Wirtschaftsminister Robert Habeck mit dem Wirtschaftsminister von MV, Reinhard Meyer, am 12. Mai 2023 auf Rügen | Bild: picture alliance/dpa | Stefan Sauer

Realer Gasnotstand oder geschürte Panik?

Im Juni 2022 rief Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas aus, die seither unverändert in Kraft ist. Wie Multipolar-Recherchen beim Verband Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber jedoch zeigen, kam es seither zu keinerlei Einbruch bei der Gasversorgung. Gleichzeitig werden unter hohen Kosten LNG-Terminals gebaut, deren Notwendigkeit fraglich ist und für deren Planung das Ministerium bei den Zahlen getrickst hat und den Haushaltsausschuss des Bundestages in die Irre führte. Soll ein behaupteter Notstand die umstrittene Umstellung auf LNG rechtfertigen?

KARSTEN MONTAG, 4. Juli 2023, 3 Kommentare, PDF

Bis heute gilt in Deutschland die von Minister Habeck im Juni 2022 ausgerufene Alarmstufe – die zweite Stufe des dreistufigen „Notfallplans Gas“. In der nächsthöheren und letzten Stufe, der Notfallstufe, die durch einen physischen Mangel an Gas in den deutschen Fernleitungs- und Verteilnetzen ausgelöst wird, entscheidet der Staat über die Bundesnetzagentur darüber, wer in Deutschland noch Gas erhält und wer nicht. Doch ist die Alarmbereitschaft in Deutschland angesichts der ausreichenden Versorgung überhaupt gerechtfertigt?

Die Frage stellt sich, da es den Gasproduzenten, Händlern und Lieferanten in den letzten zwölf Monaten gelungen ist, ohne maßgebliches Eingreifen der Regierung den Endkunden in Deutschland zu jeder Zeit so viel Gas bereitzustellen wie in den Jahren zuvor. Anhand aktueller Zahlen lässt sich zudem nachweisen, dass der prognostizierte Import herkömmlichen Erdgases, mit dessen vorgeblich geringem Volumen das Wirtschaftsministerium den Betrieb und Bau von acht LNG-Terminals in einem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages im März 2023 rechtfertigte, zu niedrig geschätzt wurde. Zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts lagen Zahlen vor, die den amtlichen Schätzungen deutlich widersprechen. Soll ein behaupteter Notstand die umstrittene Umstellung auf LNG rechtfertigen?

Keine verringerte Gasversorgung

Das Ausrufen der Alarmstufe im Juni 2022 scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar. Tatsächlich war der Import von Erdgas aus Russland nach Deutschland über drei verschiedene Pipelines im Zeitraum Ende 2021 bis Mitte 2022 drastisch zurückgegangen.

Abbildung 1: Import von Gas aus Russland und Import über LNG nach Deutschland in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: Verband Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (ENTSO-G)

Wie Abbildung 1 zeigt, kann der Import von verflüssigtem Erdgas (LNG) seit Ende 2022 diese Verluste nicht im Ansatz wettmachen. Wäre Deutschland allein auf die Gasimporte aus Russland angewiesen – und kein Gastransitland gewesen –, dann dürften die Auswirkungen dieser Importeinbrüche auf die deutsche Industrie und die deutschen Haushalte spätestens im Winter 2022/23 verheerend ausgefallen sein.

Deutschland war jedoch vor Mitte 2022, hauptsächlich aufgrund der Importe russischen Gases über Nord Stream, ein bedeutendes Gastransitland, ähnlich wie die Ukraine. 2020 etwa wurde fast die Hälfte des nach Deutschland gelieferten Gases weiter in andere Länder exportiert. Seit Oktober 2022 hat sich dieser Anteil auf weniger als ein Viertel reduziert. Der Großteil dieses Exportrückgangs geht auf Kosten Tschechiens und der nachgelagerten Länder.

Ein weiterer Grund, warum es bei der Gasversorgung in Deutschland bisher nicht zu Einschränkungen gekommen ist, war die Steigerung von Importen aus anderen Ländern außer Russland. Lag die Summe des Gasimports aus Belgien, Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Norwegen – die ihre Ressourcen wiederum aus eigener Produktion oder aus dem Handel beziehen – 2020 noch bei etwas mehr als einer halben Million Gigawattstunden, so hat sich die Summe im Zeitraum Juni 2022 bis Mai 2023 auf über eine Million Gigawattstunden fast verdoppelt. Zum Vergleich: Der deutsche Eigenbedarf im Zeitraum Juni 2022 bis Mai 2023 betrug ungefähr 0,9 Millionen Gigawattstunden, der deutsche Import von Gas über LNG im selben Zeitraum 0,03 Millionen Gigawattstunden.

