Waleri Gergijew | Bild: picture alliance / EPA | Robert Ghement

Gergijew muss gehen – ein fatales Signal

Am Ende war es keine Überraschung mehr. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hat dem mit Abstand prominentesten Angestellten seiner Stadt mit sofortiger Wirkung gekündigt. Waleri Gergijew, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, muss gehen. Der mit Wladimir Putin seit langem befreundete Künstler hatte ein Ultimatum Reiters, sich vom Kriegskurs des russischen Präsidenten zu distanzieren, unbeantwortet gelassen. Die Entscheidung der Stadt München ist in mehrfacher Hinsicht fatal und ein böses Omen für die deutsch-russischen Kulturbeziehungen.

ULRICH TEUSCH, 1. März 2022, 7 Kommentare, PDF

Waleri Gergijew ist ein Weltklasse-Dirigent und begnadeter Musik-Manager. Seit 1996 leitet er das Sankt Petersburger Mariinski-Theater samt dortigem Orchester. Unter seiner Leitung erarbeiteten sich das Haus und sein Klangkörper eine hohe internationale Reputation und erreichten ein künstlerisches Niveau wie vielleicht nie zuvor in ihrer langen Geschichte. Neben seiner Tätigkeit in Sankt Petersburg war Gergijew stets Chefdirigent eines weiteren Spitzenorchesters, so etwa des London Symphony Orchestra und seit 2015 der Münchner Philharmoniker. Er hat einige bedeutende Festivals aus der Taufe gehoben und leitet sie, er kümmert sich um die Förderung des künstlerischen Nachwuchses, also um Dirigenten, Geiger, Pianisten, Sänger... Seine wohl berühmteste Entdeckung ist die Sopranistin Anna Netrebko.

Der aus Nordossetien stammende Gergijew ist vermutlich der gefragteste und meistbeschäftigte Dirigent überhaupt. Seit Jahren stemmt er ein ungemein strapaziöses Programm, ist beinahe jeden Abend irgendwo auf der Welt im Einsatz. Spötter sagen, dass Gergijew wahrscheinlich gar nicht mehr wisse, in welcher Zeitzone er sich gerade befindet. Weil er immer wieder für musikalische Sternstunden sorgt, über ein imponierendes Repertoire verfügt und zahlreiche Einspielungen, darunter etliche Referenzaufnahmen, vorgelegt hat, gilt er vielen als das Nonplusultra in der Dirigentenwelt.

Der Putin-Freund

Trotz seiner außerordentlichen und von kaum jemandem bezweifelten künstlerischen Qualität – unumstritten ist Gergijew nicht. Das hat allein politische Gründe und hängt zusammen mit seiner engen, freundschaftlichen Beziehung zu Putin. Den heutigen russischen Präsidenten kennt und schätzt Gergijew noch aus dessen Sankt Petersburger Tagen. Er hat den politischen Kurs Putins des Öfteren unterstützt, insbesondere – zusammen mit anderen Künstlern des Landes – das russische Vorgehen auf der Krim 2014 gutgeheißen.

Schon Gergijews Amtsantritt in München 2015 war von Kontroversen begleitet, die sich um die Frage drehten, ob man es tatsächlich verantworten könne, einen Putin-Freund zum Chef der Münchner Philharmoniker und damit zum Kulturbotschafter der ach so weltoffenen und liberalen Isar-Metropole zu machen. Gergijew ließ die reichlich kleinkarierte und streckenweise peinliche Diskussion mit erstaunlicher Gelassenheit über sich ergehen, gab eine versöhnliche öffentliche Erklärung ab, trat sein Amt an und hat seither so einiges getan, um das Musikleben der bayerischen Landeshauptstadt und ihres Speckgürtels auf Trab zu bringen.

