Faktencheck: Gibt es aktuell eine Coronavirus-Pandemie in Deutschland?
PAUL SCHREYER, 4. September 2020, 8 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Definitionen
Zunächst zur Wortbedeutung: Der Rechtsbegriff, der dem aktuellen politischen Ausnahmezustand zugrunde liegt, also die vom Bundestag am 25. März 2020 beschlossene „epidemische Lage nationaler Tragweite“, ist sachlich nicht klar definiert. Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags kommt zum Ergebnis, dass die einzige im Infektionsschutzgesetz formulierte Voraussetzung für eine „epidemische Lage“ ein Beschluss der Abgeordneten sei:
„Weitere materielle Voraussetzungen bestehen nach dem Gesetzeswortlaut nicht. Auch der Gesetzesbegründung sind keine konkreten Kriterien zur Definition des Begriffs zu entnehmen. (…) Der Beschluss des Bundestages ist also maßgebend, unabhängig davon, ob tatsächlich eine epidemische Lage angenommen werden kann.“
Mit anderen Worten: Eine epidemische Notlage kann beschlossen werden und solange bestehen bleiben, wie es im Bundestag eine Mehrheit dafür gibt, unabhängig von den epidemiologischen Fakten.
Der Parlamentsbeschluss vom 25. März steht in Zusammenhang mit der vorausgehenden Erklärung des Pandemiefalls durch die Weltgesundheitsorganisation WHO. Am 11. März – weltweit wurden 4.000 Corona-Tote gemeldet und nicht nur in China, sondern auch im stark betroffenen Südkorea ebbten die Ausbrüche den offiziellen Zahlen zufolge bereits deutlich ab – hatte die WHO die Coronakrise überraschend zur weltweiten Pandemie erklärt. Die Gründe für diesen Beschluss blieben vage. Der WHO-Chef sprach von einer starken Zunahme der Fallzahlen (wobei die gleichzeitige Testausweitung nicht berücksichtigt wurde) und betonte, dass international noch zu wenig gegen das Virus unternommen werde. Daher läute man „die Alarmglocke“ und nenne die Krise nun Pandemie.
Ebenso wie die „epidemische Lage nationaler Tragweite“, so ist auch der Begriff „Pandemie“ nicht nach sachlichen, objektiv messbaren Kriterien und Kennziffern definiert. Eine Publikation der WHO selbst räumt ein, dass die Erklärung des Pandemiefalls „von einer Vielzahl willkürlicher Faktoren abhängt“. Eine Pandemie sei kein eindeutig abgrenzbares Ereignis, ihre Ausrufung wäre vielmehr „Gegenstand menschlicher Überlegungen, Debatten und sich ändernder Modelle“.
Die aktuellen Zahlen
Im Juli 2020 starben in Deutschland 168 Menschen an oder mit dem Coronavirus, im August waren es 157. Die tägliche Zahl der Toten beträgt somit ungefähr fünf, Tendenz fallend. Diese Werte werden vom Robert Koch-Institut (RKI) nicht einzeln ausgewiesen. Man muss sie selbst ausrechnen, indem man die Gesamttodeszahlen aus verschiedenen Lageberichten der Behörde heraussucht und voneinander abzieht.
Den fünf täglichen „Corona-Toten“ (in Anführungszeichen gesetzt, da andere vorhandene Grunderkrankungen nicht als Todesursache berücksichtigt werden) im Juli und August stehen durchschnittlich 190 tägliche Tote zum Höhepunkt der Krise im April gegenüber. Die Todeszahlen fielen also seit April um 97 Prozent.
Ähnlich sieht die Entwicklung bei der Belegung der Intensivbetten aus. Während Ende April noch 2.280 Patienten in Zusammenhang mit Covid-19 im Krankenhaus intensivmedizinisch versorgt werden mussten, so waren es Ende Juli 265 Patienten und Ende August 246 Patienten – ein Rückgang um 89 Prozent. Aktuell sind lediglich 0,8 Prozent aller Intensivbetten in deutschen Krankenhäusern mit Covid-19-Patienten belegt. Auch diese Prozentwerte werden vom RKI nicht einzeln ausgewiesen, man muss sie selbst ausrechnen.
Die Einschätzung des Robert Koch-Instituts
Seit dem 17. März heißt es in den Lageberichten des RKI unverändert: „Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch.“ Es sei nochmals betont: Diese Einschätzung trifft das RKI seit März unverändert. Der zwischenzeitliche Rückgang der Todeszahlen um 97 Prozent und der Rückgang der Patientenzahlen mit intensivmedizinischer Betreuung um 89 Prozent blieben für die Bewertung folgenlos.
In der Öffentlichkeit betonen das RKI und die Regierung in den letzten Wochen „steigende Infektionszahlen“, was aber sachlich in die Irre führt. Steigende Fallzahlen bedeuten nur unter bestimmten Bedingungen eine größere Gefährdung der Bevölkerung – aktuell ist keine dieser Bedingungen erfüllt.