Der Exportrückgang und die Steigerung des Imports aus anderen Ländern außer Russland hat somit dazu geführt, dass es in Deutschland seit Mitte 2022 und dem Ausrufen der Gas-Alarmstufe nicht annähernd zu einer Veränderung der zuvor üblichen Verfügbarkeit von Erdgas gekommen ist.

Abbildung 2: Gasimporte und Gasexporte Deutschlands in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: Verband Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (ENTSO-G)

Zudem lag der Füllstand der deutschen Erdgasspeicher im Oktober 2022 mit 95 Prozent genauso hoch wie im Vergleichszeitraum 2020. 2023 bewegt sich der Füllstand am historischen Maximum, wie die Bundesnetzagentur mitteilt.

Die hinter der Gasversorgung liegenden Prozesse wurden bislang fast ausschließlich durch den Markt geregelt, denn erst ab der Notfallstufe darf die Bundesnetzagentur in die Marktprozesse eingreifen. Die Politik hat bisher so gut wie keinen Einfluss auf diese Vorgänge gehabt. Der Markt setzt sich zusammen aus Unternehmen, die Gas produzieren, mit großen Gasmengen handeln oder diese zwischenspeichern, Gas in großen Mengen kaufen und an Endkunden verkaufen, Gasnetze betreiben, Pipelines verlegen, LNG-Terminals errichten sowie aus Investoren, welche den Bau neuer Infrastrukturen finanzieren.

Kriterien für Alarmstufe nicht erfüllt

Bedenkt man, dass die Marktteilnehmer ohne maßgebliche Unterstützung der Bundesregierung die Gasversorgung deutscher Verbraucher gesichert haben und dass es dabei zu keiner Zeit zu einem untypischen Angebot an Gasmengen gekommen ist, stellt sich die Frage, warum noch immer die Alarmstufe des Notfallplans Gas gilt. Die Verordnung des Ministeriums selbst gibt als Kriterien für die Ausrufung dieser Stufe die folgenden Punkte an:

  • Nichtvorhandensein/Ausbleiben/gravierende Reduzierung von Gasströmen an wichtigen physischen Einspeisepunkten

  • lang anhaltende sehr niedrige Speicherfüllstände

  • Ausfall von wichtigen Aufkommensquellen

  • längerer technischer Ausfall wesentlicher Infrastrukturen (z. B. Leitungen und/oder
    Verdichteranlagen) mit Möglichkeit einer Alternativversorgung

  • extreme Wetterverhältnisse bei gleichzeitig sehr hoher Nachfrage

  • hohe Gefahr langfristiger Unterversorgung

  • Anforderung von Solidarität an Deutschland

Mitte 2022 mag das Ausrufen der Alarmstufe mit dem Ausfall der Gaslieferungen aus Russland verständlich gewesen sein. Doch aktuell ist kein einziges der Kriterien erfüllt. Derzeit sind nicht einmal die annähernd ähnlichen Kriterien für das Ausrufen der Frühwarnstufe gegeben – außer, dass auch Nachbarländer Deutschlands entsprechende Krisenstufen ausgerufen haben.

Auf Multipolar-Anfrage zu diesem Widerspruch reagierte das Wirtschaftsministerium mit ausweichenden Textbausteinen (siehe Anhang).

Ministerium trickst bei Begründung für LNG-Terminals und führt den Haushaltsausschuss des Bundestages in die Irre

In seinem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages vom 3. März 2023 rechtfertigt das Bundeswirtschaftsministerium den Betrieb und den Bau von insgesamt acht LNG-Terminals in Deutschland anhand von unvollständigen Zahlen und falschen Prognosen zu Gasimporten und Gasexporten.

In einer Tabelle, die in dem Bericht ab Seite 6 dargestellt ist, wurden kurzerhand circa 31 Milliarden Kubikmeter Gas, die bis Mitte 2022 noch aus Russland importiert wurden, nicht berücksichtigt. Stattdessen wird nur der Import aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien dargestellt. Dessen in Deutschland verbliebene Summe belief sich, laut Bericht, auf 61,5 Milliarden Kubikmeter. Allerdings konnte in Deutschland aufgrund voller Speicher und der Gaslieferungen aus Russland gar nicht mehr Gas aus diesen drei Ländern importieren.