Reiter versus Gergijew

Gedankt hat man es ihm nicht. Statt nach der russischen Invasion das vertrauensvolle Gespräch mit ihm zu suchen, ist Oberbürgermeister Dieter Reiter gleich in die Offensive gegangen und hat seinem Dirigenten ein Ultimatum gestellt. Dass Gergijew die ihm gesetzte Frist hat verstreichen lassen, ist nur zu verständlich. Was hätte er tun sollen? Die Möglichkeit, sich von Putins Kriegskurs seriös zu distanzieren, hat Reiter ihm genommen. Wohl niemand hätte ein negatives Urteil Gergijews für glaubhaft gehalten. Allenthalben wäre gemutmaßt worden, dass er sich nur dem Druck gebeugt habe, um seinen lukrativen Münchner Job nicht zu verlieren.

Auch die Frage, ob Gergijew sich denn überhaupt von Putin hätte absetzen können, ohne in Russland massiv Schaden zu nehmen, hat sich Reiter offenbar nicht gestellt. Hätte das „System Putin“ eine Distanzierung Gergijews vom Ukraine-Krieg toleriert? Oder hätte er mit Sanktionen rechnen müssen? Hätte er sich am Ende gar zwischen München und Sankt Petersburg, zwischen Deutschland und Russland, entscheiden müssen? Wer, wie Dieter Reiter, doch wohl davon ausgeht, dass es sich beim politischen System Russlands um eine bösartige Autokratie handelt, hätte diesen Aspekt zumindest mitbedenken können.

Ein neuer eiserner Vorhang?

Obwohl sich Gergijew (Stand 1.3.2022) zur russischen Ukraine-Intervention weder positiv noch negativ geäußert hat, scheint man allerorten zu wissen, wie er dazu steht. Denn auch andere Orchester, Opern- und Konzerthäuser verlangen von ihm eine klare Distanzierung oder warten diese gar nicht erst ab; sie beenden einseitig die Zusammenarbeit oder leiten deren Ende in die Wege: die Mailänder Scala etwa, die Carnegie Hall, die Wiener Philharmoniker, das schweizerische Verbier-Festival, das Baden-Badener Festspielhaus, die Hamburger Elbphilharmonie – allesamt Kunstinstitute, die über Jahre, zum Teil über Jahrzehnte vertrauensvoll mit Gergijew zusammengearbeitet haben und ihm so manches verdanken. Viele weitere werden in den nächsten Tagen und Wochen folgen. Es sieht aus, als würde Gergijew seine künstlerischen Aktivitäten bald auf Russland und einige wenige mit diesem noch verbündete Länder beschränken müssen.

Dass Musik eine Brücke zwischen den Nationen, zwischen den Kulturen sein könne, ist ein Credo Gergijews. Er wird ab sofort kaum noch Gelegenheiten finden, solche kulturellen Brücken zu bauen oder zu begehen. Gerade jetzt, da es wichtiger denn je wäre, nach Gemeinsamkeiten – etwa zwischen Deutschen und Russen – zu suchen oder sich bestehende Gemeinsamkeiten zu vergegenwärtigen, gerade jetzt, wo man sich klar machen müsste, dass die politischen Spannungen nicht zum Ende des Dialogs – auch des musikalischen – führen dürfen, gerade jetzt senden deutsche Politiker wie Dieter Reiter ein fatales Signal. Die Kunst wird politisch instrumentalisiert. Wobei Gergijew nur ein besonders prominenter Einzelfall ist. Dieser bedauerliche Kurs wird noch viele Opfer fordern, nicht nur auf kulturellem Gebiet, auch auf dem des Sports beispielsweise. Und wenn wir nicht achtgeben, wird sich in Europa wieder ein eiserner Vorhang senken und die Verständigungsbemühungen der letzten Jahrzehnte werden umsonst gewesen sein.

