachungssensor verwandelt, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Errungenschaften der Französischen Revolution und die Freiheitsrechte der Aufklärung nach und nach abgebaut werden.
Es ist kaum vorstellbar, dass Informationen über nahezu alle Vorgänge in der Gesellschaft in so großem Maße zentralisiert werden könnten, ohne dass dies machtpolitische Auswirkungen auf die Grundlagen des politischen Systems hätte. Die derzeitige technologische Revolution zielt darauf ab, den Menschen insgesamt berechenbar zu machen. In dem Maße, in dem das gelingt, werden auch gesellschaftliche Entwicklungen zunehmend prognostizierbar. Doch damit wird dem Menschen genau jener Aspekt seines Wesens abgesprochen, der ihn als Menschen konstituiert, nämlich das Bewusstsein seiner Freiheit und das Bewusstsein von der Unverfügbarkeit seiner Innenwelt.
Ein Menschenbild, welches jedoch diese beiden Aspekte menschlicher Selbsterfahrung ins Zentrum gestellt hatte, formte sich erstmals mit dem Aufkommen des Monotheismus und bildete seit dem 18. Jahrhundert die Grundlage der Aufklärung. Obwohl viele Aufklärer als Kritiker der Kirche auftraten, war die Aufklärung selbst durch das Christentum überhaupt erst ermöglicht worden. Viele theologische Grundannahmen des Christentums wurden durch die Aufklärung in eine moderne Sprache übersetzt. So transformierte sich die christliche Gleichheit vor Gott in eine säkulare Gleichheit vor dem Gesetz, die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott wurde die Grundlage seiner Menschenwürde, aus der sich die Menschenrechte ableiteten, und aus der heilsgeschichtlichen Erwartung des Christentums erwuchs schließlich der Revolutions- und Fortschrittsglaube der Neuzeit.
So war es gerade die kulturelle Prägung durch das Christentum, welche das Zeitalter der Aufklärung zugleich zum Zeitalter der Revolution machte. Es begann in der Renaissance, die bereits in Gestalt des deutschen Bauernkrieges einen großen Revolutionsversuch erlebte, auf den nur etwas mehr als eine Generation später der holländische Aufstand folgte. Im 17. Jahrhundert kam es schließlich zur Englischen Revolution, die wiederum als Vorbild für die Amerikanische gilt, welche wiederum die Französische Revolution inspirierte. Diese wiederum setzte Energien frei, die einerseits zur Entstehung nationaler Identitäten, andererseits zur Entwicklung der Arbeiterbewegung und schließlich zur Oktoberrevolution von 1917 führen sollten. Dabei fußten diese Revolutionen neben den Errungenschaften der Aufklärung und des Humanismus auch auf dem Erbe des Christentums. Denn erst das Christentum hatte den linearen Zeitbegriff geprägt sowie dem Menschen erst den Wert zugesprochen, durch den die Gedanken der Aufklärung, des Humanismus und des Republikanismus überhaupt aufkommen konnten. Gerade dort, wo die neuzeitliche Entwicklung freiheitliche Potenziale freisetzte und die Gleichheit und Würde des Menschen betonte, gerade dort stellten diese sehr häufig ein Säkularisierungsphänomen des Christentums dar.
Wenn jetzt der Gang der technischen Entwicklung das christliche Menschenbild wieder aufhebt, welches einst Aufklärung, Revolution und Fortschritt ermöglicht hatte, dann zeigt dies deutlich, dass das Christentum nicht die wesentliche Quelle dieser Entwicklung sein kann. Das sich gegenwärtig ankündigende postchristliche Zeitalter muss deshalb seinen Ursprung in einer der beiden anderen besprochenen religiösen Überlieferungen haben, entweder im Mythos oder in der Gnosis.
