„Menschenrechte und Menschenwürde wurden verletzt“
MARCUS KLÖCKNER, 13. Oktober 2023, 5 Kommentare, PDFMultipolar: Vor einigen Tagen wurde Christian Drosten von der ZEIT zur rückblickenden Bewertung verschiedener Corona-Maßnahmen befragt. Er erklärt dort: „Das Schließen der Schulen hat nicht nur die Infektionszahlen, sondern eindeutig auch die Zahl der Erkrankten und Verstorbenen in der gesamten Gesellschaft gesenkt. Das macht natürlich den Schaden durch Schulschließungen und Unterrichtsausfälle nicht gut, aber das zu bewerten war hier nicht das Ziel.“ Drosten sagt, das sei „eindeutig“. Sie widersprechen jedoch. Was stimmt denn nun?
Pantel: Herr Drosten bezieht sich in seiner Antwort auf eine kürzlich publizierte Analyse der Royal Society, das ist die britische Variante der deutschen Leopoldina-Akademie. Er bezeichnet diese als „erste methodisch korrekte Aufarbeitung der Primärliteratur“, was an sich schon irreführend ist, da es zuvor schon zahlreiche andere methodisch sehr strenge Analysen, zum Beispiel der Cochrane-Library gegeben hat, die teils zu anderen Ergebnissen kamen. Auf die Rückfrage der ZEIT „Wo geht der Daumen bei der Wirksamkeit hoch?“ fällt dann die von Ihnen zitierte Aussage. Tatsächlich wird diese jedoch durch das als Beleg herangezogene Review der Royal Society gar nicht gestützt. Dort heißt es lediglich, dass schulbasierte Maßnahmen „im Allgemeinen“ mit einer Senkung der COVID19-Inzidenz assoziiert waren. Von einer Senkung der „Zahl der Verstorbenen in der gesamten Gesellschaft“ und auch von „Eindeutigkeit“ ist jedoch an keiner Stelle die Rede.
Drosten stellt die Wirksamkeit von Schulschließungen und anderen schulbasierten Maßnahmen als gesichertes Wissen dar, unterschlägt jedoch, dass die behauptete Evidenz auf sehr dünnen Beinchen steht, insofern sich die Royal Society hier lediglich auf drei Modellierungs- und drei Beobachtungsstudien stützt, über die im selben Review zu lesen ist, dass sie nur eine schwache beziehungsweise niedrige Evidenz generieren.
Einschränkend kommt hinzu, dass diese dürftige Evidenzlage überwiegend im asiatischen Raum generiert wurde und Ergebnisse zur Wirksamkeit einzelner Maßnahmen selbst bei der Anwendung derselben Maßnahme nach Aussage der Royal Society nicht auf andere Länder generalisiert werden dürfen.
Eine korrekte Wiedergabe der Aussagen des Royal Society Reviews hätte außerdem darauf aufmerksam machen müssen, dass der Effekt von Schulschließungen allein deshalb nicht valide beurteilt werden kann, da diese stets im Bündel mit anderen Maßnahmen zur Anwendung kamen, weswegen eine zuverlässige oder gar „eindeutige“ Aussage über die Wirksamkeit von Schulschließungen nicht möglich ist. Tatsächlich wissen wir bis heute nicht, zumal für Deutschland, ob Schulschließungen einen nennenswerten und relevanten Effekt auf die COVID-19 assoziierte Krankheitslast und Sterblichkeit gehabt haben. Fest steht dagegen, dass diese Maßnahme erhebliche psychische, soziale und gesundheitliche Folgeschäden für sehr viele (gerade auch sozial benachteiligte) Kinder und Jugendliche gezeitigt hat. Diese Schäden werden zwar auch von Herrn Drosten inzwischen eingeräumt, aber indem er die Aussagen der Royal Society zur Wirksamkeit von Schulschließungen ins Positive verzerrt und überzeichnet, nimmt er Einfluss auf die Güterabwägung, die bei objektiver Berücksichtigung der Evidenzlage die Schulschließungen als klaren politischen Fehler erkennen lassen.