Zweierlei Maß

Obendrein ist die Causa Gergijew von einem hohen Maß an Heuchelei gekennzeichnet, von einem offenkundigen Messen mit zweierlei Maß, das allerdings selbstgerechten Akteuren wie Dieter Reiter nicht einmal ansatzweise bewusst zu sein scheint. Denn es gibt da viele andere Fälle, in denen sich Künstler für problematische Zwecke politisch engagiert haben oder politisch haben vereinnahmen lassen, ohne dass sie dafür in irgendeiner Weise zur Rechenschaft gezogen worden wären. Viele US-amerikanische Schauspieler haben die völkerrechtswidrigen Kriege ihres Landes offen unterstützt. Oder sie haben Präsidenten zugejubelt, die für diese Kriege, die für Folterpraktiken oder für Guantanamo verantwortlich waren. Oder sie haben einfach geschwiegen, obwohl sie das Unrecht erkannt hatten.

Wurde je ein Akteur aus Hollywood oder von der Metropolitan Opera öffentlich zur Rede gestellt oder gar ausgegrenzt wegen seiner Unterstützung Barack Obamas? Also jenes Präsidenten, der mehrere illegale Kriege gleichzeitig führte und sich Woche für Woche in den Situation Room des Weißen Hauses begab, um die nächste Tötungsliste des Drohnenterrors abzusegnen?

Nicht nur der Münchner Oberbürgermeister, auch viele andere sind derzeit mit einem schwer erträglichen moralischen Überlegenheitsgestus unterwegs. Sie sollten sich – bevor es zu spät ist – an den berühmten Satz Gustav Heinemanns erinnern: „Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst.“

A.F., 1. März 2022, 21:00 UHR

Mich ödet diese unfassbare Selbstgerechtigkeit nur noch an. Jeder, der noch irgendeine Verbindung zu Putin hat und so auch zu einer möglichen Verständigung z.B. über einen Waffenstillstand beitragen könnte, wird diffamiert und abgesägt. Kontaktschuld auch hier. Und das lässt Schlimmes befürchten, denn wer so tief in seinem Feindbild festsitzt, dem jegliche Rationalität und Begründung aus der vorherigen Geschichte abgesprochen wird, der greift seinerseits sicher lieber zu den Waffen als doch noch mal das Gespräch, die Diplomatie, den Ausgleich zu suchen. Diese Entwicklung ist in jeder Hinsicht Furcht erregend.

WILLI UEBELHERR, 2. März 2022, 00:30 UHR

Liebe Freunde, wie tief ist Ulrich Teusch in seinem Gejammer um die Fascho's in Deutschland gefallen? Und reißt er Multipolar gleich mit? Ich verstehe nicht, warum sich so viele so schwer tun, die Realität zu begreifen. Auch in den 1930er Jahren war es normal, die kulturellen Bereiche einer irren Ideologie zu unterwerfen, ohne Rücksicht auf irgendwelche qualitativen Kriterien. Und gerade die SPD war dabei immer an der vordersten Front.

Wir sehen bei diesem Schauspiel den Sumpf des parasitären politischen Überbaus. Das ist doch hilfreich. Und Waleri Gergijew braucht die verblödeten Deutschen wirklich nicht, um seine Musik zu organisieren. Auch nicht die lächerlichen Tempel versumpfter pseudo-intellektueller Kultur-Arenas. Waleri Gergijew ist kein Karajan.

Mit Grüßen, Willi, Asuncion, Paraguay

A.F., 2. März 2022, 10:50 UHR

Mich treibt noch ein anderer Gedanke um: Offenbar hat ja niemand all der Russland- und Putinkenner wirklich mit dieser Entwicklung gerechnet und alle fragen sich, auch ich, was ihn dazu gebracht hat, zu diesem verheerenden und insgesamt selbstzerstörerischen Schritt.

