Risikobewertung: Wer instruierte Wieler?
PAUL SCHREYER, 13. September 2024, 5 Kommentare, PDFDie am 17. März 2020 vom Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI) verkündete Hochstufung der Risikobewertung war Grundlage sämtlicher Lockdown-Maßnahmen und vieler Gerichtsentscheidungen zu Klagen von Betroffenen. Tenor der Urteile: Die Risikoeinschätzung des RKI – als vom Infektionsschutzgesetz benannter zuständiger Fachbehörde – stelle man als Gericht nicht in Frage. Wenn das RKI nach wissenschaftlicher Prüfung zum Ergebnis komme, die Gefahr sei hoch, dann sei das maßgeblich und die entsprechenden politisch beschlossenen Maßnahmen damit auch berechtigt.
Auf Nachfragen hatte das RKI immer wieder betont, wie gründlich die Risikobewertung erarbeitet worden war, und dazu auf einen öffentlichen Leitfaden der Behörde verwiesen. Darin hieß es, die Risikobewertung werde „durch den RKI-Krisenstab formuliert“ und beschreibe stets „die aktuelle Situation für die Gesamtbevölkerung“ – sei also keine Prognose zukünftig drohender Gefahren. Diese „aktuelle Situation“ würde gemessen an den drei Kriterien Übertragbarkeit (Fallzahlen), Schwereprofil (Anteil schwerer, klinisch kritischer und tödlicher Krankheitsverläufe) und Ressourcenbelastung des Gesundheitswesens. Diese drei Kriterien beurteile das RKI „mit jeweils messbaren Größen“. Mit anderen Worten: Die Fachleute am RKI studierten alle relevanten Zahlen und sprachen dann eine faktenbasierte Empfehlung für eine Risikobewertung aus, die der Krisenstab, ein Gremium aus etwa 20 Teilnehmern, anschließend formulierte und veröffentlichte. So jedenfalls die Theorie.
In einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Kay-Uwe Ziegler (AfD) erklärte Sabine Dittmar, Parlamentarische Staatssekretärin des Gesundheitsministers, nun allerdings:
„Die Entscheidung zur Hochstufung der Risikobewertung des RKI auf 'hoch' wurde am Sonntag, dem 15. März 2020 vom damaligen Präsidenten des RKI und dem damaligen Vizepräsidenten getroffen; weitere Mitarbeitende des RKI waren daran nicht beteiligt.“
Bislang bekannt war zu dieser Entscheidung lediglich das RKI-Protokoll vom Montag, dem 16. März 2020, in dem es hieß:
„Am Wochenende wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald Herr Schaade ein Signal dafür gibt.“
Journalisten wie der Chefreporter der Investigativressorts von NDR und WDR, Markus Grill, hatten daraus nach Veröffentlichung der RKI-Protokolle abgeleitet, es sei „einfach falsch“, dass die Hochstufung auf politischen Druck hin erfolgt sei, denn die Passage zeige ja, dass man intern entschieden habe. Die Tagesschau analysierte damals gleichen Sinnes, das RKI habe „somit bereits eine neue Risikobewertung vorgenommen, die jedoch noch nicht veröffentlicht wurde“. Und weiter: „Die Behauptung, dass diese Entscheidung nicht auf fachlicher Einschätzung passiert sei, ist somit irreführend. Es fehlte lediglich die Zustimmung einer bestimmten Person [Lars Schaade], um diese Risikobewertung zu veröffentlichen.“
Argumentation fällt in sich zusammen
Durch die oben zitierte Antwort der Bundesregierung fällt diese Argumentation in sich zusammen. Die RKI-Fachebene war nicht beteiligt, Wieler und Schaade entschieden allein, an einem Sonntag. Dazu passt, dass die Anwälte des RKI im Rahmen der Multipolar-Klage gegenüber dem Verwaltungsgericht Berlin bereits im September 2023 erklärt hatten, dass beim RKI „keine weiteren Dokumente vorhanden sind, die sich mit der Änderung der Risikobewertung am 17. März 2020 von 'mäßig' auf 'hoch' befassen.“ Bereits diese Mitteilung hatte nahegelegt, dass es sich um eine einsame Entscheidung an der Spitze gehandelt hatte.