Multipolar: Wie kommt Drosten dann zu dieser Aussage?
Pantel: Das könnte er am besten selbst erklären, ich kann darüber nur Spekulationen anstellen. Im günstigsten Fall hat er den über 80-seitigen Bericht der Royal Society nur oberflächlich gelesen und sich dann im Interview zu flapsigen Formulierungen hinreißen lassen, wie wir das von anderen seiner öffentlichen Äußerungen kennen. Dagegen spricht allerdings, dass die Aussagen eines Wortlaut-Interviews im Print-Format durch den Urheber immer ausdrücklich freigegeben werden müssen, so dass man korrigieren kann. Ob es ihm darüber hinaus an der Kompetenz mangelt, die streng definierten und begrifflich klaren Analysen und Ergebnisberichte der Evidenzbasierten Medizin korrekt zu interpretieren und wiederzugeben, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese zählt jedenfalls nicht zu den Kernkompetenzen eines überwiegend experimentell tätigen Laborforschers.
Multipolar: Wie bewerten Sie die weiteren Teile des Interviews? Beim Lesen entsteht der Eindruck, so ziemlich alles wäre „eindeutig“.
Pantel: Zumindest an den Stellen, wo er sich über die angebliche Wirksamkeit staatlich angeordneter Maßnahmen äußert, erscheint es so. Hier verfällt er in einen alltagssprachlichen Jargon, der jegliche kritische Distanz, beziehungsweise wissenschaftliche Nüchternheit vermissen lässt. So behauptet er etwa, dass Ausgangsbeschränkungen, Abstandsregeln und Masken „sehr effektiv“ gewesen seien, obwohl selbst in denjenigen vereinzelten Studien, in denen diese Maßnahmen einen signifikanten Effekt gezeigt haben, die mathematisch ermittelten Effektstärken äußerst gering und daher von fraglicher praktischer Relevanz waren.
Man hätte die Ergebnisse des Royal Society Reviews ebenso gut dahingehend interpretieren können, dass die Aussagekraft der vorliegenden Studien methodisch bedingt im Allgemeinen niedrig ist und dass man daher keine zuverlässigen Aussagen über die Wirksamkeit der untersuchten Maßnahmen machen kann, insbesondere nicht in Hinsicht auf die Sterblichkeit und das Auftreten schwerer Krankheitsverläufe. Da erwarte ich von einem Chefvirologen, der die Regierung hinsichtlich der infektiologischen Wirksamkeit massiver grundrechtseinschränkender Maßnahmen berät, schon eine größere Objektivität und eine höhere begriffliche Präzision.
Seine Verwendung des Begriffs Präventionsparadox ist auch zu kritisieren. Herr Drosten verwendet ihn hier, wie auch bereits an anderer Stelle, um Vorhersagen und Vorhersagemodelle zu stützen und gegen Kritik zu wappnen, auch wenn vorhergesagte Worst Case Szenarien, die zur Rechtfertigung bei der Einführung der Maßnahmen herangezogen worden waren, am Ende nicht eintrafen. Dabei handelt es sich jedoch um eine einseitige und simplifizierende Verwendung dieses Begriffs, was im Sinne eines logischen Trugschlusses als Rechtfertigung von Corona-Eindämmungsmaßnahmen dienen soll.
Multipolar: Wie betrachten Sie die Rolle der ZEIT bei diesem Interview?
Pantel: Schon auf der Titelseite prangt ein halbseitiges Portraitfoto mit verschmitztem Lächeln und Wuschelhaar, als handele es sich bei dem Drosten-Interview um das wichtigste Ereignis der vergangenen Wochen. So präsentiert man nicht einen von vielen Experten, sondern einen Popstar, den Dalai Lama, den Papst oder eine andere nicht hinterfragbare Instanz. Entsprechend kommen kritische Fragen im Laufe des Interviews praktisch nicht vor.