Für den Mythos spricht der Rückfall in Unbewusstheit, welcher oft mit dem Siegeszug von Technik und Naturwissenschaft einhergegangen ist. So wie einst vorgeschichtliche Gesellschaften ihr Leben unter einem unaufhebbaren Opferzwang vollziehen mussten, so lebt der moderne Mensch am Beginn des 21. Jahrhundert erneut unter der Drohung, dass der Nihilismus des naturwissenschaftlichen Weltbildes sich in eine inhumane zivilisatorische Ordnung übersetzt. Auch die naturwissenschaftliche Weltanschauung verlangt insofern „Opfer“, als sie keinen Raum für das Wissen vom menschlichen Bewusstsein und seinem Freiheitspotenzial zulässt, ja dessen Vorhandensein sogar bestreitet, weshalb der technologische Fortschritt auch mit großer Konsequenz beides aufhebt.
Man kann diese Entwicklung ähnlich interpretieren, wie Horkheimer und Adorno es in der Dialektik der Aufklärung getan haben, nämlich dass die europäische Zivilisation nach fast 2000 Jahren christlicher Prägung, nach einem halben Jahrtausend wissenschaftlicher Forschung und drei Jahrhunderten der Aufklärung erneut in ein mythisches Zeitalter eintritt. Diese neu anbrechende Epoche ist deshalb als mythisch einzustufen, weil sich in ihr der Mensch immer weniger in ein Verhältnis zu der Zivilisation zu stellen vermag, die ihn hervorgebracht hat. Die Zivilisation selbst wird in diesem Fall zu einer Art zweiten Natur, deren bloßes Sein hingenommen wird, ganz ähnlich wie der vorgeschichtliche Mensch das Walten der Naturmächte hingenommen hat.
Doch der durch den technischen Fortschritt ausgelöste Rückfall in eine mythische, nämlich als alternativlos empfundene Welt hat nicht für alle Menschen die gleichen Konsequenzen. Während der Großteil der Gesellschaft – sagen wir 99,999 Prozent der Menschen – sich der Digitalisierung gar nicht entziehen kann und die Kontrolle über seine Daten verliert, gibt es eine kleine Gruppe, die sich auf der anderen Seite dieser großen Überwachungsmaschinerie befinden wird. Für sie stellt die neue Welt des 21. Jahrhunderts etwas anderes dar. Sie sehen sich als diejenigen, die durch mathematische Vermessung der menschlichen Gesellschaft in eine Position der Macht und damit der Selbsterlösung kommen. Transhumanismus ist für sie das ersehnte Ziel, welches letztlich die moderne Variante der gnostischen Erlösung darstellt.
Wir haben es somit mit einer dreifachen Veränderung zu tun. Während das Christentum als praktizierte Religion sich allmählich auflöst und auch das säkularisierte Christentum, das als Fortschrittsglaube noch das 19. und 20. Jahrhundert zu prägen vermochte, an das Ende seiner Entwicklung gekommen zu sein scheint, sehen wir die Wiederkehr älterer Schichten religiösen Bewusstseins; nämlich die Wiederkehr einer sowohl mythischen als auch gnostischen Geisteslage. Beides verkörpert sich in der freiheitsfeindlichen Entwicklung des technischen Fortschritts.
Für die Mehrzahl der Menschen bedeutet die technologische Entwicklung den Verlust an Freiheit und Würde und somit die langsame Wiederkehr einer mythischen Bewusstseinslage. Für sie beginnt unter dem Einfluss der neuen Technik die Wirklichkeit erneut in verschiedene Einzelbereiche zu zersplittern. So sind die heutigen Massenmedien davon geprägt, dass die Schrift als Medium gesellschaftlicher Debatten allmählich durch den Siegeszug des Bildes in den neuen Medien abgelöst wird. Doch mit der Schrift schwindet nicht nur die Fähigkeit zur Lektüre, sondern auch die zum komplexen Denken. Und zur alltäglichen Informationsflut, die an sich schon zur Senkung der Aufmerksamkeitspanne führt, kommt noch die Wirkung der Algorithmen hinzu. Was als individualisierte Werbung begonnen hat, setzt sich unter veränderten politischen Umständen als individualisierte Propaganda fort. All dies bedingt, dass die Fähigkeit, die Welt als einen historisch geformten Zusammenhang zu begreifen, im Abnehmen begriffen ist. Die Gesellschaft als Ganzes wird auf diese Weise empfänglicher für ein neues mythisches Bewusstsein.