Für 2023 geht das Ministerium von einer verbleibenden Summe des Imports aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien von 61,8 Milliarden Kubikmetern aus. Es übernimmt also mit einer geringen Abweichung die Zahlen aus 2022, als noch große Mengen Gas aus Russland importiert wurden. Bei einem Eigenbedarf von prognostizierten 86 Milliarden Kubikmetern und einer eigenen Förderung von 5 Milliarden Kubikmetern würde es also ohne russische Importe und ohne LNG in Deutschland 2023 unweigerlich zu einer Gasmangellage kommen.

Doch aktuelle Zahlen des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas zeigen, dass diese Annahme falsch ist. In den zwölf Monaten zwischen Juni 2022 und Mai 2023 sind ohne die russischen Importe, die noch im Juni und Juli 2022 ihren Weg über die Nord Stream-Pipelines nach Deutschland fanden, ohne LNG und ohne eigene Förderung circa 78 Milliarden Kubikmeter in Deutschland verblieben. Das ist deutlich mehr als die für 2023 angenommenen 61,8 Milliarden Kubikmeter.

Der Grund dafür war eine Steigerung des Imports aus den Niederlanden um 15 und aus Belgien um 9 Prozent sowie eine deutliche Senkung des Exports nach Dänemark um -50, nach Polen um -32, nach Tschechien um -31 und nach Österreich um -15 Prozent zwischen den beiden Vergleichszeiträumen Januar bis Dezember 2022 und Juni 2022 bis Mai 2023. Der Trend dazu war im März, als das Ministerium seinen Bericht an den Haushaltsausschuss versendete, bereits abzusehen. So wurden beispielsweise zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 7,35 Milliarden Kubikmeter Gas aus den Niederlanden importiert. Rechnet man diese Menge auf ein Jahr hoch, käme man auf circa 30 anstatt der vom Ministerium angegebenen 24,3 Milliarden Kubikmeter.

Offenbar hat Habecks Ministerium bei der Begründung für den Bau der LNG-Terminals getrickst. Es hat unterschlagen, dass es 2022 noch erhebliche Importmengen aus Russland gab, die Speicher voll waren und die Exporte in die Nachbarländer seit Mitte 2022 deutlich zurückgegangen sind. Daher konnte gar nicht mehr Gas aus Ländern wie Belgien und den Niederlanden importiert werden. Doch anstatt dem Haushaltsausschuss darzustellen, dass die Importmengen aus diesen beiden Ländern bereits Ende 2022 und Anfang 2023 deutlich höher lagen und der Export in andere Nachbarländer deutlich niedriger ausfiel als im Bericht angenommen, suggerierte das Ministerium, dass die 2022 importierte Menge aus Belgien und den Niederlanden die Obergrenze für die Zukunft darstellen würde und der Export in einige ausgewählte Länder in den nächsten Jahren leicht anstiege.

Auch zu diesem Punkt antwortete das Ministerium auf eine Multipolar-Anfrage ausweichend mit wenig aussagekräftigen Textbausteinen, die inhaltlich dem Bericht an den Haushaltsausschuss entstammen (siehe Anhang).

Einfluss der Politik wird verzerrt dargestellt

Viele Medien tragen zu einer falschen Wahrnehmung bei. Wenn es etwa in einer Meldung der Tagesschau heißt, Habeck wolle „mit dem ‚LNG-Beschleunigungsgesetz‘ in Rekordzeit Terminals für Flüssigerdgas errichten“, dann ist das irreführend, denn dies liegt weit außerhalb der Möglichkeiten der Regierung. Das Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases ändert lediglich die Rahmenbedingungen zum Bau und zur Inbetriebnahme von LNG-Terminals sowie zur Durchführung von Verfahren für die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen. Dafür entfallen unter anderem, so das Gesetz, Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie Regelungen, die sich aus dem Bundesnaturschutzgesetz und dem Wasserhaushaltsgesetz ergeben würden. Finanziert und gebaut werden die landseitigen Terminals, wie beispielsweise das in Wilhelmshaven, jedoch von privaten Unternehmen, die sich ihre Investitionen vom Staat über die Gaskunden subventionieren lassen.

Warum allein deutsche Gaskunden für die Subventionen aufkommen sollen, obwohl das Wirtschaftsministerium in seinem Bericht an den Haushaltsausschuss feststellt, dass „auch verschiedene Staaten in Mittel- und Osteuropa verstärkt auf den Import von Erdgas via Deutschland angewiesen sein werden“, ist eine weitere offene Frage.

