Inzidenzen: Schattenfechten im Lockdown
MARCUS KLÖCKNER, 12. März 2021, 8 KommentareDie letzten Monate waren und sind geprägt von Inzidenzwerten. Ob in lokalen, regionalen oder überregionalen Medien: Der Inzidenzwert ist nahezu allgegenwärtig. Sowohl Journalisten als auch Politiker fokussieren auf jene Zahl, die angibt, wie viele Personen pro 100.000 Einwohner positiv getestet sind. Steigende Inzidenzwerte, nahezu überall, waren zu vernehmen. Die Seuche, sie breitet sich aus, die Lage ist schlimm – so lautete der Tenor.
Die ansteigende Zahl an positiven Tests, die steigenden Inzidenzwerten, waren und sind das Vehikel, um den Lockdown, der nunmehr beinahe 3 Monate andauert, zu rechtfertigen und aufrechtzuhalten. Lockdown, das heißt in diesem Fall: Die schwersten Grundrechtseingriffe seit dem Bestehen der Bundesrepublik, und das breitflächig und dauerhaft, mit schweren Folgen für die Menschen, für die Wirtschaft. Mit anderen Worten: Es geht bei der Frage, wie Kreise und Städte das Infektionsgeschehen erfassen, um viel. Die Frage ist weitreichend.
Nur wenn die Verantwortlichen aus Politik und Behörden glaubhaft machen können, dass die Erfassung und die Einordnung des Infektionsgeschehens die harten Maßnahmen rechtfertigen, kann vonseiten der Bürger eine Zustimmung erwartet werden. Und: Von Entscheidern in dieser Situation ist zu erwarten, dass sie die Basis ihres Handelns so transparent wie möglich machen. Denn das ist elementar, wenn eine interessierte Öffentlichkeit sich selbst ein Bild machen möchte. Transparenz, so war es schon immer, schafft Vertrauen. Intransparenz schafft Misstrauen.
Nach nun mehr als einem Jahr Corona-Krise darf man annehmen, dass Behörden zentrale Parameter zur auflösungsstarken Einordnung des Infektionsgeschehens – insbesondere auf lokaler Ebene – auf Nachfrage leicht bereitstellen können. Doch dem ist nicht so.
Fingerhakeln mit den Pressestellen
Multipolar hat stichprobenartig bei zwei Landkreisen und einer Stadt nachgefragt, um unter anderem in Erfahrung zu bringen, wie viele Tests im Zeitraum von April bis Dezember, beziehungsweise Januar vor Ort durchgeführt wurden und ob die sogenannten Krankheitsbeginne von allen positiv Getesteten erfasst werden. Die Antworten gewähren einen Einblick in lokale Erfassungsraster, die problematisch sind. Deutlich wird auch eine Art Fingerhakeln mit den Pressestellen, die manche Fragen übergehen, nicht beantworten oder erst nach einigem Nachhaken beantworten.
Der Reihe nach. Ausgangszeitpunkt für die Recherche war der 14. Januar 2021. An diesem Tag betrug der Inzidenzwert für den bayrischen Landkreis Wunsiedel 291,8 – dies war an dem Tag der höchste Inzidenzwert in Bayern. Im thüringischen Landkreis Saalfeld-Rudolstadt lag der Inzidenzwert bei 601,8. Dies war der höchste Wert aller Bundesländer. In Leipzig betrug die Inzidenz 376,5.
Auf unsere Anfrage hin, ob die Anzahl der Tests im Kreis Wunsiedel erfasst würden, teilte uns die dortige Pressestelle mit, dass nur die positiven Befunde erfasst würden. Die Gesamtzahl der Tests könne man aber zumindest im Hinblick auf die lokale Teststelle in Schmirding angeben: „Dort wurden seit deren Eröffnung am 4.11. rund 40.000 PCR Tests und rund 4.000 Schnelltests durchgeführt.“ Mit anderen Worten: Der Kreis hat keinen Überblick über die Gesamtzahl der durchgeführten Testungen.
