Erwünschter Blindflug?
PAUL SCHREYER, 25. Juni 2021, 12 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Ein Video der Regierungsbefragung vom Mittwoch kursiert derzeit im Internet. Die Kanzlerin erklärt darin einem AfD-Abgeordneten den PCR-Test, verspricht sich dabei mehrfach und wirkt fahrig. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass Merkel ausgesprochen gut informiert ist.
Der AfD-Abgeordnete Sebastian Münzenmaier hatte sie im Bundestag mit einer vor kurzem veröffentlichten Studie der Universität Duisburg-Essen konfrontiert, wo Forscher nach Auswertung der PCR-Tests von mehr als 160.000 Menschen, die im Zeitraum von März bis Dezember 2020 durchgeführt worden waren, zum Ergebnis kamen, „dass mehr als die Hälfte der Personen mit positiven PCR-Testergebnissen wahrscheinlich nicht infektiös waren“.
Epidemische Lüge nationaler Tragweite?
Konkret wiesen die Tests von 60 Prozent der Personen Ct-Werte von 25 und höher auf, was ein Anzeichen niedriger Viruslast und fehlender Infektiosität ist. In der Zeit von Anfang März bis Anfang Mai 2020, also während der sogenannten ersten Welle, waren demnach sogar 78 Prozent (!) der Getesteten „sehr wahrscheinlich nicht mehr ansteckend“. Entsprechend müssten, so darf ein Beobachter wohl schlussfolgern, die Fallzahlen in dieser Zeit um 78 Prozent nach unten korrigiert werden. Eine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ hätte damit im Frühjahr 2020 zu keinem Zeitpunkt bestanden.
Der Hauptautor der Studie, Prof. Dr. Andreas Stang, Direktor des Instituts für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie des Universitätsklinikums Essen, schlussfolgert:
„Ein positiver RT-PCR-Test allein ist nach unser Studie kein hinreichender Beweis dafür, dass Getestete das Coronavirus auf Mitmenschen auch übertragen können. Die am Ende errechnete Zahl von SARS-CoV-2 positiv Getesteten sollte daher nicht als Grundlage für Pandemiebekämpfungsmaßnahmen, wie Quarantäne, Isolation oder Lockdown, benutzt werden.“
Faktenchecker wiegeln ab
Die explosive Studie sorgte in den vergangenen Tagen für Wirbel in den Medien. Nachdem die Bild-Zeitung am Sonntag (20.6.) auf Basis der Studienergebnisse getitelt hatte, dass „PCR-Tests keine Grundlage für politische Maßnahmen“ seien und in einem Kommentar die Bundesregierung klar und deutlich dazu aufrief: „die Fehler einzugestehen“, traten die öffentlich-rechtlichen Faktenchecker auf den Plan.
Am Dienstag erschienen bei der ARD und auch beim ZDF jeweils „Einordnungen“, die zu beschwichtigen versuchten. Wiederkehrendes Argument: Die Erkenntnisse der Forscher wären „nicht neu“. Auffällig auch: In beiden Artikeln war in der Einleitung die Rede davon, es sei „erneut eine Diskussion über die PCR-Tests entbrannt“, auf die man nun prüfend eingehe. Dabei konnte von einer breiten öffentlichen Debatte nach Veröffentlichung der Studie kaum die Rede sein. Tatsächlich waren die Faktenchecks von ARD und ZDF, in Reaktion auf die Bild-Zeitung, selbst die ersten Beiträge zu dieser Diskussion – die aber offenbar gleich wieder für beendet erklärt werden sollte.
Ebenfalls am Dienstag tauchte das Thema in Folge 94 des Drosten-Podcasts beim NDR auf, dort aber noch distanzierter. Die Studie und ihre brisanten Ergebnisse wurden nicht einmal erwähnt. Stattdessen hieß es in einer Frage der Moderatorin an Christian Drosten lediglich nebulös, aktuell werde „eine alte Debatte“ um die PCR-Tests „wieder neu aufgelegt, zumindest in Social Media, teilweise auch in Zeitungen“. Dass Forscher belastbare Zahlen vorgelegt hatten, fiel im NDR-Podcast komplett unter den Tisch.