Also zuerst einmal sind da die unzähligen Vorschläge, Mahnungen, Hinweise Russlands und Putins, die ignoriert, verlacht und zurückgewiesen wurden. Dann die jahrelange Dämonisierung Putins, der, wie es einem vorkam, für alles Übel der Welt verantwortlich gemacht wurde, sehr oft mit zumindest fragwürdigen, um nicht zu sagen erfundenen Begründungen. Wenn man nun bedenkt, dass die transgenerationelle Weitergabe von Traumata eine lange bekannte Tatsache in der Psychologie und Putin der Sohn von Überlebenden der Hungerblockade Leningrads ist, bei der sein älterer Bruder als Säugling verhungerte, dann könnte man durchaus auf den Gedanken kommen, dass mit dieser jahrelangen faktischen Verhöhnung der Avancen Putins und Charakterisierung als quasi russischer Untermensch durch die westlichen Medien eine Art Retraumatisierung bewirkt wurde, die letztlich zu irrationalen Reaktionen führte. Also wieder eine immer weiter gehende Einkesselung Russlands mit Kriegsspielen an dessen Grenzen.

Ja, ich weiß, es ist verpönt, so etwas ins Feld zu führen (auch so eine kriegerische Formulierung!), aber auch Politiker sind Menschen und Russland bzw. die alte Sowjetunion ist letztlich ein zutiefst traumatisiertes Land, in dem es kaum Familien ohne direkte und schwere Verluste durch den Vernichtungskrieg gibt. Das wurde nie berücksichtigt in dieser ganzen sich immer weiter steigernden Kriegshetze gegen Russland und nun auch noch durch diesen Aufrüstungswahnsinn.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 2. März 2022, 13:25 UHR

Die Heuchelei unserer Eliten ist atemberaubend schamlos. Und das nicht nur im Bereich von Kultur und Sport. Der ehemalige Kanzler Schröder wird newerthings auch entsprechend attackiert. Seine Mitarbeiter im Büro des Ex-Kanzlers wollen ihren Dienst quittieren. Und RT meldet, dass es schon einen Antrag auf Parteiausschluss geben soll.
https://de.rt.com/inland/132973-druck-wegen-gazprom-posten-wachst/

Soweit ich es richtig erinnere, bombte das Kabinett Schröder/Fischer seinerzeit Jugoslawien. Völkerrechtswidrig, gegen das Grundgesetz und ohne UNO Mandat. „Right To Protect“ lautete die selbstgerechte Rechtfertigung der NATO, wenn man an das geltende Völkerrecht erinnerte. Ein Antrag auf Parteiausschluss des noch amtierenden Kanzlers Schröder ist mir nicht erinnerlich und wurde seither von der SPD nicht ins Gespräch gebracht.

RIPPLE, 2. März 2022, 16:00 UHR

Monty Python, bzw. Munich Python am Marienplatz, live:

Gergijew: "Ach menno! Also gut: Ich hasse die Volksfront von Judäa!"

Reiter: "Wie sehr hasst du die Volksfront von Judäa?"

Gergijew: "Ich hasse die Volksfront von Judäa wie... wie... wie ein Verrückter!"

[Reiter blickt kritisch, überlegt kurz, dann]

Reiter: "Ok, du darfst weiter dirigieren!"

Etwas ernsthafter:
Wo bleiben die Proteste von Gergijews Musikerkollegen? Haben sie alle "ihre Ideale diskret verschlampt"? Vorzeige-"Ex-Systemkritiker" wie u.a. Udo Lindenberg und Wolfgang Niedecken haben sich schon vorher, bei der Coronaaktion des Kapitals, extrem feige und auf Regimekritiker mit der verlangten Brutalität einprügelnd auf die Seite des Kapitals geschlagen.

Plant mich bloß nit bei üch inn,
sick ich üch durchschaut hann,
weiß ich, dat ich nit om allerfalschste Dampfer benn.

Ich hann met ührer Logik nix am Hoot,
wieso ihr wat wo jedonn hatt un noch vüürhatt,
weshalb övver Leichen joht.

Denn wat ihr logisch nennt, dat nenn ich pervers,
ühr janze Wertigkeit och.
Mir brich der Schweiß bei jedem Woot von üch uss,
un wenn ihr still sitt, dann och.
Wat ihr Moral nennt, dat ess für mich Krampf,
wat ihr "normal"nennt, dat och.