So haben wir es heute zunehmend mit einer Gesellschaft zu tun, die zum großen Teil nur noch auf mediale Signale reagiert und von Ängsten bald in die eine und bald in die andere Richtung getrieben wird. Die einzelnen Medienkampagnen sind oft emotional aufgeladen, beleuchten oft nur Fragmente der Wirklichkeit und lösen sich in dichter Folge ab. So genügen häufig nur zwei Monate, um ein zuvor allseits präsentes Medienthema in Vergessenheit geraten zu lassen. Eine wirkliche Orientierung in weltlichen und geschichtlichen Zusammenhängen kann sich auf diese Weise nur noch vereinzelt aufbauen. Ein Bewusstsein von der Sonderstellung des Menschen als Bewusstseinswesen und seine damit verbundene Rolle innerhalb der Geschichte kann sich unter diesen Umständen kaum mehr herausbilden. Relativ leicht könnte sich in einer solchen Gesellschaft das Denken in Ableitungsketten und die Wiederkehr eines Opferzwangs erneut etablieren. Der Rassenwahn der Nationalsozialisten mit ihrem Kult um Blut, Rasse und Boden ist ein Beispiel einer solchen Regression. Doch auch die allgemein vorausgesetzte politische Korrektheit unserer Gegenwart erscheint wie die Manifestation eines zuweilen zwanghaften und nicht immer vernunftbasierten Denkens. (23)
Doch an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide sehen wir eine andersgeartete Veränderung. Auch hier ist zu beobachten, wie die Einflüsse des Christentums sowohl in religiöser als auch in säkularisierter Gestalt allmählich zurücktreten. Auch hier ist die Wiederkehr einer älteren religiösen Geisteslage erkennbar. Nur ist es diesmal keine mythische, sondern eher eine gnostische. Statt wie die Mehrheit der Gesellschaft in eine mythische Unbewusstheit zurückzusinken, entwickeln einige wenige gesellschaftliche Eliten sich allein durch den Gang der Vermögensverteilung allmählich zu einer neuen Aristokratie. Als solche besitzen sie ein hochentwickeltes Klassenbewusstsein, das sich leicht mit einer gnostischen Erlösungs- und Elitevorstellung verbinden könnte. Doch anders als die christliche Erlösungsvorstellung ist von dieser nicht zu erwarten, dass sie sich an alle Menschen richtet. Diese neue Aristokratie dürfte in der Mehrheitsgesellschaft eher eine Bedrohung ihres Reichtums sehen, als dass sie sich an sie gebunden fühlte. Sie könnte deshalb versucht sein, sich mittels technischer Entwicklung sowohl von den Einschränkungen unserer biologischen Existenz als auch von ihren Bindungen an die Gesamtgesellschaft zu befreien. Ein gnostischer Transhumanismus bzw. eine transhumanistische Gnosis böte sich als die Ideologie an, die die Erreichung beider Ziele verspricht.
Zwar hat auch das Christentum Anteil am Aufstieg der Naturwissenschaften. Die Schöpfungstheologie des Monotheismus etablierte überhaupt erst die Vorstellung einer einheitlichen Welt, aus der später die Möglichkeit erwuchs, über die Welt als Ganzes nachzudenken, sie nach einheitlichen und abstrakten Prinzipien zu erforschen. Dennoch stellt das Christentum insgesamt ein Gegengewicht zum mythisch-gnostischen Großprojekt unserer gegenwärtigen Zivilisation dar. Die Grundsätze des christlichen Weltbildes, wie zum Beispiel die von ihm behauptete Würde des Menschen als Bewusstseinswesen, die Unverfügbarkeit seiner Innenwelt, seine Verantwortung und Rolle im Geschichtslauf, seine Freiheit, die auch die potenzielle Abkehr von Gott mit einschließt, seine prinzipielle Ebenbildlichkeit zu Gott, die aber nur in Demut – nämlich in der Nachfolge Christi – angeeignet werden kann: All diese Aspekte des christlichen Weltbildes stehen grundsätzlich im Widerstreit zur technisch-wissenschaftlichen Eroberung unserer Innen- wie auch Außenwelt.