Titelseite der ZEIT vom 5. Oktober 2023
Multipolar: Nun könnte man sagen: Was wir hier besprechen, könnten Sie Drosten ja auch direkt selbst sagen. Warum sollte aus Ihrer Sicht aber auch öffentlich darüber gesprochen werden?
Pantel: Ich glaube, in punkto einer ausgewogenen Wissenschaftskommunikation ist in den vergangenen drei Jahren sehr vieles schiefgelaufen. Das gilt insbesondere für den medialen und politischen Umgang mit wissenschaftlichen Inhalten und wissenschaftlichen Unsicherheiten, aber auch für die Wissenschaftsszene selbst. Hier gibt es einiges aufzuarbeiten und das kann man am Beispiel eines medial sehr exponierten Wissenschaftlers wie Herrn Drosten sehr gut tun. Im Übrigen habe ich mich mit meiner Kritik an dem Interview auch direkt an Herrn Drosten gewendet, bisher aber keine Antwort erhalten. Aber das ist vielleicht Teil des Problems.
Multipolar: Wie haben Sie in der Coronakrise Drosten und sein Auftreten, seine Äußerungen, sein Wirken wahrgenommen?
Pantel: Herr Drosten scheint für sich selbst häufig einen gewissen Alleinvertretungsanspruch anzunehmen. Dagegen werden diejenigen, die eine andere Auffassung vertreten, von ihm der „Desinformation“ bezichtigt oder als „Pseudoexperten“ degradiert, die bestenfalls eine „Privatmeinung“ äußern. Es entstand jedoch häufig der Eindruck, dass er das gleiche Cherry-Picking betreibt, das er seinen Kritikern immer vorwirft – also das einseitige sich berufen auf Studien, die die eigene Meinung stützen, während andere Erkenntnisse ausgeblendet werden. Da wird schon mit zweierlei Maß gemessen.
Abgesehen davon hat natürlich auch Herr Drosten das Recht auf seine Meinung, diese sollte dann aber auch als solche gekennzeichnet werden, was häufig nicht geschah. Dadurch gelang es ihm, meist sehr glatte und klare, beinahe lehrbuchhafte Botschaften unters Volk zu bringen, die vermutlich auch deswegen auf so viel Resonanz gestoßen sind, weil viele Menschen in unsicheren Zeiten nach einer klaren Orientierung suchen. Da wird dann sehr schnell mal etwas als „eindeutig“, oder „sehr effektiv“ verkauft, obwohl dies gar nicht den vorliegenden Daten entspricht. Natürlich ist jeder Wissenschaftler, der sich innerhalb bestimmter medialer Formate vor einem Laienpublikum äußert, zu Vereinfachungen und Verkürzungen gezwungen. Als zunächst inoffizieller und später auch offizieller Berater der Regierung hatte Herr Drosten hier jedoch eine besondere Verantwortung.
Multipolar: Sie sind Altersmediziner. Was ist darunter zu verstehen?
Pantel: Die Altersmedizin beschäftigt sich mit dem Erkennen, der Behandlung und der Vorbeugung von körperlichen und seelischen Erkrankungen des Alters und des alten Menschen. Altersmedizinische Expertise ist insbesondere dann gefragt, wenn chronische Krankheiten im Alter gehäuft auftreten, man spricht dann von Multimorbidität, und wenn diese zu Gebrechlichkeit oder anderen chronischen Funktionsbeeinträchtigungen führen. Hieraus folgt eine sehr ganzheitliche Herangehensweise, die nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychischen und sozialen Bedürfnisse der Patienten in den Mittelpunkt rückt. Diese wurden jedoch während der Pandemie eklatant missachtet.
Multipolar: Wie sah es denn mit dem Umgang der Alten und Kranken in Heimen und anderen Einrichtungen während der Coronakrise aus?