Das gilt auch für den Kreis Saalfeld-Rudolstadt. Von dort heißt es auf Anfrage, dass nur jene Tests erfasst werden, „die durch das Gesundheitsamt angeordnet werden.“
Vom Referat für Kommunikation der Stadt Leipzig kommt die Antwort: „Das Gesundheitsamt testet nicht selbst und erfasst auch nicht die Gesamtzahl der Tests. Es testen vor allem die niedergelassenen Ärzte, die Kliniken und die Testambulanzen der Uniklinik Leipzig und am Flughafen Leipzig/Halle. Diese arbeiten mit verschiedenen Laboren zusammen. Dem Gesundheitsamt werden nur die positiven Fälle gemeldet.“
Zwei Kreise und eine Stadt, die für ihre hohen Inzidenzwerte bekannt wurden, haben also keinen Überblick über die Gesamtzahl aller durchgeführten Tests. Dieses Ergebnis ist zunächst nicht überraschend und vermutlich würden auch andere Kreise und Städte ähnlich antworten – denn eine Meldepflicht für „Corona-Tests“ besteht nicht. Kein Kreis, keine Stadt, ist dazu verpflichtet, alle durchgeführten Tests zu erfassen.
„Diese Inzidenzen bilden nicht das Infektionsgeschehen ab“
Doch dieser Umstand ist nicht ohne. Gerade erst haben sich Berliner Amtsärzte in Sachen Inzidenzwert an die Öffentlichkeit gewandt. Ihre Forderung: Die Lockdown-Maßnahmen dürften nicht an den Inzidenzwert geknüpft sein. Zur Begründung tragen die Ärzte vor: „Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab“. Denn die Inzidenzwerte hingen sowohl mit den Testkapazitäten als auch dem Testwillen der einzelnen Bürger zusammen: „Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln“, heißt es im Tagesspiegel. Es sei außerdem ein Unterschied, ob die Inzidenzwerte durch Ausbrüche in Clustern oder durch eine Durchseuchung in der Breite der Bevölkerung zustandekomme. Zudem müsste auch das Alter der Infizierten berücksichtigt werden.
Es lässt tief blicken, wenn sich mittlerweile Amtsärzte zusammenschließen müssen und den Gang an die Öffentlichkeit suchen, um darauf aufmerksam zu machen, was die totale Orientierung vonseiten der politischen Entscheider am Inzidenzwert bedeutet. Denn die Fokussierung auf den Inzidenzwert kommt bei einem gleichzeitigen Nichterfassen der Anzahl der durchgeführten Tests einem Schattenfechten gleich.
Diese Kritik ist nicht neu. Bereits im vergangenen Jahr wurde beanstandet, die Politik am Inzidenzwert auszurichten. So verwies etwa der Statistikexperte Gerd Antes darauf, dass es an einer systematischen Erfassung der Tests fehle:
„Die Tests liefern für allgemeine Aussagen keine belastbaren Zahlen. Deshalb sind alle Zahlen, die aus diesen Tests abgeleitet werden, grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen und schlimmstenfalls grob falsch.“
Das sind deutliche Worte, deren Aussagengehalt nach wie vor zutreffend ist. Gerade auch weil diese Kritik so berechtigt ist, aber dennoch verhallt und die Politik noch immer den Lockdown auf den Inzidenzwert stützt, ist es angebracht, genauer hinzuschauen.
Keine Antwort wegen „massiver Arbeitsbelastung“
Wenn der Kreis Wunsiedel immerhin weiß, dass in seiner lokalen Teststelle in Schmirding rund 44.000 PCR und Schnelltests seit dem 4. November durchgeführt wurden, dann ist es von Interesse zu erfahren, wie viele Tests, aufgeschlüsselt pro Tag und Woche, erfolgt sind. Auf Nachfrage teilte der Kreis zunächst mit:
„Aufgrund der massiven Arbeitsbelastung unseres Gesundheitsamtes hinsichtlich der Bekämpfung der Corona-Pandemie ist es uns leider nicht möglich uns noch einmal mit der Anfrage zu beschäftigen.“