Ein Abgeordneter fragt nach
Vor diesem Hintergrund wandte sich der Abgeordnete Münzenmaier am Mittwoch während der Regierungsbefragung im Bundestag an Merkel. Er fasste die Studienergebnisse knapp zusammen und wollte anschließend wissen, ob die Kanzlerin diesen Aussagen zustimme. Merkel verneinte. Zur Begründung verwies sie auf „gute wissenschaftliche Antworten, die ich hier nicht wiedergeben kann – zum Beispiel von Herrn Professor Drosten in seinem letzten Podcast“ und erläuterte anschließend ihr Verständnis des PCR-Tests:
„Wenn Sie sich den PCR-Wert eines Erkrankten anschauen, dann baut der sich auf und dann baut der sich nach einem Höhepunkt auch wieder ab, und das heißt, man hat im Verlauf der Krankheit, wenn man jetzt jeden Tag einen PCR-Test machen würde, immer eine bestimmte Verlaufskurve. Und da sind Teile davon unterhalb von 25 und Teile davon sind über 25. Also mal ist man mehr ansteckend, mal kommt man in den ansteckenden Bereich, dann ist man wieder gar nicht mehr ansteckend. Und die einzige Frage ist, haben wir – und wir hatten ja nur eine endliche Zahl von PCR-Tests zur Verfügung – vielleicht manchen Menschen drei oder vier Tage zu lange Quarantäne gesagt.
Sie können aber mit einem PCR-Test, bei dem Sie 100 Prozent herauskriegen, ob jemand die Krankheit hat, nicht sagen, ist der auf dem aufsteigenden Ast des PCR-Wertes, auf dem absteigenden Ast des PCR-Wertes (...), in welchem Stadium der Infektion ist er? Und deshalb glaube ich, dass wir im großen Ganzen im Blick auf die Verfügbarkeit von PCR-Tests verantwortlich gehandelt haben und man natürlich, wenn man unendlich viele solcher Tests hat, könnte man die Quarantänezeit hinten und vorne noch ein bisschen abschneiden. Aber das wäre nicht verantwortlich, da man für das Individuum ja auch gar nicht weiß, wie sich die PCR-Konzentration dann verändert. Das kann beim einen schnell gehen, beim anderen langsam gehen, Sie können ja nicht stündlich testen und fragen, ist der jetzt über 25 oder unter 25 und darf ich den noch auf die Straße lassen. So. Und deshalb ist das nach bestem Wissen und Gewissen gut gemacht. (…)
Im Grundsatz ist der PCR-Test immer ein hervorragender Indikator für die Frage, ob jemand krank ist. Und wenn ich mir den Zeitverlauf von Ct angucke, kann ich auch sagen, wann ist er mit großer Wahrscheinlichkeit ansteckend und wann nicht.“
Merkels Aussage „im Grundsatz“ sei der PCR-Test „immer ein hervorragender Indikator für die Frage, ob jemand krank ist“, erscheint in hohem Maße fragwürdig. Praktisch ist der Test kein guter Indikator, was die neue Studie nun auch nachweist. Merkel räumt zwar ein, dass man bei einmaliger Messung noch nicht weiß, ob der gemessene Ct-Wert gerade im Fallen oder im Steigen begriffen sei, argumentiert dann aber, daran ließe sich auch nichts ändern, denn man könne nun mal „nicht stündlich testen“. Das aber ist eine irreführende Zuspitzung, die davon ablenkt, was praktisch tatsächlich machbar wäre, aber bis heute nicht umgesetzt wird.