Letztendlich haben die LNG-Importe derzeit nur einen sehr geringen Einfluss auf die Gasversorgung Deutschlands (jedoch einen großen auf die Flora und Fauna in der Umgebung der Terminals).

Dass es aufgrund des plötzlichen Ausfalls der Gasimporte aus Russland zu Missverhältnissen von Angebot und Nachfrage, Panik- und Hamsterkäufen sowie daraus resultierenden überhöhten Gaspreisen kommen kann, ist eine Eigenschaft des freien Marktes. Gegen die hohen Gaspreise für die Endverbraucher Ende 2022 konnte die Bundesregierung genauso wenig ausrichten, wie sie gleichermaßen nicht maßgeblich für die alternative Beschaffung von Gas aus anderen Ländern außer Russland verantwortlich war. Weder das Ausrufen der Alarmstufe noch der staatlich unterstützte Bau von LNG-Terminals hatten einen signifikanten Einfluss auf die gesicherte Gasversorgung in Deutschland.

Problem hausgemacht, Moral unglaubwürdig

Die Bundesregierung hatte jedoch einen immensen Einfluss darauf, dass es überhaupt zu einem Ausfall der Gaslieferungen aus Russland gekommen ist. Ohne die Entscheidung, die Sanktionen der US-Regierung und der EU gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern, wäre es Mitte 2022 kaum dazu gekommen. Das Argument, der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sei der Auslöser für die Entscheidung gewesen, verblasst sehr schnell angesichts der Tatsache, dass es 2003 beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak nicht zu ähnlichen Sanktionen gegen die Vereinigten Staaten vonseiten Deutschlands oder der EU gekommen ist. Stattdessen haben sich eine ganze Reihe an EU-Mitgliedsstaaten zum Teil maßgeblich an dem Krieg beteiligt. Die deutsche Bundesregierung hat die USA nicht daran gehindert, den Krieg gegen den Irak größtenteils über ihre Militärstützpunkte in Kaiserslautern und Umgebung logistisch zu organisieren.

Umweltproblem LNG

Insbesondere das in Wilhelmshaven seit Ende 2022 operierende Regasifizierungsschiff „Höegh Esperanza“, das angeliefertes Flüssigerdgas wieder verdampft und in das deutsche Erdgasnetz einspeist, leitet Chlor in die Jade ein und steht daher unter Verdacht, das Ökosystem des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer zu beschädigen. Das Schiff, das derzeit eigentlich in Australien seinen Dienst verrichten sollte, wurde von den dortigen Behörden aufgrund seiner Umweltbelastung nicht genehmigt.

Ein LNG-Tanker im Mai 2023 vor Rügen | Bild: picture alliance/dpa | Stefan Sauer

Auch der geplante Bau des LNG-Terminals in Mukran auf der Insel Rügen liegt nahe eines Nationalparks, ist politisch umstritten und wird von Protesten begleitet. Das Biosphärenreservats Südost-Rügen befindet sich mit einer Entfernung von zehn Kilometern in Sichtweite des Hafens von Lubmin, wo ab Mitte 2023 Flüssigerdgas aus schwimmenden LNG-Terminals vor der Ostseeküste über Pipelines weitergeleitet werden soll. Seit Anfang 2023 befindet sich bereits ein Regasifizierungsschiff in der Ostsee zwischen Rügen und Usedom und leitet verdampftes Flüssigerdgas in den Hafen von Lubmin weiter.

Die in der Elbemündung an den Standorten Brunsbüttel und Stade geplanten LNG-Terminals liegen unweit der Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer und Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und werden von Umweltverbänden kritisiert.

LNG aus US-Fracking

Laut verschiedener Quellen kommt das derzeit von deutschen LNG-Terminals eingespeiste Erdgas fast ausschließlich aus den Vereinigten Staaten und wird dort hauptsächlich aus Schiefergas hergestellt. Warum Schiefergas, das mit der Fracking-Methode gefördert wird, umweltschädlicher und teurer als konventionell produziertes Erdgas ist, wurde in einem vorangegangenem Beitrag bereits näher erläutert. Wie US-amerikanische Öl- und Gasproduzenten von dem Krieg in der Ukraine profitieren, wurde in einem weiteren Beitrag thematisiert.