Nach dem Weglassen weiterer Fragen und der Bitte, wenigstens zwei Anschlussfragen zu beantworten, hieß es, „eine derart umfangreiche Übersicht zu erstellen ist in der Kürze der Zeit und der aktuellen Situation nicht machbar“, so Pressesprecherin Anke Rieß-Fähnrich. Der Kreis vertritt die Auffassung: Da „sämtliche positiven Tests beim Gesundheitsamt zusammengetragen“ würden, könne man anhand dieser Zahl sehen, „wie sich das Geschehen entwickelt.“ Es werde zudem darauf geachtet, ob sich das Virus „clusterartig“ verbreite oder durch „eine Vielzahl einzelner Fälle“. Ergänzend führt der Kreis aus, dass natürlich bei vielen Tests auch viele positive Fälle aufgedeckt würden. „Wer viel testet, deckt ggf. viele positive Fälle auf.“
Da der Kreis Saalfeld-Rudolstadt mitteilte, dass nur die vom Gesundheitsamt angeordneten Tests erfasst würden, wollte sich Multipolar zumindest diese Anzahl der Tests aufgeschlüsselt pro Tag und Woche anschauen. Das Presse- und Kulturamt teilte daraufhin mit:
„Die durch das Gesundheitsamt durchgeführten Tests wurden händisch erfasst, die notwendige Dokumentation wurde durchgeführt. Diese steht aber nicht als Datenbank zur Verfügung. Die Anzahl der positiven Tests ist weiterhin über das RKI zu erfahren, hier sind alle positiven Tests erfasst und frei zugänglich.“
Auch Leipzig war nicht in der Lage auf Nachfrage wenigstens eine Teilzahl der durchgeführten Tests zur Verfügung zu stellen. Kurz und knapp hieß es:
„Nein, dazu gibt es keine rechtliche Grundlage.“
Halten wir fest: Während die Stadt Leipzig sich auf die fehlende gesetzliche Grundlage beruft, der Kreis Saalfeld-Rudolstadt die vom Gesundheitsamt durchgeführten Tests „händisch“ erfasst, aber diese Erfassung nicht als Datenbank zur Verfügung steht, kann der Kreis Wunsiedel zwar angeben, wie hoch die Gesamtzahl der durchgeführten Tests in seinem lokalen Testzentrum ist, ist aber nicht in der Lage, die Zahlen, wie erbeten, aufgeschlüsselt bereitzustellen.
Anders gesagt: Zwei Kreise und eine Stadt, die aufgrund hoher Inzidenzwerte weitreichende Grundrechtseinschränkungen vorgenommen haben, können der Öffentlichkeit nicht aufzeigen, wie sich das Testgeschehen in den vergangenen Monaten entwickelt hat.
Zahl der positiven Tests hat „wenig Aussagekraft“
Der ehemalige Leiter des Gesundheitsamtes im bayrischen Landkreis Aichbach-Friedberg, Friedrich Pürner, sieht in diesem Umgang der Kreise und Städte mit Testzahlen ein großes Problem:
„Zahlen ohne Basis bewerten zu wollen, ergibt keinen Sinn. Seit Beginn der Pandemie konnten weder die Gesundheitsämter noch die Landesämter und das RKI aufgrund von fehlender Technik, Software und Wissen exakte Zahlen liefern. Wenn wir nicht wissen, wieviel tatsächlich getestet wird, dann haben die positiven Ergebnisse wenig Aussagekraft.“
Pürner, dessen Versetzung aufgrund seiner Kritik an den Corona-Maßnahmen der Bayerischen Regierung im vergangenen November Wellen in den Medien geschlagen hat, verdeutlicht:
„Bereits im vergangenen Jahr habe ich den Inzidenzwert als alleiniges Kriterium für Maßnahmen kritisiert. Dieser Wert ist politisch gewählt worden und hat über das eigentliche Ereignis keine Aussagekraft. Es werden lediglich die positiven Labormeldungen pro 100.000 Einwohner innerhalb von 7 Tagen aufsummiert. Über die wirklich Erkrankten, die also ärztliche Hilfe oder eine stationäre Behandlung benötigen, wissen wir nichts.“
„Zusätzliche Informationen müssen herangezogen werden“
Auch der Statistiker Helmut Küchenhoff ist, was die Aussagekraft der inzidenzwerte angeht, vorsichtig. Küchenhoff, Sprecher einer Arbeitsgruppe des Statistischen Beratungslabors der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), betrachtet die Zahlen im Zusammenhang mit der Corona-Krise immer wieder genau. Alle zwei bis drei Wochen veröffentlicht er die so genannten CODAG-Berichte, „die sich mit dem Infektionsgeschehen und der Sterblichkeit von COVID-19 in Deutschland befassen“.