Ühr Ideale hatt ihr diskret verschlamp, wie e jebruch Tempodooch.
Sitt ihr scheuklappenblind, wie't ahl Schlachtrösser sind,
affjestumpf oder bloß - skrupellos?
(BAP, "Zehnter Juni")

Die Charaktermasken, die uns diese Menschen ein ganzes Leben lang vorgespielt hatten, waren nichts weiter als ein Verkaufstrick, den wir in unserer Jugend glauben wollten und aus entwicklungspsychologischen Gründen (Rollenverständnis, Vorbilder) glauben mussten.

Aber Musiker, auch im klassischen Bereich, sind keine besseren oder charaktervolleren Menschen als der Rest der Bevölkerung. In diesem Rest der Bevölkerung gibt es viele Ärzte und "Wissenschaftler", die nicht nur durch ihre Profession keinerlei fachspezifisch höher entwickelte Ethik haben, sondern die, um die Anforderungen des Regimes zu erfüllen, ihrer Wissenschaft und ihren ethischen Pflichten ausdrücklich zuwider handeln.

Wenn vom Regime f-moll als "böse" diskreditiert wird, C-Dur dagegen als "wahr", werden die Neuen Musiker der "Neuen Normalität" ohne zu murren und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern C-Dur spielen, obwohl in der Partitur f-moll steht. So, wie sie es beim Streichen des N-Wortes (und anderer böse gewordener Wörter) aus alten Kinderbüchern gelernt haben.

Wie man an der Behandlung Gergijews sieht, der ja gar nichts Böses gesagt hat sondern einfach NICHTS gesagt hat, beinhaltet Meinungsfreiheit im Kapitalismus nicht die Freiheit, einen vorgeschriebenen Sprechakt nicht zu äußern. Und es wird nicht bei Sprechakten, also Lippenbekenntnissen, bleiben.

In Orwells Roman "1984" will der Folterknecht O'Brien den anfangs noch vollständigen Menschen Winston zu einem Neuen Menschen der "Neuen Normalität" machen, zu einem Menschen, dem das System ein gewisses (heutzutage digital ausgestelltes) Überlebensrecht bescheinigen kann. O'Brien hält vier Finger hoch und fragt Winston, wie viele Finger er sieht. Winston sagt "vier". Und wenn die Partei sagt, es sind fünf Finger? Winston bleibt bei "vier". Die Wahrheit bedeutet Winston noch etwas. Er ist noch ein vollständiger, natürlicher Mensch.

Es geht O'Brien nun nicht darum, dass Winston sagt, was die Partei, also O'Brien, also Münchens OB Reiter, hören will, nur um die Folter zu beenden. Es geht O'Brien nicht darum, Winston zum Lügen zu foltern. Soweit hatte er Winston schon ziemlich frühzeitig. Es geht O'Brien darum, Winston zu brechen und sein innerstes Wesen zu zerstören, sodass Winston die fünf Finger wirklich glaubt.

"Sie halten die Realität für etwas Objektives, Äußeres, das seinen eigenen Bestand hat. […] Aber ich sage Ihnen, Winston, daß Realität nichts Äußeres ist. […] Die Realität läßt sich ausschließlich durch die Augen der Partei erkennen. […] Es erfordert einen Akt der Selbstvernichtung, eine Willensanstrengung." (S. 299f)

Noch hätte Gergijew möglicherweise mit einem Lippenbekenntnis gegen Putin weiterleben dürfen. Möglicherweise. Es ist aber abzusehen, dass in naher Zukunft auch Lippenbekenntnisse nicht mehr reichen werden. Man wird nach vollzogener Totaldigitalisierung und -überwachung nur noch weiterleben dürfen, wenn man die Realität der Partei wirklich glaubt. Man wird nur noch weiterleben dürfen, wenn man, wie die Neuen Menschen der "Neuen Normalität" heute schon, die Realität "ausschließlich durch die Augen der Partei" erkennt.