Während in Deutschland das kommerzielle Fördern von Schiefergas mit der Fracking-Methode nicht zulässig ist, hat die Bundesregierung an Fracking-Gas aus den USA, das dort ähnliche Umweltschäden anrichtet, wie diese im eigenen Land zu befürchten wären, offenbar nichts auszusetzen.

Fazit: Wessen Interessen werden vertreten?

Wenn es in Deutschland ernstzunehmende Engpässe bei der Gasversorgung gäbe und deswegen Teile der Bevölkerung im Winter in ihren Wohnungen frieren würden oder Industriebetriebe ihre Produktion einstellen müssten, dann wären die außerordentlichen Maßnahmen, welche die Bundesregierung mit dem Ausfall der russischen Gaslieferungen begründet, schlüssig. Wenn Menschen in ihrer Existenz bedroht sind, hatten Umweltbedenken in der Vergangenheit in der Regel einen nachrangigen Stellenwert. Wenn die Regierung jedoch aufgrund von Klimaschutzzielen der Bevölkerung höhere Investitions- und Betriebskosten ihrer Heizungen infolge der geplanten Novelle des Gebäudeenergiegesetzes zumuten will, beim Bau von LNG-Terminals jedoch jegliche Umweltschutzbedenken per Gesetz pauschal ausblendet – ohne dass es zu einem Einbruch bei der Gasversorgung gekommen ist –, stellt sich die Frage, wessen Interessen vertreten werden. Die der deutschen Bevölkerung oder eher die der amerikanischen Politik, die schon den Bau von Nord Stream 2 sanktioniert hatte, weil ihr die Belieferung Deutschlands mit russischem Gas missfiel und sie den Absatz eigenen Fracking-Gases in Europa fördern will?

Anhang

Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWK) auf die Fragen von Multipolar, wie die Regierung die Aufrechterhaltung der Alarmstufe rechtfertigt und wie lange diese noch gelten soll, sowie, warum das Ministerium in seinem Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages vom 3. März 2023 aktuelle Trends nicht berücksichtigt und bei der Berechnung der Importe für 2022 die Gaslieferungen aus Russland ignoriert:

„Die durch das BMWK ausgerufene Alarmstufe nach dem nationalen Notfallplan bleibt bestehen. Wegen weiterer Vorsorgemaßnahmen sehen wir dies für erforderlich an, insbesondere um die Wiederauffüllung der Erdgasspeicher mit Blick auf die Versorgungssituation im Winter 2023/24 zu unterstützen und zu gewährleisten. Dem entsprechend wurde auch auf EU-Ebene die EU-Gas-Einspar-Verordnung bis Ende März 2024 verlängert. Dies unterstreicht: es bedarf auch national, auf Bundesebene weiterhin Vorsorgemaßnahmen, die an die Aufrechterhaltung der Krisenstufe geknüpft sind.

Das BMWK hat am 3.3.2023 einen Bericht zu den Planungen und Kapazitäten der schwimmenden und festen Flüssigerdgasterminals erstellt. Die Planung und der Aufbau einer eigenen LNG-Infrastruktur sind unmittelbare Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die damit ausgelöste Energiekrise. Ziel ist es, über den Aufbau einer eigenen LNG-Infrastruktur in Deutschland einseitige Abhängigkeiten zu überwinden, Vorsorge und Resilienz zu stärken, flexibel ist und in europäischer Solidarität zu handeln.

Im Sinne der Versorgungssicherheit soll eine resiliente Energieinfrastruktur errichtet werden, die sich klar am Vorsorgeprinzip orientiert, Risiken einpreist, flexibel ist und in europäischer Solidarität gedacht wird. Die bislang in Betrieb genommenen bzw. im Aufbau befindlichen FSRU-Kapazitäten können bisher rund die Hälfte der ausgefallenen Gaslieferungen aus Russland ersetzen. Nach dem ersten überstandenen Winter, der zudem vergleichsweise mild war, dürfen wir nicht nachlassen die Vorsorge weiter zu stärken. Dies zeigen auch die Ergebnisse der Analyse der Bundesnetzagentur.

Um schnell Lösungen für den Winter 2022/2023 und für den Winter 2023/24 umsetzen zu können, wurden und werden zunächst FSRU-Terminals [Anmerkung Redaktion: schwimmendes LNG-Terminal] bereitgestellt. Anschließend folgen die landseitigen LNG-Terminals. Diese hätten mit einer Bauzeit von ca. 3,5 Jahren nicht zur kurzfristigen Kompensation russischer Gaslieferungen beitragen können. Umgekehrt gilt, dass nur feste Terminals auf grüne Gase bzw. Wasserstoffderivate umstellbar sind. Daher ist der Aufbau beider Infrastrukturen erforderlich, wobei klar ist, dass die festen Terminals, sobald sie fertig sind, die FSRU ablösen werden. Insgesamt ist zu bedenken, dass für die jeweilig geplanten Projekte auch immer Realisierungsrisiken bestehen.