Pantel: In den Heimen wurde in erster Linie auf komplette Isolation gesetzt, ohne zu bedenken, dass dies für alte Menschen erhebliche zusätzliche Gesundheitsrisiken mit sich bringt. Hierdurch wurden Menschenrechte und Menschenwürde verletzt. Denken Sie etwa an die Sterbenden, die keinen Besuch mehr empfangen durften. Dabei waren diese Beschränkungen noch nicht einmal besonders effektiv, wie wir im Winter 2020/21 gesehen haben. Dagegen wurden die technologischen und organisatorischen Möglichkeiten für einen effektiven Schutz zu wenig genutzt. So hätte man in den Heimen zum Beispiel viel früher und konsequenter effektive PCR-Testkonzepte einführen oder forciert an einer Verbesserung der personellen und räumlich-strukturellen Rahmenbedingungen der Langzeitpflege arbeiten sollen, die zu einer Reduktion der Infektionslast und zur Aufrechterhaltung gewisser gemeinsamer Aktivitäten und Tagesstrukturen hätten beitragen können.
Kurzum: Schon damals wurde viel zu sehr auf Containment gesetzt, also darauf, die Ausbreitung des Virus in der Allgemeinbevölkerung zu verhindern. Es fehlte das Bewusstsein dafür, dass es sinnvoller ist, effektive Schutzkonzepte für vulnerable Gruppen zu installieren, als zum Beispiel Schulen zu schließen.
Multipolar: Was sind Ihre Gedanken zum Thema Impfdruck und Impfpflicht in Bezug auf die Corona-Impfung?
Pantel: Ich bin kein Impfgegner, habe aber eine Impfpflicht, sei diese nun auf die Allgemeinheit oder auf bestimmte Berufs- oder Altersgruppen gemünzt, immer abgelehnt. Dies ist schließlich eine sehr individuelle Entscheidung. Die mit falschen Argumenten, so etwa dem angeblichen Fremdschutz, moralisierend aufgeladene, aber auch mit verzerrten Zahlen betriebene Debatte hat eine Spaltung der Gesellschaft bewirkt, die durch 3G und 2G politisch scharf gestellt wurde. Die hierdurch bewirkten Ausgrenzungen, Kränkungserfahrungen und realen Benachteiligungen wirken in ihrer ganzen destruktiven Dynamik bis heute nach. So glaube ich, dass dieses Vorgehen viel mehr Schaden als Nutzen gebracht hat. Hinzu kommt, dass die Impfpflicht-Diskussion in Teilen der Bevölkerung Ressentiments gegen die Impfung im Allgemeinen hervorgerufen hat, weil sie mit staatlichem Zwang assoziiert wurde. Damit hat man der guten Sache einen Bärendienst erwiesen.
Multipolar: Wie stehen Sie zum Thema Aufarbeitung der Corona-Politik?
Pantel: Leider wird dieser unumgängliche Schritt in der deutschen Öffentlichkeit bislang weitgehend vermieden. Ich bin Teil einer Gruppe von renommierten Wissenschaftlern aller Disziplinen die in einem offenen Brief eine echte Aufarbeitung jenseits von „es gab vielleicht ein paar Fehler, aber im Großen und Ganzen haben wir das doch super gemacht“ fordert. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wäre die Einsetzung einer Enquete-Kommission durch den Deutschen Bundestag, in der die politischen Entscheidungen der letzten Jahre ergebnisoffen und ohne Rücksicht auf politische Empfindlichkeiten durchleuchtet werden. Dies betrifft nicht nur den Prozess der engeren politischen Entscheidungsfindungen, sondern auch die Verquickung dieses Prozesses mit medialen, wissenschaftsinternen und sozialen Dynamiken. Erst dadurch würde ein realer gesamtgesellschaftlicher Lernzuwachs ermöglicht, der einen Schutz vor ähnlich destruktiven Entscheidungen in Zukunft ermöglichen könnte.
Multipolar: Wer gehört zu den Unterzeichnern?