Fragen von Multipolar an das RKI zu den Details der Risikobewertung, den entsprechenden Protokollen der Sitzungen des Krisenstabs sowie den konkreten Kennziffern, die für eine Absenkung der Gefährdungsschwelle nötig sind, blieben trotz mehrfacher, auch telefonischer Nachfragen über Wochen hinweg unbeantwortet. Erklärt wurde seitens der Pressesprecherin der Behörde lediglich pauschal, man sehe „weiterhin eine dynamische Lage“, da international „die Zahlen“ massiv ansteigen würden.
Die Psychologin Daniela Prousa, Autorin einer vor kurzem veröffentlichten Studie zu psychischen Auswirkungen der Maskenpflicht, geht seit einigen Tagen juristisch gegen das RKI vor, um per einstweiliger Anordnung einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch zu erwirken, der der Behörde untersagt, „bei sinkender bzw. gleichbleibender SARS-CoV-2-Positivenquote wörtlich oder sinngemäß zu behaupten, die Entwicklung sei (sehr) beunruhigend“. Das RKI wies den Unterlassungsanspruch in dieser Woche als unbegründet zurück, änderte aber gleichzeitig am 2. September im Stillen die beanstandete Formulierung im Situationsbericht. Statt von einer „beunruhigenden Entwicklung“, wie bislang regelmäßig in der einleitenden Zusammenfassung der Berichte zu lesen, spricht man nun zurückhaltender von einer Lage, die „weiterhin sorgfältig beobachtet werden“ müsse. Im Antrag heißt es weiter:
„Die Bewertungen des Antragsgegners [RKI] werden aktuell als das Maß aller Dinge angesehen. Die Regierenden (…) sowie die Gerichte orientieren sich in ihren Entscheidungen maßgeblich, um nicht zu sagen, nahezu ausschließlich, an der Bewertung des Antragsgegners. Der Antragsgegner bestimmt so seit Monaten faktisch das Schicksal eines ganzen Landes und seinen ca. 83 Millionen Bürger*innen. (…)
Abgesehen davon, dass es Hoheitsträgern verboten ist, unwahre bzw. die Wahrheit verzerrende Äußerungen zu tätigen, ist es hier aufgrund des nicht überschätzbaren Einflusses der Äußerungen des Antragsgegners auf das gesellschaftliche und politische Klima sowie auf politische und gerichtliche Entscheidungen unbedingt erforderlich, diesen zu einer übertreibungslosen, wahrheitsgemäßen Kommunikation anzuhalten bzw. ihm eine übertriebene, wahrheitswidrige Darstellung der Gefährdungslage zu untersagen. (…)
Das bewusste Angstmachen wider der Evidenz erfüllt nach Ansicht der Antragstellerin, die Diplom-Psychologin ist, die Kriterien von Psychoterror als eine Verbreitung von 'Angst, Schrecken, Verunsicherung (...), um ein politisches oder gesellschaftliches Ziel zu erreichen'.“
Die internationale Dimension
Die beschriebenen Entwicklungen und Einschätzungen der Regierung betreffen nicht nur Deutschland, sondern sind in vielen Ländern zu beobachten. In Frankreich ist die Entwicklung der Zahlen zu Sterberate und Intensivbettenbelegung ähnlich, ebenso die Argumentation der Regierung, die die massive Ausweitung der Maskenpflicht (in Schulen, am Arbeitsplatz sowie in Paris überall im Freien) zuletzt mit „steigenden Fallzahlen“ begründet, ohne zu erwähnen, dass die Anzahl der Tests auch in Frankreich, wie in Deutschland, in den letzten Wochen vervielfacht wurde.
Worum geht es tatsächlich?
Dass die Regierungen ihre Bürger über die Gefährlichkeit der aktuellen Situation anlügen, ist offenkundig. Doch warum geschieht das? Welche politischen Motive gibt es für die sachlich unbegründete Aufrechterhaltung des länderübergreifenden „Gesundheitsnotstands“?
Die grundlegende Zielrichtung der Corona-Maßnahmen scheint eindeutig: Es ist eine Zentralisierung von Machtausübung zu beobachten, eine Stärkung der Exekutive, eine engere Verzahnung mit Konzerninteressen sowie ein bis in privateste Gesundheitsdaten hineinreichender Ausbau der Überwachung und Durchleuchtung der Bürger. Die Grundrichtung der Entwicklung ist antidemokratisch. Dient die Pandemie also nur als Türöffner?
