Intransparente Risikobewertung: Multipolar klagt gegen das Robert Koch-Institut
PAUL SCHREYER, 7. November 2020, 16 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Seit März 2020 erklärt das RKI, dass „die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland hoch“ sei. Immer wieder, wenn Bürger in den vergangenen Monaten gegen die Maßnahmen der Regierung vor Gericht zogen, verwiesen Richter auf diese Behauptung und hinterfragten sie nicht. Doch wie kommt das RKI zu seiner Schlussfolgerung? In einem am 17. Juli erstmals veröffentlichten Dokument mit dem Titel „COVID-19: Grundlagen für die Risikoeinschätzung des RKI“ heißt es:
„Die Risikobewertung wird durch den RKI-Krisenstab formuliert und situativ adaptiert.“
Multipolar versucht bereits seit mehreren Monaten in verschiedenen Anfragen zu erfahren: Welche Personen gehören zum RKI-Krisenstab? An welchen Tagen erfolgten die Treffen des Gremiums? Hat sich die Zusammensetzung des Krisenstabs seit Einrichtung geändert? Vor allem: Existieren Sitzungsprotokolle des Krisenstabs? Die RKI-Pressestelle erklärte dazu bislang lediglich:
„Notizen gibt es, Veröffentlichungen dieser Notizen sind nicht vorgesehen. Der Krisenstab besteht aus verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlicher, in die Pandemiebewältigung involvierter Abteilungen, Fachgebiete und Projektgruppen.“
Die dem Gesundheitsministerium von Jens Spahn nachgeordnete Behörde verweigert somit die konkrete Auskunft darüber, welche Personen die alles entscheidende Risikobewertung vorgenommen haben (und fortlaufend erneuern), auf deren Grundlage das Land in den Ausnahmezustand geschickt wurde, Millionen von Menschen um ihre berufliche Existenz bangen müssen und in nahezu allen Bereichen ihres Lebens massiv eingeschränkt werden. Besonders fragwürdig und kaum glaublich: Zu den Sitzungen des anonymen Krisenstabs scheint es nicht einmal ordentliche Protokolle zu geben, sondern lediglich „Notizen“, deren „Veröffentlichung nicht vorgesehen“ ist.
In unseren Fragen an das RKI heißt es weiter:
„Trotz einer sich seit Anfang März stark verändernden Situation (Fallzahlen, Testgeschehen, Hospitalisierte, Tote) schreibt das RKI in seinen Lageberichten seit dem 9. März bis heute unverändert: 'Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation.' Nach welchem Kriterium wird 'sehr dynamisch' hier bewertet? Konkreter gesagt: Welche Kennziffern müssten wie lauten, damit die Situation aus Sicht des RKI nicht mehr als 'sehr dynamisch' beschrieben wird?
Ergänzung: Falls die 'Fallzahlen' (Anzahl der positiven Tests) die maßgebliche Kennziffer sein sollte, wie kann seitens des RKI sichergestellt werden, dass dieser Wert nicht in erheblichem Maße durch den (gestiegenen) Testumfang, die Falsch-Positiven-Rate sowie die normale saisonale Entwicklung (mehr Atemwegserkrankungen im Herbst) bedingt ist?“
Außerdem fragten wir mit Blick auf den ersten Lockdown im Frühjahr:
„Am 17. März hat das RKI die Risikoeinschätzung auf 'hoch' heraufgesetzt und es heißt in den Lageberichten seither, 'die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung [wird] in Deutschland derzeit insgesamt als hoch' eingeschätzt. Bis zum 16. März war von 'mäßig' die Rede. Die Änderung welcher konkreten Kennziffern bewirkte die Änderung der Risikobewertung am 17. März?“
Auch die Antworten auf diese Fragen stehen bislang aus. Zur Definition der Gefährdungsstufen heißt es im eingangs erwähnten RKI-Papier vom 17. Juli:
„Für die verwendeten Begriffe 'gering', 'mäßig', 'hoch' oder 'sehr hoch' liegen keine quantitativen Werte für Eintrittswahrscheinlichkeit oder Schadensausmaß zugrunde. Allerdings werden die für die Schwerebeurteilung (= Schadensausmaß) genutzten drei Kriterien bzw. Indikatoren (Übertragbarkeit, Schwereprofil und Ressourcenbelastung) mit jeweils messbaren Größen beurteilt.“
Seit mehreren Monaten wollen wir vom RKI nun wissen:
„Welche konkreten Kennziffern ('messbare Größen') bei Übertragbarkeit, Schwereprofil und Ressorcenbelastung ergeben aus Sicht der Behörde eine 'hohe Gefährdung'? Und welche konkreten Kennziffern ('messbare Größen') müssen aus Sicht des RKI erreicht sein, um die Risikobewertung wieder auf 'mäßig' bzw. auf 'niedrig' abzusenken? Sind diese Kennziffern schriftlich festgehalten? Sind sie öffentlich einsehbar?“
Wir haben dem RKI gegenüber deutlich gemacht, dass diese Fragen darauf abzielen, den Eindruck einer etwaigen Willkür bei der Entscheidungsfindung durch größtmögliche Transparenz auszuschließen, eine Beantwortung somit im direkten Interesse der Behörde liegen sollte. Ein Willen zur Transparenz ist bislang jedoch nicht erkennbar. Dies ist besonders relevant vor dem Hintergrund der vom RKI selbst im September 2019 veröffentlichten „Guten Praxis Gesundheitsberichterstattung – Leitlinien und Empfehlungen 2.0“, wo es in Leitlinie 7 (Datenauswertung) heißt:
„Die Auswertung von Daten für die Gesundheitsberichterstattung soll zeitnah unter Verwendung wissenschaftsbasierter Methoden erfolgen. Die den Ergebnissen zugrunde liegenden Rohdaten sind in vollständig reproduzierbarer Form gemäß den Informationsfreiheitsgesetzen aufzubewahren. In diesem Zusammenhang gelten die Leitlinien und Empfehlungen zur Sicherung von Guter Epidemiologischer Praxis und Guter Praxis Sekundärdatenanalyse. Insbesondere gilt dies für die Dokumentationspflicht von Berechnungen komplexer Kennzahlen und Indizes. (…) Empfehlung 7.2: Die Replizierbarkeit der Analysen und Ergebnisse soll gewährleistet werden.“
Dass RKI sollte sich an seinem eigenen Anspruch messen lassen. Im Interesse der Bürger dieses Landes ist zu hoffen, dass ein Gericht rasch und unmissverständlich klarstellt, dass solche grundlegenden Informationen der Öffentlichkeit zugänglich sein müssen.
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