Pantel: Zu den Mitinitiatoren und Erstunterzeichnern gehören zahlreiche exponierte Kollegen aus der Medizin, die den deutschen Corona-Weg bereits sehr früh kritisch hinterfragt haben, so zum Beispiel der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr, der Internist und Public-Health-Experte Matthias Schrappe, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, Martin Scherer, der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit oder der ehemalige Direktor des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin, Jürgen Windeler. Die Stärke der Gruppe resultiert jedoch auch aus ihrer Interdisziplinarität, insofern hier auch viele namhafte Vertreter aus anderen Fachgebieten, wie etwa der Soziologie, der Rechtswissenschaft, der Physik, der Biologie, der Psychologie, der Pflegewissenschaft und der Mathematik mitwirken.
Multipolar: Sprechen wir über den 1. Offenen Brief. Stichwort: Aufarbeitung. Was sind Ihre Forderungen?
Pantel: Zunächst geht es wie gesagt um die möglichst baldige Einrichtung einer Enquete-Kommission. Diese sollte erstens die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie und deren Kollateralschäden umfassend untersuchen und Strategien für ihre Bewältigung und zukünftige Vermeidung erarbeiten. Hier stehen das Gesundheitssystem mit Blick auf die gesamte Versorgungspyramide, das Bildungssystem von der Kita bis zur Hochschule, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen, aber auch die sozialen Spannungen und psychischen Belastungen der Menschen in unserem Land sowie die Kollateralschäden für das kulturelle und soziale Leben im Mittelpunkt. Die Kommission sollte zweitens das Pandemiemanagement kritisch überprüfen. Dabei gilt es einerseits, Rückschaufehler zu vermeiden, andererseits aber auch bereits vorhandenes, aber übersehenes Wissen und Handlungsalternativen zu benennen. Die Lernfortschritte der letzten drei Jahre können dabei integriert werden, wobei ideologiefreie Vergleiche mit anderen Ländern, zum Beispiel Schweden, durchaus hilfreich sein können.
Multipolar: Welche Forderungen haben Sie noch?
Pantel: Neben der Aufarbeitung in der politischen Arena erfordert die Nachbereitung der Pandemie auch ein erhebliches, auch selbstkritisches Engagement der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft. Zu guter Letzt muss die Aufarbeitung der Pandemie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Die Menschen in unserem Land müssen als Subjekte mit eigener Stimme beteiligt werden. Eine vom Bundestag eingesetzte Kommission ist hierzu wie gesagt nur ein erster Schritt. Sie muss flankiert werden durch partizipative, von der Politik unabhängige Foren, für die eine geeignete Infrastruktur zu schaffen ist. Wir möchten alle Menschen in unserem Land mit ihren vielfältigen Perspektiven auf die Pandemie einladen, unser Anliegen zu unterstützen und mit ihren eigenen Erfahrungen am Prozess der Aufarbeitung auf ihre Weise selbst mitzuwirken – mutig, reflektiert, fair, aber auch im Bemühen, keine neuen Wunden aufzureißen.
Multipolar: Warum sollten diese Forderungen umgesetzt werden?
Pantel: Eine echte Aufarbeitung wird es ohnehin irgendwann einmal geben. Sie ist unumgänglich. Wenn dies nicht jetzt geschieht, werden sich in ein paar Jahren die Historiker darum kümmern.
Multipolar: Was würde es bedeuten, wenn es nicht zu einer Aufarbeitung käme?
Pantel: Dann hätte unsere gegenwärtige Gesellschaft die Chance verpasst, aus den gemachten Fehlern zu lernen und es in vielleicht schon sehr bald eintretenden analogen Situationen besser zu machen. Schwerer wiegt vielleicht noch die durch viele der drastischen Maßnahmen induzierte gesellschaftliche Spaltung, die ohne eine Aufarbeitung weiterhin toxische Wirkungen entfalten wird. Menschen wurden denunziert und ausgegrenzt, oder als Sozialschädlinge, Covidioten, Wissenschaftsleugner oder gar Rechtsextreme verunglimpft, nur weil sie nicht hundertprozentig auf der offiziellen Linie lagen. Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik ein bisher einmaliger Vorgang. Dabei gab es schon damals auch wissenschaftlich gut begründete Einwände gegen den strikten Kurs der Exekutive.