Seit Ausbleiben der Gaslieferungen aus Russland gibt es erhöhte Lieferungen aus Nachbarstaaten wie Belgien, den Niederlanden oder Norwegen. Ausbleibendes russisches Gas wird auf Dauer jedoch nicht ohne Weiteres mit höheren Gaslieferungen aus diesen Nachbarstaaten kompensiert werden können. Durch größere europäische Nachfrage, ist Norwegens Gasförderung aktuell am oberen Kapazitätslimit angelangt. Zudem ist es wichtig, die tatsächliche Menge für Deutschland zu sehen. Denn zum einen bleibt ein Teil des Gases in den Anlandeländern und, zum anderen müssen dafür auch die erforderlichen Leitungskapazitäten vorhanden sein.

Erhöhte LNG Lieferungen aus den Niederlande oder Belgien sind durch infrastruktureller Engpässe im Gasnetz auf beiden Seiten nicht möglich. Die drei französischen LNG-Terminals können aufgrund von Netzengpässen in Frankreich nicht zur Versorgung Deutschlands beitragen.
Zudem, unvorhergesehene Ereignisse oder Schäden an Infrastruktur dieser Nachbarstaaten würden auch Deutschland unmittelbar treffen. Die deutschen LNG-Terminals tragen also maßgeblich zur Diversifizierung bei.“

Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat.

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MICHAEL KARI, 5. Juli 2023, 20:20 UHR

Genau: Geschürte Panik als Begründung für, in diesem Fall, die Notwendigkeit von LNG. Ein Schelm der Böses dabei denkt. Die Begründungen für fast jede Sauerei sind immer die interessanteren Details. Zeigen sie doch auf die Verursacher bzw. deren Motiv, bzw. "Folge dem Geld".

A. WITTENBERG, 5. Juli 2023, 23:00 UHR

Vielen Dank für den wichtigen und informativen Beitrag! In diesem Zusammenhang würde mich auch interessieren, wie die Länder jetzt ihren Gasverbrauch decken, die bisher auf Deutschland als Transitland angewiesen waren. Vielleicht kann es dazu noch einen Nachtrag oder Hinweis geben.

HELENE BELLIS, 6. Juli 2023, 11:35 UHR

Was ist eigentlich aus der Formel »Zum Wohle des deutschen Volkes« geworden? Ist die jetzt auch nazi, schwurbel und antisemitisch? Oder wäre es vielleicht an der Zeit, sie einmal ordentlich zu definieren? Und wie haben diese Leute es geschafft, daß der sogenannte Klimaschutz den Umwelt- und Naturschutz komplett geplättet hat? Ich warte schon gar nicht mehr auf einen Aufschrei, denn gefühlte 90% aller Bio- und Ökobetriebe fahren voll auf dieser Klima-Schiene (und seit neuestem Anti-Rußland-Schiene) mit, wobei sie anscheinend nicht merken, daß sie sich fest und ordentlich ins eigene Fleisch schneiden. Gerade, weil das eben keine Firmen sind, die Greenwashing betreiben, sondern viele, deren Herz wirklich – zumindest bislang – an der Sache hing, tut das so weh und ist das so unverständlich.

Aber die haben ja auch bei der Impfwerbung für Corona fast alle mitgemacht, genauso wie ein Großteil der naturheilkundlichen Szene. Wann genau wurde in diesem Land eigentlich fast allen das Hirn abgestellt? Ja, auch ich fand 16 »alternativlose« Jahre Merkel schwierig, aber ich denke trotzdem noch selber und sage immer noch »Nein«, wenn »nein« richtig ist. Das scheint sich ansonsten aber kaum noch einer zu trauen, stattdessen nicken alle brav mit dem Kopf, bloß weil es alles angeblich gut für uns und den Planeten ist, und für dieses undefinierte Etwas, das sich »Solidarität« schimpft. Und nein, ich verstehe das nicht. Aber ich werde standhaft bleiben – gegen Flüssiggasterminals, gegen Frackinggas und für Natur und Umwelt. Und wenn ich da ganz alleine stehe.

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