Das Erbe des Christentums stellt somit einen Stolperstein dar. Seine Lehre enthält etwas, das quer steht zur technologisch-wissenschaftlichen Eroberung der menschlichen Seele. Durch seine erneute Aneignung könnten zumindest theoretisch die anmaßenden Ansprüche der gegenwärtigen technischen Revolution hinterfragt und das dahinter stehende Menschen- und Gesellschaftsbild bestritten werden. Ja, die monotheistische Kulturrevolution, die sich einst in der antiken Welt ereignet hat, ist heute erneut von herausragender Aktualität. Sie könnte erneut studiert und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung neu verstanden werden.
Doch praktisch erscheint eine solche Anknüpfung an das Christentum nur sehr schwer vorstellbar, weil die christliche Lehre bereits zu sehr aus unserer modernen Lebenswelt verschwunden ist; so sehr, dass bereits die Thematisierung der christlichen Theologie bei etlichen Menschen Unverständnis hervorruft.
Warum das Christentum dennoch wichtig ist, warum auf sein Erbe gerade heute nicht verzichtet werden kann, warum es so umkämpft ist und welche Bedeutung es in den vergangenen Kulturkämpfen eingenommen hat und in zukünftigen noch spielen könnte, überschreitet den Rahmen dieser Erörterung und wäre das Thema eines ganz neuen Essays.
Über den Autor: Hauke Ritz promovierte im Fach Philosophie und publiziert insbesondere zu Themen der Geopolitik und Ideengeschichte. Sein Buch "Der Kampf um die Deutung der Neuzeit" erschien 2015 in zweiter Auflage. Der vorliegende Essay knüpft an einen Vortrag an, welchen der Autor am 11. November 2019 auf der Konferenz "Technologieentwicklung, Kapitalismus und die Gesellschaft – Progress oder Dehumanisierung?" der Rosa Luxemburg Stiftung in Moskau gehalten hat.
Anmerkungen
(1) „Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis [nachahmende Darstellung], nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt.“ Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969, S. 17
(2) Vgl.: Günther Anders, Endzeit und Zeitenende – Gedanken über die atomare Situation, München 1972
(3) Edward Snowden, Permanent Record, Frankfurt a. M. 2019, S. 348
(4) Vgl.: Thomas Nagel, Geist und Kosmos – Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2014
(5) Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1920 / Nachdruck 1988, S. 605
(6) Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 9
(7) Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus – Wieviel erklärt uns die Hirnforschung, Heidelberg 2012, S. 45 - 51
(8) Vergleiche hierzu Walter Benjamin: „Eine Ordnung aber, deren einzige konstitutive Begriffe Unglück und Schuld sind und innerhalb derer es keine denkbare Straße der Befreiung gibt, (denn soweit etwas Schicksal ist, ist es Unglück und Schuld) – eine solche Ordnung kann nicht religiös sein, so sehr auch der missverstandener Schuldbegriff darauf zu verweisen scheint.“ Walter Benjamin, Schicksal und Charakter in: Gesammelte Schriften Bd. II -1, Frankfurt a.M. 1991, S. 174
(9) Klaus Heinrich, Die Funktion der Genealogie im Mythos, in: Parmenides und Jona, Frankfurt a.M. 1982, S. 14
(10) Paul Tillich, Die sozialistische Entscheidung, Offenbach a. M. 1948, S. 25
(11) Klaus Heinrich, Tertium Datur – Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, Frankfurt a. M. 1987, S. 101 ff.
(12) Klaus Heinrich, Die Funktion der Genealogie im Mythos, in: Parmenides und Jona, Frankfurt a.M. 1982, S. 14
(13) Ebd., S. 18 f.