Drostens Podcast
Brisant ist, dass Merkel darum offenbar sehr genau weiß, wie ihr kurzer Hinweis auf „Professor Drostens letzten Podcast“ zeigt. Merkel kennt demnach den Inhalt dieses Interviews mit Drosten vom 22. Juni, ausgestrahlt einen Tag vor ihrer Befragung im Bundestag. Darin äußert sich Drosten präzise zum von Merkel diskutierten Sachverhalt wie folgt:
„Wenn ich jetzt erstmalig getestet werde und das Virus ist aber schon auf der absteigenden Flanke, ich bin schon gar nicht mehr infektiös, dann werde ich trotzdem gemeldet, obwohl ich nicht infektiös bin. Das ist auch richtig so. Denn vor einer Woche war ich infektiös. Daran gibt es kein Vertun. Ich war ein Fall und ich bin auch immer noch ein Fall.“
Diese Logik erschließt sich nicht auf Anhieb. Wenn ein Getesteter aktuell nicht infektiös ist, kann seine Meldung wohl nicht „richtig so“ sein – schließlich stellt er dann für niemanden eine Gefahr da. Der Virologe erläutert diesen offenkundigen Widerspruch in der Folge so:
„Da ist eine häufige Argumentation, die man hört, wenn man so jemanden mit einem hohen Ct-Wert hat, dann müsste man den doch gar nicht isolieren, weil der gar nicht infektiös ist. Dazu muss ich sagen: Ja, in den meisten Fällen stimmt das. Nur, man kann daraus leider keine allgemeine Empfehlung ableiten. Denn es gibt auch Fälle, und die sind jetzt nicht total selten, die kommen immer wieder vor, die sehen wir ständig hier bei uns im Labor, das ist nicht die Mehrheit, aber sie kommen eben immer wieder vor, das sind Fälle, die sind niedrig positiv. Aber wenn wir dann diesen Patienten einen Tag später noch mal testen, ist er auf einmal knallpositiv, ganz hoch positiv.
Das liegt daran, manche Patienten haben auch deswegen eine niedrige Viruslast, weil die Viruslast gerade im Moment im Ansteigen begriffen ist, wo wir den Patienten testen. Das wissen wir einfach nicht im Moment der Testung. Und darum kann man auf der Basis eines generellen bevölkerungsweiten Testregimes, das von einer Einzeltestung ausgeht, nicht empfehlen, dass ein Patient mit niedriger Viruslast nicht isoliert werden muss.
Das könnte man nur dann machen, wenn man grundsätzlich ein Testregime, also eine Test-Empfehlung verhängen würde, wo gesagt wird: Jeder Patient muss zweimal getestet werden. Dann könnte man natürlich mit solchen Dingen spielen. Aber der Aufwand steigt dann ja ins Unermessliche. Dann muss man jedes Mal sich noch mal wieder testen lassen. Das kostet total viel. Das ist ein logistischer Wahnsinn. Ich kenne diese öffentlichen Argumente, die gibt es in manchen Zeitungen. Ich bin damit sogar mal konfrontiert worden im Rahmen eines Untersuchungsausschusses, wo ich als Zeuge aussagen musste. Aber diese Überlegungen sind ganz einfach nicht zu Ende gedacht.“
Drosten stellt sich hier also schützend vor die Regierung. Der NDR hakte an dieser Stelle jedoch erfreulicherweise kritisch nach:
„Aber Sie haben jetzt von logistischem Wahnsinn gesprochen, den man da nicht leisten könnte. Wenn man das versuchen würde, einzugrenzen und sagt: Die Gesundheitsämter kriegen auch den Ct-Wert gemeldet. Und man würde dann nur eben die Menschen mit einem sehr hohen Ct-Wert strukturell vorgesehen ein zweites Mal nachtesten nach ein oder zwei Tagen, wäre das nicht ein sinnvolles Vorgehen?“
„Das hat man organisatorisch nicht hingekriegt“
Nun wird es spannend, denn Drosten stimmt dem zu (!) und erläutert dann wesentliche, vorher nicht genannte Zusammenhänge. Die besonders brisanten Passagen seiner Aussage sind im Folgenden hervorgehoben.
„Absolut, so was wäre denkbar. Das hat man nur organisatorisch nicht hingekriegt. Also ich habe dazu auch wiederholt Vorschläge gemacht. Das Ganze hat eine gewisse Kompliziertheit. Und zwar die Ct-Werte, die wir hier haben, die sind zwischen den einzelnen Testherstellern nicht so ohne Weiteres vergleichbar. (…) Die Unterschiede sind da zum Teil erheblich. Es gibt Testhersteller, bei denen ist ein Wert von sagen wir mal 25 überhaupt nichts Besorgniserregendes, während derselbe Wert von 25 in dem Test eines anderen Herstellers zeigt, dass das schon ernsthaft eine infektiöse Konzentration ist.