Dazu befragt erklärte Schaade vor wenigen Tagen als Zeuge vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück, die Risikobewertung habe „normativen Charakter“ und gehöre deshalb zum Bereich des politischen „Managements“. Die Rechtsanwältin und ehemalige Richterin Franziska Meyer-Hesselbarth war als Prozessbeobachterin vor Ort und berichtete:
„Das Verwaltungsgericht Osnabrück fragte Lars Schaade unter Hinweis auf Protokollpassagen, ob diese Einschätzungen [zur Risikobewertung] auf politischer Einflussnahme beruhten. Schaade hatte während seiner Vernehmung zuvor schon wiederholt die Begriffe 'Management-Größe' bzw. 'Management-Papier' verwendet, wobei der Begriff 'Management' offenbar synonym für politische bzw. ministerielle Weisungen und Wünsche stand. Auch in Bezug auf die Risikoeinstufungen des RKI zur Gefahr durch das SARS-CoV2-Virus sprach der Zeuge Schaade davon, dass diese zum 'Management-Bereich' gehört hätten, mit anderen Worten: zum Bereich der nicht wissenschaftlichen Arbeit des RKI, der einer politischen Einflussnahme unterworfen war. Dies war der Moment, in dem fast alle Zuhörer im Saal einmal tief Luft holen mussten, weil sie ihren Ohren kaum trauten. Aber doch: Lars Schaade hatte gerade eben mit wenigen Worten die Grundlage der Gerichte zur Rechtfertigung der tiefgreifenden Pandemie-Einschränkungen zum Einsturz gebracht.“
Wer initiierte die Hochstufung?
Offen bleibt, durch wen Wieler und Schaade am Sonntag, dem 15. März 2020 instruiert wurden. Wielers direkter Vorgesetzter war General Hans-Ulrich Holtherm, der zwei Wochen zuvor zum Leiter der neuen – bereits Ende 2019 konzipierten – Abteilung für Gesundheitssicherheit im Bundesgesundheitsministerium ernannt worden war und der den Corona-Krisenstab der Bundesregierung leitete. In einem Interview hatte Holtherm bestätigt, dass Wieler ihm damals untergeben war: „Dass mir im Rahmen der Fachaufsicht das RKI als nachgeordnete Behörde zugeordnet ist, hat Herr Prof. Wieler richtig dargestellt.“
Befasst mit der ministeriellen Aufsicht über das RKI war in der Corona-Zeit immer wieder auch Heiko Rottmann-Großner, Unterabteilungsleiter im Gesundheitsministerium, der Wieler später, 2023 auch als Aufpasser bei dessen Aussage vor dem Brandenburger Corona-Untersuchungsausschuss begleitete.
Multipolar hatte zur Rolle Rottmann-Großners bereits vor mehreren Jahren eine ausführliche Recherche veröffentlicht. Der Ministerialbeamte hatte ein Jahr vor Corona, im Februar 2019, an einer privaten, internationalen Pandemieübung teilgenommen und war dort einflussreichen internationalen Akteuren von der Gates Foundation, der Impfallianz Gavi, dem Wellcome Trust, dem World Economic Forum und anderen Institutionen persönlich begegnet. Ein Jahr später, im Februar 2020, empfahl er als Erster der Bundesregierung auf einer internen Sitzung von Staatssekretären die Lockdown-Maßnahmen: Die Bundesregierung solle sich auf „Ausgangssperren von unbestimmter Dauer“ vorbereiten sowie darauf, „die Wirtschaft lahmzulegen“. Bis heute ist unklar, wer ihm diese Handlungsempfehlungen, die nicht Teil des Nationalen Pandemieplans von 2017 waren, damals nahebrachte.
Gerichte und parlamentarische Untersuchungsgremien sollten nun ermitteln, wer Lothar Wieler im März 2020 im Zusammenhang mit der Hochstufung der Risikobewertung instruierte.
Nachtrag 13.9.: Lars Schaade schrieb am 23. Februar 2020 in einer mittlerweile geleakten E-Mail an Lothar Wieler und hochrangige RKI-Kollegen: „Herr Rottmann hat aufgrund der Situation in Italien um eine aktualisierte Risikobewertung gebeten.“ Am 2. März 2020 ist in den Protokollen zu lesen: „Es gab Kritik vom BMG, dass das Risiko vom RKI zunächst zu gering eingestuft war.“
Titelfoto: Hans-Ulrich Holtherm und Lothar Wieler am 4. März 2020 | Bild: picture alliance/dpa | Kay Nietfeld
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