Im CODAG-Bericht Nr. 9 vom 19. Februar heißt es, die vom RKI veröffentlichten Inzidenzwerte, beruhend auf den positiven Tests, hängen von der „Anzahl“ und der „Genauigkeit“ der Tests, aber auch der „Teststrategie“ ab:
„Das bedeutet, dass zur genauen Beurteilung des Infektionsgeschehens auf Basis dieser Inzidenzwerte unbedingt zusätzlich detaillierte Informationen herangezogen werden müssen, insbesondere ist es wichtig, den Grund (…) eines COVID-19 Tests zu registrieren, etwa 'vorhandene Symptome', 'positiver Antigen-Test', 'epidemiologischer Zusammenhang', 'Nachweis' usw.“.
Datenmischmasch beim RKI
Das RKI bietet zwar einen Überblick über die „Erfassung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland“ – was aber auf den ersten Blick nach den Gesamttestzahlen aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als eine Art Datenmischmasch. In einer Excell-Tabelle präsentiert das RKI Testzahlen samt Positivquote der vergangenen Kalenderwoche.
Zunächst ist zu erkennen, dass es zu einem starken Anstieg der Tests gekommen ist. Während in der Kalenderwoche 11 des vergangenen Jahres noch 127.750 Personen getestet und davon 7456 positiv waren, wurden in der 51. Kalenderwoche 1.672.033 Tests durchgeführt – und das bei 188.283 positiven Testungen. Im ersten Fall beträgt die Positivquote rund 6 Prozent, im zweiten 11 Prozent. Im ersten Fall haben 117 Labore Testergebnisse übermittelt, im zweiten 212.
„Kalenderwoche“, „Anzahl der Testungen“, „positiv getestet“, „Positivenquote“ in Prozent, „Anzahl der übermittelnden Labore“: Die vom RKI veröffentlichte Excell-Tabelle sieht zunächst nach maximaler Transparenz und fundierter Statistik aus. Doch so einfach ist es nicht. Das Institut verweist zwar unter den Zahlenangaben darauf, das „ab dem 3. November 2020 geänderte Testkriterien“ vorliegen und „Daten nicht direkt mit Vorwochen vergleichbar“ seien. Auch erklärt das RKI, wie die präsentierten Daten zusammenkommen, nämlich indem „deutschlandweit Daten von Universitätskliniken, Forschungsreinrichtungen sowie klinischen und ambulanten Laboren wöchentlich am RKI zusammengeführt“ werden.
„Übermittelt“, so das RKI weiter, „werden diese über eine internetbasierte Umfrage des RKI über Voxco (RKI-Testlaborabfrage), vom Netzwerk für respiratorische Viren (RespVir), der am RKI etablierten Antibiotika-Resistenz-Surveillance (ARS) oder über eine Umfrage eines labormedizinischen Berufsverbandes. Zusätzlich werden über die RKI-Testlaborabfrage und die Abfrage eines Laborverbunds die maximalen Testkapazitäten der Labore für die kommende Kalenderwoche (KW) sowie eventuelle Lieferengpässe für Reagenzien sowie Probenrückstaus erfasst.“
Schließlich verweist das RKI auch darauf, dass sich bisher „insgesamt über 250 Labore für die RKI-Testlaborabfrage oder in einem der anderen übermittelnden Netzwerke registriert“ haben, um ihre Zahlen wöchentlich zu übermitteln. Außerdem macht die Behörde darauf aufmerksam, dass „die Zahl der Tests nicht mit der Zahl der getesteten Personen gleichzusetzen ist, da in den Angaben Mehrfachtestungen von Patienten enthalten sein können.“ Unter einer entsprechenden Verlinkung gibt das RKI zudem auch noch Auskunft darüber, wie die Infrastruktur aussieht, die es den Laboren ermöglicht, die positiven Testergebnisse zu übermitteln.
Tragfähiges Fundament fehlt
Nun zum großen „Aber“: Vordergründig wirken die präsentierten Daten solide. Doch bei genauerer Betrachtung fehlt ein tragfähiges Fundament. Wie will man wirklich belastbar das Infektionsgeschehen von Anbeginn der Corona-Krise in Deutschland bis zum heutigen Stand vergleichen, wenn wichtige Parameter nicht vorhanden sind oder „dynamisch“ Verwendung finden? Zunächst übermitteln 117 Labore Testzahlen, dann 212; zunächst werden 127.750 Personen getestet, dann 1.672.033 Millionen und schließlich finden auch noch Änderungen der Testkriterien statt.