Wenn die Partei sagt, f-moll ist böse und C-Dur ist richtig, dann ist es für die Musiker, die jetzt zu Gergijews beruflicher Vernichtung schweigen, für diese Neuen Menschen der "Neuen Normalität" tatsächlich die Realität, dass C-Dur richtig ist. Wer trotzdem f-moll spielt, verliert seinen Lebensunterhalt und ist ein Querdenker und Schlimmeres, je nach dem, wie man Dissidenten bei diesem Thema eben zu bezeichnen hat, wenn man von der Umwelt und vom Kapital akzeptiert sein und weiterleben will.

Wenn die Partei sagt, alle Menschen müssen sich ein bestimmtes Serum gegen ein Hustenvirus in den Körper spritzen lassen, dann ist es für diese Neuen Menschen der "Neuen Normalität" die Realität, dass dieses Serum gegen ein gefährliches Virus hilft. Wer trotzdem auf Logik, Wissenschaft und Menschenrechte besteht, verliert seinen Lebensunterhalt und ist ein Querdenker und Schlimmeres, je nachdem, wie man Dissidenten bei diesem Thema eben zu bezeichnen hat, wenn man von der Umwelt und vom Kapital akzeptiert sein und weiterleben will.

Und wenn die Partei sagt, man müsse den bösen Putin öffentlich und ausdrücklich in einer individuellen 5-Minuten-Hass-Botschaft hassen, dann ist es für diese Neuen Menschen der "Neuen Normalität" die Realität, dass Putin böse ist und gehasst werden muss. Es ist für die Neuen Menschen der "Neuen Normalität" ganz furchtbar "selbstverständlich" und es ist für sie "unbegreiflich", wie man es anders sehen kann als durch die Augen der Partei.

Wer trotzdem auf geopolitisches Handeln von NATO, EU und USA verweist und auf die Ursache der Cuba-Krise vor einigen Jahrzehnten, oder wer gar nichts sagt, verliert seinen Lebensunterhalt und ist ein "Putinversteher" und Schlimmeres, je nachdem, wie man Dissidenten bei diesem Thema eben zu bezeichnen hat, wenn man von der Umwelt und vom Kapital akzeptiert sein und weiterleben will.

Und es wird nicht mehr lange darum gehen, entgegen der eigenen Überzeugung nur eben zu sagen, was das Regime und z.B. sein williger Vollstrecker im Münchner Rathaus hören wollen. Es geht schon wirklich um die tatsächlichen eigenen Überzeugungen selbst! Um das innerste Wesen eines Menschen.

Jeder Mensch der "Alten Normalität" muss für sich selbst entscheiden, wo auf diesem klar erkennbaren und ja auch gar nicht verheimlichten Weg in den extremsten Totalitarismus der Menschheitsgeschichte die Sollbruchstelle seiner eigenen Menschenwürde liegt.

HELENE BELLIS, 2. März 2022, 19:40 UHR

Vielen Dank für Ihre Ausführungen. Man kann sie eigentlich 1:1 auf die Coronapolitik anwenden: Selbe Kontaktschuld. Selbe Cancel Culture. Selbe Scheinheiligkeit. Dasselbe Lügen und Betrügen. Und es wird beim nächsten Thema nicht anders sein. Solange wir aus dieser Art und Weise, gesellschaftlich und politisch miteinander umzugehen, nicht aussteigen, ist es total egal, ob es um eine angebliche Pandemie, einen wie auch immer gearteten Krieg, einen wodurch auch immer begründeten Klimawandel oder was auch immer sonst geht: das Ergebnis wird jedesmal das gleiche sein. Die Antwort liegt in Ihren letzten beiden Absätzen bzw. in den Menschen, unseren Mitmenschen, selbst. Denn wir alle machen unsere Zukunft.

JAN, 7. März 2022, 17:05 UHR

Nur zwei Dinge:

Herrn Teusch möchte ich für diesen Artikel danken!

"Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein."

Kommentieren

Zum Kommentieren bitte anmelden.