(14) Ezechiel, 18, 19-21, Züricher Bibel 1942, S. 835
(15) Die Vorstellung, dass der Mensch innerhalb der Natur eine Sonderstellung einnimmt, löst heutzutage schnell Widerspruch aus. Der Vorwurf steht im Raum, die biblische Annahme, nach der der Mensch über die Natur herrschen soll, habe zur heutigen Ausbeutung der Natur geführt. Oft wird dies mit der Forderung verknüpft, der Mensch solle sich erneut in die Natur einfügen. Dabei wird aber unterschlagen, dass das Bewusstsein des Menschen ganz andere Qualitäten aufweist als man es selbst bei relativ hoch entwickelten Tieren beobachten kann. Nur der Mensch kann philosophische Fragen erforschen, Weltzusammenhänge erfassen und aus einer zunächst abstrakten Erkenntnis wiederum Verantwortung ableiten. Nur der Mensch kann sich vergangene Jahrhunderte vergegenwärtigen, hieraus politische Positionen gewinnen, die wiederum zu einem politischen Engagement führen. Nur der Mensch kann Scham, Schuld, Tragik und Erhabenheit empfinden, Kunstwerke erschaffen und in ihrer Rezeption wiederum Schönheit erfahren. Aufgrund dieser Bewusstseinsqualitäten kann der Mensch sich nicht mehr einfach in die Natur einfügen. Er ist unwiderruflich aus dieser herausgefallen. Leugnet der Mensch den qualitativen Sprung, der sich zwischen ihm und dem Tier vollzieht, so betrügt er nicht nur sich selbst, sondern auch das Tier. Sich selbst betrügt er, weil er ohne Anerkenntnis seiner Sonderstellung nie die Rolle wird annehmen können, die ihm durch sein Bewusstseins auferlegt ist, nämlich die eines verantwortungsvollen Hirten und Gärtners gegenüber der Natur. Das Tier betrügt er, weil ja auch das Tier eines fernen Tages davon profitieren könnte, dass auf diesem Planeten zumindest ein Lebewesen existiert, das Weltzusammenhänge erfassen kann. Die Naturzerstörung unserer Gegenwart hat ihre Ursache nicht in der Selbsterkenntnis des Menschen als Bewusstseinswesen, sondern umgekehrt in der Verdrängung und Leugnung dieser Selbsterkenntnis.
(16) Jacob Taubes, Von Fall zu Fall – Erkenntnistheoretische Reflexion zur Geschichte vom Sündenfall, in: Text und Applikation – Poetik und Hermeneutik, Bd. 9, München 1981, S. 116
(17) Klaus Heinrich, Vom Bündnis Denken – Religionsphilosophie, Dahlemer Vorlesungen, Bd. 4, Frankfurt a. M. 2000 S. 202
(18) Jacob Taubes, Der dogmatische Mythos der Gnosis, in: Vom Kult zur Kultur, München 1996, S. 111
(19) Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, S. 82
(20) Thomas Wagner, Robokratie – Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell, Köln 2015, S. 23 ff.
(21) Ebd., S. 133
(22) Ebd., S. 35
(23) So gehört es zum Wesen der politischen Korrektheit, dass in diesem Weltbild bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die als unterdrückt wahrgenommen werden, positiv bewertet werden und andere Gruppen, die als Vertreter der mutmaßlich unterdrückenden Mehrheitsgesellschaft eingestuft werden, umgekehrt negativ eingestuft werden. Ausgehend von diesen Kategorien werden dann ähnlich wie im genealogischen System der Mythologie Ableitungsketten entworfen. So ist es im Wertesystem der politischen Korrektheit nicht zulässig, dass ein Mann sich zu Frauenthemen äußert, ein Heterosexueller über Homosexualität spricht, ein Einheimischer seine Interessen gegenüber Zuwanderern vertritt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe entscheidet darüber, wie schuldbeladen ein Mensch ist und welche Geltung seine Aussagen überhaupt haben können. Der Grundsatz der Aufklärung, nach dem eine Aussage unabhängig von ihrem Sprecher einzig alleine anhand der Gültigkeit des besseren Arguments zu bewerten wäre, wird aufgekündigt. Die politische Korrektheit weist somit bereits Elemente auf, die zum Ausgangspunkt einer zukünftigen Mythologie werden könnten.
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