Was bedeuten diese Ausführungen für die Frage, wie das Fehlen der Gesamttestzahlen einzuordnen ist? Die Antwort darauf ist kompliziert. Es wäre zu einfach zu sagen, dass aus den Inzidenzwerten, wie sie derzeit verwendet werden, gar keine Schlüsse auf das Infektionsgeschehen möglich sind. Es wäre auch zu einfach zu sagen, dass zwangsläufig mehr Tests mehr positive Ergebnisse hervorbringen (hier kommt es auf die real vorhandene Dunkelziffer an, die den positiven Tests natürliche Grenzen setzt, auch spielt die Frage eine Rolle, wie viel mehr Tests durchgeführt werden). Und dennoch ist das Fehlen der Gesamttestzahl ein Problem.
Der Reihe nach. „Wenn sich die Dunkelziffer ändert, dann sind die Inzidenzen problematisch und ebenso ist die Interpretation des Verlaufs der Inzidenzen problematisch“, sagt Küchenhoff. Denn bei einer veränderten Dunkelziffer könne man leicht zu dem Fehlschluss kommen, „die Inzidenzen steigen an, aber in Wirklichkeit hat man nur besser erfasst.“ Küchenhoff sagt aber auch, dass der Zusammenhang zwischen steigenden Inzidenzwerten und den Krankenhausaufnahmen doch „relativ hoch ist.“ „Aussagelos sind die Inzidenzen also nicht.“
Kritisch sieht Küchenhoff den Vorschlag, alle Tests basierend auf einer Rechtsverordnung oder einem Gesetz zu erfassen. „Als Statistiker bin sich sehr für das Erheben von Daten. Ich hätte diese Zahlen gerne, gar keine Frage, aber ob uns die Forderung nach einer Pflicht, alle Tests zu registrieren weiterhilft, da bin ich mir nicht sicher.“
Im CODAG-Bericht Nr. 10 vom 5. März schlägt die Arbeitsgruppe um Küchenhoff vor, sich auf die „zentralen und relevanten Parameter der Pandemie“ zu konzentrieren: „Mortalität und schwere Morbidität“. „Daher“, so heißt es weiter, „sollten diese Zahlen im Zentrum der Betrachtung, insbesondere bei der Entscheidung über nötige präventive
Maßnahmen stehen.“
Irreführende Antwort des RKI – und auf Nachfrage Schweigen
Multipolar wollte angesichts all dessen wissen, wie das RKI mit dem Problem der unzureichenden Erfassung aller Tests umgeht. Die Behörde antwortet mit der Aussage:
„Das RKI erfasst die Zahl der Tests und veröffentlicht sie jeweils Mittwochs im Lagebericht.“
Moment! Über diese Antwort kann man nur erstaunt sein, denn: Sie ist grob irreführend. Im Lagebericht des RKI finden sich folgende erhellende Zeilen: „Aktuell wird in Deutschland deutlich weniger PCR-getestet als zum Jahresanfang 2021. Der Anteil positiv Getesteter an allen PCR-Testdurchführungen (Positivquote) lag in KW 8/2021 bei 6,1% der erfassten Tests.“
Es bedarf schon etwas Konzentration, um den Unterschied zwischen der Aussage, die von der Pressestelle des RKI kommt und der Aussage, die im Lagebericht zu finden ist, zu erkennen. Im Lagebericht ist von den „erfassten“ Tests die Rede, während die Pressestelle sagt, das RKI erfasse „die Zahl der Tests“. So formuliert liegt der Schluss nahe, dass die Pressestelle hier von allen durchgeführten Tests spricht. Man fragt sich nun, wie es sein kann, dass eine nach einem Jahr Corona-Krise wohl hocherfahrene RKI-Pressestelle so irreführend kommuniziert.
Auf Nachfrage, wie die Formulierung zu verstehen sei, antwortet das RKI nicht mehr. Auch nicht auf die Frage, ob das RKI die Erfassung aller durchgeführten Tests befürworte.
Wenn das RKI auf diese Weise kommuniziert, ist es nicht verwunderlich, dass auch in den Medien immer wieder falsche Angaben zu finden sind. In einem aktuellen Artikel auf Focus Online, der um Aufklärung bemüht ist, ist etwa zu lesen, die Positivrate besage, „wie hoch der prozentuale Anteil von positiven Coronatests an der Gesamtzahl aller durchgeführten Tests ist.“ Danach folgen Ausführungen, die nahelegen, dass die Gesamtzahl aller durchgeführten Tests tatsächlich vorliegt.