Das liegt einfach daran, dass diese Testhersteller nicht auf den Ct-Wert standardisieren. Das wäre auch nicht sinnvoll. Sondern sinnvoll ist es, dass man einfach dann das ermittelt, was hinter den Ct-Werten liegt, nämlich wirklich die Viruslast. Das kann man machen, das muss man kalibrieren. Wir haben das im Herbst gemacht. Diese ganze Laborarbeit, die dazu notwendig ist, die haben wir im September und Oktober geleistet. Ich hatte das im Sommer schon auch in der Öffentlichkeit erklärt, wie das funktioniert. Wir haben im Labor daran gearbeitet, das möglich zu machen.
Wir sind so weit auch gekommen, dass Viruslast-Standards... Das muss man sich wirklich vorstellen wie ein kleines Plastikfläschchen mit einer Testlösung drin. Da ist abgetötetes Virus von bekannter, definierter Konzentration drin. So eine Art Eichmaß, ein Kalibrator, den kann man sich in zwei bis drei definierten Konzentrationen von einer Firma bestellen, die so etwas vertreibt. Diese Firma, deren Existenzzweck ist es, Qualitätssicherung für Labore zu machen und eben die notwendigen Kalibrations-Standards dafür anzubieten. Und diese Kalibrations-Standards, die werden hier bei uns im Labor hergestellt, dieses abgetötete und exakt quantifizierte Virus.
Also dieses Eichmaß, das haben wir hergestellt. Wir haben auch eine Anleitung erarbeitet, die dann vom Robert Koch-Institut empfohlen ist, wie die Labore das benutzen können, dieses Eichmaß, um ihre Ct-Werte umzurechnen in Viruslast-Bereiche, die entweder tatsächlich zu einer exakten Viruslast führen oder die – und das ist unsere Empfehlung – zu Einschätzungsbereichen führen. Und zwar zu einer Einschätzung hochinfektiös, niedrig infektiös und grenzwertig. Also so grob gesagt, das wird ein bisschen vornehmer und präziser ausgedrückt. Da gibt es sogar eine Empfehlung, wie man das auf den medizinischen Befunden dann ausdrücken kann. Alles das können medizinische Labore machen. (...)
Was aber im Moment noch nicht passiert ist, dass flächendeckend auf dieser jetzt geschaffenen technischen Laborbasis auch Empfehlungen von den Landesgesundheitsämtern oder auch vom Robert Koch-Institut für bestimmte Anwendungsbereiche ausgesprochen und angewendet werden. Das ist ein durchwachsenes Bild. Da kommen wir jetzt wieder in die deutsche Politik- und Föderalismusdebatte rein. Da ist die Wissenschaft zu Ende. Da endet auch mein Zuständigkeitsbereich. Ich kann sagen, wir haben im Herbst unsere Zuständigkeit erfüllt. Und wir können das in Deutschland. Wir können das eben sogar so, dass dieses inhärente Problem der Nichtvergleichbarkeit der Ct-Werte schon gelöst ist. Wohlgemerkt im Herbst. Die Technik und die Labortestung ist hier nicht der Haken, sondern es ist wieder mal die Umsetzung und die Regulation.“
Merkels Argument, man könne „ja nicht stündlich testen“, läuft also ins Leere. Tatsächlich könnte man, Drosten zufolge, sehr wohl präzisere und verlässlichere Angaben zu den Testergebnissen machen – wenn man nur wollte. Merkel, Spahn und Wieler nutzen aber die von Drosten und seinem Team schon im Herbst 2020 bereitgestellten Instrumente dafür nicht. Der Kanzlerin ist das bekannt. Sie führte dieses Interview mit Drosten sogar am nächsten Tag, wie beschrieben, im Bundestag als Argument für ihre Position an – und versucht damit, die durch die Studie bewiesene Unzulänglichkeit der Tests zurückzuweisen. Überzeugend ist das nicht.
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