Aus vielen Gesprächen habe ich darüber hinaus den Eindruck gewonnen, dass es eine relativ große Gruppe von Menschen gab, die den offiziellen Kurs ebenfalls nicht guthießen, sich jedoch aus der Angst heraus, soziale Nachteile zu erleiden, anpassten und lieber den Mund hielten. Bei ausbleibender Aufarbeitung wird daher bei vielen Menschen der Eindruck zurückbleiben, dass die politischen Eliten und Entscheidungsträger in Hinsicht auf die zurückliegenden schwerwiegenden Eingriffe in die Grundrechte nicht mit offenen Karten spielen wollen, wodurch ein bereits vorbestehendes Misstrauen in politische Entscheidungen und eine allgemeine Politik- und Politikerverdrossenheit verstärkt werden können. So ist meiner Meinung nach das Erstarken der AfD, die sich den Protest gegen unverhältnismäßige Maßnahmen zu eigen gemacht und damit geschickt instrumentalisiert hat, auch auf die Verschleppung der Corona-Aufarbeitung durch die anderen im Bundestag vertretenen Parteien zurückzuführen.
Multipolar: Wie erklären Sie sich die Weigerungshaltung von weiten Teilen der Politik, das Thema Coronaaufarbeitung auf Bundesebene anzugehen?
Pantel: Bei der beispiellosen Dimension der entstandenen Kollateralschäden gibt es vermutlich eine nicht vollkommen unbegründete Angst, für die politischen Fehler zur Verantwortung gezogen, beziehungsweise von der öffentlichen Meinung abgestraft zu werden. Daher hofft man das Ganze aussitzen zu können, bis sich die angestauten Affekte von Ärger, Wut oder Enttäuschung irgendwann aufgelöst haben. Wie gerade erläutert glaube ich jedoch, dass dies ein Trugschluss ist. Auch Politiker können sich irren und nicht wenige werden in dem guten Glauben gehandelt haben, in der gegebenen Situation das Richtige zu tun. Gleichzeitig müssen jedoch auch Politiker zu ihren Fehlern stehen. Denn ein ehrlicher und transparenter Umgang mit den eigenen Fehlern wird die Glaubwürdigkeit des politischen Systems nicht schwächen, sondern stärken und damit einen Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie leisten.
Multipolar: Sehen Sie Möglichkeiten, wie es doch noch zu einer Aufarbeitung kommen kann?
Pantel: Soweit ich das einschätzen kann, gibt es bei allen im Bundestag vertretenen Parteien Abgeordnete, die die Forderungen unseres offenen Briefes teilen, auch wenn das nicht unbedingt der offiziellen Linie der jeweiligen Fraktion entspricht. Meines Erachtens müsste es hierüber eine geheime Abstimmung ohne Fraktionszwang geben, sowie das regelmäßig auch bei anderen ethisch relevanten Fragestellungen im Parlament geschieht. Zur Einsetzung einer Enquete-Kommission bedarf es keiner Mehrheit, es reicht, wenn ein Viertel der Abgeordneten dafür stimmt. Das halte ich für gar nicht so abwegig.
Über den Interviewpartner: Prof. Dr. med. Johannes Pantel, Jahrgang 1963, ist Professor für Altersmedizin und Leiter des gleichnamigen Arbeitsbereichs am Institut für Allgemeinmedizin der Frankfurter Goethe-Universität. Er ist seit über 30 Jahren in der medizinischen Forschung aktiv, unter anderem als Leiter zahlreicher klinischer Studien sowie als Autor und Mitherausgeber mehrerer Lehrbücher und medizinisch-wissenschaftlicher Leitlinien. 2023 gehörte Pantel zu den Verfassern zweier Offener Briefe, die sich mit der Corona-Politik auseinandersetzen.
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