Wie viele entwickeln Symptome?
Wie sieht es mit weiteren Parametern aus, die zur Einschätzung des Infektionsgeschehens von Relevanz sind? Wie steht es mit der Anzahl der Erkrankten? Wie viele der positiv auf das SARS-CoV-2 getesteten Personen entwickeln überhaupt Symptome? Auch diese Frage ist zur Einordnung des Infektionsgeschehens von Bedeutung.
Auf die Frage an den Kreis Saalfeld-Rudolstadt, ob dort die Krankheitsbeginne erfasst werden, heißt es:
„Bei positivem Corona-Nachweis erfolgt der Kontakt zum Betroffenen durch das Gesundheitsamt, der Grund der Testung und ein eventueller Krankheitsbeginn werden erfragt. Vor allem Erkältungssymptome wie Husten, Fieber und reduzierter Allgemeinzustand werden erfragt, aber auch z.B. Geruchs- und Geschmacksstörungen. Der Anteil der asymptomatischen Getesteten wird nicht gesondert erfasst, ist aber als Fall ohne Erkrankungsbeginn über die RKI-Daten einzusehen.“
Die Antwort macht stutzig. Erfasst der Kreis Saalfeld-Rudolstadt von allen positiv Getesteten auch einen eventuellen Krankheitsbeginn? Auf Nachfrage heißt es:
„Nicht von allen positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten wird der Erkrankungsbeginn erfasst, da nicht alle positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten erkranken.“
Der Kreis Wunsiedel teilt mit: „Natürlich erfassen wir die Krankheitsbeginne – nur so ist beispielsweise die Festlegung der Dauer der Quarantänedauer möglich.“ Eine Beantwortung der Multipolar-Nachfrage, ob von allen positiv Getesteten die Krankheitsbgeinne erfasst werden, lehnte der Kreis zu beantworten ab – aus Zeitgründen.
Anders sieht es in Leipzig aus. Die Stadt teilt mit, dass bei einem positiven Test eine Kontaktaufnahme zu dem Getesteten erfolge, „positive Fälle werden wieder täglich angerufen und nach Symptomen befragt.“ Auf die Frage, ob von allen positiv Getesteten die Symptome erfragt würden, heißt es: „ja“.
Was bedeuten Antworten wie diese nun für die Gesamtstatistik des RKI im Hinblick auf die dort veröffentlichten Zahlen zu den Krankheitsbeginnen? Zunächst: Dem RKI werden die Krankheitsbeginne übermittelt. Daraus erstellt das Institut eine entsprechende Statistik. In seinem „Täglichen Lagebericht“ teilt das Institut mit:
„Die dem RKI übermittelten Fälle mit Erkrankungsdatum seit dem 01.03.2020 sind in Abbildung 2 dargestellt. Bezogen auf diese Fälle ist bei 1.212.005 Fällen (50 %) der Erkrankungsbeginn nicht bekannt bzw. sind diese Fälle nicht symptomatisch erkrankt. Für diese Fälle wird in Abbildung 2 daher das Meldedatum angezeigt.“
Schlechte Datenqualität
Pürner hinterfragt die RKI-Angaben:
„Die Gesundheitsämter haben ja die Möglichkeit, über ihre Meldesoftware Angaben zu vorliegenden Symptomen zu machen. Wenn also etwa 50 Prozent der Fälle im RKI Bericht keine Symptome haben, dann muss man schon mal hinterfragen, woran das liegt. Macht das Virus vielleicht doch nicht so krank oder liegt ein gewaltiger Erfassungsfehler vor?“
Pürner weiter:
„Wenn ungelernte Aushilfskräfte nun in den Gesundheitsämtern Daten von Personen erfassen sollen, dann kann eine Nichtfachkraft vielleicht Symptome nicht erkennen bzw. richtig einordnen. Nicht umsonst brauchen Hygienefachkräfte eine umfassende Ausbildung. Insgesamt zeigt mir das Zahlendebakel deutlich, dass eine Reform des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mitsamt den großen Behörden, vor allem meine ich hier das RKI, dringend notwendig ist. Es kann im Jahr 2021 nicht sein, dass wir über so eine schlechte Datenqualität verfügen.“
Die Qualität der Daten insgesamt sieht Pürner schon länger „mit Sorge“:
„Vor Corona fand das keine Aufmerksamkeit, da an diese Zahlen keine Konsequenzen geknüpft waren. Nun hat sich das aber geändert.“
Multipolar hakte beim RKI nach, wie es komme, dass bei 50 Prozent der positiv getesteten Fälle nicht bekannt sei, ob ein Erkrankungsbeginn vorliegt. Die Antwort des RKI:
„Das können wir nicht beantworten. Die Daten werden von den Gesundheitsämtern übermittelt.“
Auf die Rückfrage, ob das RKI denn ein Interesse daran habe, zu erfahren, warum bei 50 Prozent der positiv getesteten Fällen nicht bekannt ist, ob ein Erkrankungsbeginn vorliegt, erfolgte – erneut – keine Antwort.