Tatsächlich werden entsprechende Gedanken in höher gestellten Kreisen schon seit längerem diskutiert. So hatte etwa Jacques Attali, ein Vordenker der französischen Eliten, langjähriger Berater des französischen Präsidenten François Mitterand und Entdecker von Emmanuel Macron, im Mai 2009, zu Beginn der medialen Aufregung um die Schweinegrippe, öffentlich philosophiert:
„Die Geschichte lehrt uns, dass sich die Menschheit nur dann signifikant weiterentwickelt, wenn sie wirklich Angst hat (…) Die beginnende Pandemie könnte eine dieser strukturierenden Ängste auslösen. (…) Eine größere Pandemie wird dann [wenn sie schwerwiegend ist; P.S.], besser als jeder humanitäre oder ökologische Diskurs, das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Altruismus wecken (…)
Und selbst wenn diese Krise, wie wir natürlich hoffen müssen, nicht sehr ernst ist, dürfen wir nicht vergessen, wie wir es bei der Wirtschaftskrise getan haben, aus ihr zu lernen, damit vor der nächsten, unvermeidlichen Krise Präventions- und Kontrollmechanismen sowie logistische Prozesse für die gerechte Verteilung von Medikamenten und Impfstoffen eingerichtet werden können. Zu diesem Zweck müssen wir eine globale Politik, eine globale Lagerung und damit eine globale Besteuerung einführen. Dann werden wir viel schneller, als es allein aus wirtschaftlichen Gründen möglich gewesen wäre, die Grundlagen für eine echte Weltregierung schaffen können.“
Das politische Potenzial von Pandemien machte auch eine im Frühjahr 2010 veröffentlichte Studie der Rockefeller Foundation deutlich. Unter dem Schock der weltweiten Finanzkrise wurden darin vier denkbare globale Zukunftsszenarien vorgestellt, von denen eines, das mit dem Stichwort „Lock Step“ („Gleichschritt“) bezeichnet war, die Vision einer autoritären Welt voller staatlicher Überwachung und Zwang schilderte, die sich aus Sicht der Autoren nach einer großen Influenza-Pandemie und der daraus folgenden Wirtschaftskrise rund um den Globus durchsetzen könnte.
Das Modell gleicht der Gegenwart von 2020 in erstaunlich vielen Punkten. Ausdrücklich wurde darin beschrieben, wie China im Verlauf der fiktiven Pandemie mit seinen besonders autoritären Schutzmaßnahmen zum Vorbild in der Welt würde. Auch eine Maskenpflicht in vielen Ländern erwähnten die Autoren und merkten an: „Selbst nachdem die Pandemie abgeklungen war, blieb die autoritärere Kontrolle und Überwachung der Bürger bestehen und verstärkte sich sogar noch.“
Mit den vorgestellten Szenarien wollten die Herausgeber nach eigener Aussage „eine neue strategische Debatte unter Entscheidungsträgern auslösen“. Für den Handelsblatt-Journalisten Norbert Häring zeigt das Papier, „dass wichtige Akteure seit mindestens zehn Jahren über die politischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Herausforderungen nachdenken, die durch Angst auslösende Pandemien entstehen“.
„Wir werden viel mehr Überwachung akzeptieren“
Es scheint, als ob ein ähnliches Programm zur Zeit international umgesetzt wird. Der Chefplaner des „Lock Step“-Szenarios von 2010 lässt aktuell verlauten:
„Wir werden nach und nach sehr viel mehr Überwachung akzeptieren. Und am Ende wird es uns nicht stören, weil es – für die meisten Menschen in den meisten Situationen – mehr nützt als schadet.“
Das passt zu Beobachtungen aus China, die ZDF-Korrespondent Ulf Röller im April bei Markus Lanz berichtete. Auf die Frage von Lanz, was die „Rückkehr zur Normalität“ dort bedeute, schilderte er:
„Was mir am meisten Angst gemacht hat, und das ist vielleicht auch ein Thema, was die deutschen Zuschauer sehr interessiert, ist, mit welcher Lichtgeschwindigkeit der Überwachungsstaat sichtbar geworden ist. Für jede Bewegung, die man machen will, muss man eine App herunterladen. (…) Man nutzt die Gesundheitsangst der Leute, um diese massive Überwachung stattfinden zu lassen. (…) Die meisten Chinesen, mit denen wir gesprochen haben, finden das super. Die Angst, die sie vor einer neuen Infektionswelle haben, ist so groß, die wird auch staatlich gelenkt, dass sie da keine Einschränkung ihrer Freiheit sehen, sondern etwas Positives, das sie schützt.“
Erst kürzlich erklärte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die Corona-Krise sei „eine große Chance, weil der Widerstand gegen Veränderungen in der Krise geringer“ werde. „Wir können die Wirtschafts- und Finanzunion, die wir politisch bisher nicht zustande gebracht haben, jetzt hinbekommen“, so Schäuble.
Wenn Regierungen und Eliten in diesem Zusammenhang kein Interesse an einer Aufhebung des „Gesundheitsnotstands“ haben, so leuchtet das unmittelbar ein.
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