Mehr als jeder zweite positiv Getestete nicht ansteckend
Probleme gibt es aber nicht allein mit der Datenqualität, sondern offenbar auch mit den Begrifflichkeiten. Tatsächlich beschreibt der Begriff „Inzidenz“, so wie er in der Corona-Krise verwendet wird, nicht die Häufigkeit von Erkrankungen, sondern von positiven PCR-Tests. Ein Beitrag im Fachmagazin Lancet wies jüngst darauf hin, dass in mehr als der Hälfte der Fälle (!) positiv Getestete wahrscheinlich nicht ansteckend sind, einfach weil der Zeitraum der Ansteckungsfähigkeit viel kürzer ist als der Zeitraum der Nachweisfähigkeit von Virusmaterial. Anders gesagt: Die PCR-Testergebnisse taugen schon deshalb wenig zur Bewertung des tatsächlichen Krankheitsgeschehens.
Prof. Dr. Matthias Schrappe, langjähriger Vizechef im Sachverständigenrat des Bundesgesundheitsministeriums, warnte bereits im Oktober vergangenen Jahres in einer Stellungnahme vor dem Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages:
„Die derzeitig verwendeten Testverfahren lassen keine sinnvolle Aussage zur Infektiosität zu und können daher daraus abgeleitete Maßnahmen nicht begründen.“
„Der Begriff Inzidenz wird falsch verwendet“
Später ergänzte Schrappe gemeinsam mit einem halben Dutzend Professoren in einem gemeinsamen Thesenpapier:
„Der Begriff der Inzidenz wird in der Berichterstattung falsch verwendet. Bei den Häufigkeitsangaben des RKI handelt es sich um unsystematisch gewonnene, anlassbezogene Prävalenzwerte, die über 7 Tage hinweg addiert werden (…). Der durch den Begriff 'Inzidenz' bzw. '7-Tages-Inzidenz' geweckte Eindruck, man wisse über den Stand der Epidemie und die tatsächlich in einem Zeitraum auftretenden Neuerkrankungen Bescheid, täuscht und untergräbt die Glaubwürdigkeit des politischen Handelns.“
Halten wir fest: Das RKI veröffentlicht auf seiner Webseite eine schier unfassbare Menge an Daten. Auch auf lokaler Ebene veröffentlichen die Behörden immer wieder eine Vielzahl von aktualisierten Daten. Doch bei genauerer Betrachtung sind jene Daten, mit denen der Lockdown begründet wird, hochgradig problematisch.
Die oberste Gesundheitsbehörde im Land antwortet irreführend und verweigert die Beantwortung von Nachfragen zur weiteren Aufklärung. Pressestellen auf lokaler Ebene sind einerseits bemüht Presseanfragen zu beantworten, andererseits mauern einige bei kritischen Nachfragen. Zentrale Daten zur Erfassung des Infektionsgeschehens sind nicht vorhanden oder werden nicht herausgegeben.
Derweil spricht RKI-Chef Wieler von der „dritten Welle“ und bei Google News finden sich zum Schlagwort „Inzidenzwerte“ mehr als 100.000 Treffer und Überschriften, die auf „steigende Inzidenzwerte“ verweisen. Anders gesagt: Es geht weiter schattenfechtend durch den Lockdown.
Über den Autor: Marcus Klöckner, studierte Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Er ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien sein Buch: „Sabotierte Wirklichkeit – Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird“. Als Mitherausgeber initiierte er 2019 eine Neuausgabe des Klassikers der herrschaftskritischen Soziologie „Die Machtelite“ von C. Wright Mills.
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