Neujahrsfeuerwerk über der Athener Akropolis, 1. Januar 2024 | Bild: picture alliance / ANE / Eurokinissi | Michalis Karagiannis

Ein Manifest für Demokratie

Rainer Mausfeld streitet in seinem neuen Buch leidenschaftlich für die Herrschaft des Volkes. Sein Blick von außen, jenseits der Tagespolitik, weitet den Blick und legt so die Entgrenzung von Macht in den vorgeblichen Demokratien des Westens frei.

HELGE BUTTKEREIT, 29. Januar 2024, 9 Kommentare, PDF

Die Geschichte der vergangenen 5000 Jahre ist eine Geschichte des Kampfes der Eliten um immer mehr Macht. Gleichzeitig ist sie auch eine von vielen Versuchen, diese Eliten einzuhegen. Mit diesen knappen Worten kann man vielleicht die Ausgangsthese des Buches von Rainer Mausfeld zusammenfassen. Dass die Formulierung entfernt an den berühmten Satz aus dem kommunistischen Manifest erinnert, wonach alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen sei, ist dabei Absicht und weist auf den Standpunkt der Kritik hin. Mausfeld hat sein umfangreiches Buch, das als Manifest für Demokratie gelesen werden kann, aus dezidiert linker Perspektive geschrieben. Kapitalismus und Demokratie, das geht nicht zusammen, stellt er fest und spricht vom wohl größten Wortbetrug der Geschichte.

Die Eliten hätten sich den Begriff der Demokratie genommen, das Adjektiv „repräsentativ“ davor gestellt und verhindern nun mit der Okkupation des Begriffs mindestens seit der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wirkliche Demokratie. Anstatt Volksherrschaft gibt es deren Simulation, anstatt Beteiligung an der Macht wählt das Volk Repräsentanten aus einer Auswahl der Elite, die dann schalten und walten, die das Volk beherrschen können, wie sie wollen. Das, was heute Demokratie genannt wird, ist für Mausfeld eine „akklamationsbasierte kapitalistische Elitenherrschaft“ (S. 309). Seine Ausgangsthese lautet wie folgt:

„Macht und Reichtum teilen die eigentümliche Besonderheit, dass sie im Menschen ein unersättliches Mehrhabenwollen auszulösen scheinen. Macht drängt nach mehr Macht, Reichtum nach mehr Reichtum. Zu den durch die Jahrhunderte und Jahrtausende immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Erfahrungen gehört es, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist, wenn es einer kleinen Gruppe von Menschen gelingt, großen Reichtum auf Kosten der Gemeinschaft anzuhäufen und auf diese Weise Macht über den Rest der Gemeinschaft auszuüben.“ (S. 10)

Das Mehrhabenwollen ist für Mausfeld eine anthropologische Konstante. Macht erzeuge im Menschen die Gier nach mehr Macht und sie versucht, Grenzen zu sprengen. Machtgier kann nur auf Kosten anderer befriedigt werden. In der Geschichte gab es dabei unzählige Anläufe, das Mehrhabenwollen der Machteliten zu begrenzen. Dabei ist die attische Demokratie im Athen der Antike für Mausfeld der Prototyp gelingender Volksherrschaft als Alternative zur stetigen Machtausdehnung der Eliten.

Der emeritierte Professor für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung hat dabei nach seinem Bestseller „Warum schweigen die Lämmer“ (2018) ein weiteres gewichtiges Werk vorgelegt, das einen großen Bogen schlägt, die historische Genese der Elitenherrschaft darlegt und sein Erkenntnisinteresse aus dem Hier und Jetzt zieht. In seinem Buch löst er sich von den tagesaktuellen Auseinandersetzungen und nimmt eine Vogelperspektive ein. Diese ermöglicht ihm einen unverstellten Blick auf die Probleme hinter den aktuellen Kämpfen, weil er sich gar nicht erst aus dem Morast der verschobenen Diskurse herausarbeiten muss.

Sein Ziel ist es, seinen Lesern die Bedeutung, die Möglichkeit und letztlich unbedingte Notwendigkeit von echter Demokratie vor Augen zu führen. Gleichzeitig stellt er die Verlogenheit derer heraus, die heute meinen für Demokratie zu kämpfen und doch nur die herrschenden Verhältnisse und damit die Herrschaft der Machteliten in Wirtschaft und Gesellschaft festigen wollen. Mausfelds Buch ist vor allem eine Wiederaneignung des Begriffes der Demokratie, den er der neoliberalen Mitte entreißen will, die für ihn eine Extremform antidemokratischer Positionen darstellt.

Mausfeld folgt bei der Analyse der gegenwärtigen Situation dem verstorbenen US-amerikanischen Soziologen Sheldon Wolin, der Anfang des Jahrtausends den Begriff des „umgekehrten Totalitarismus“ geprägt hat. Eines Totalitarismus, der statt gewaltsamer Repression auf Indoktrination und Meinungskontrolle setzt, so dass die Beherrschten letztlich nicht verstehen, dass sie beherrscht werden. Bestenfalls denken sie sogar, sie hätten ein (demokratisches) Mitspracherecht. Für Wolin wie für Mausfeld spielen die Medien und ihr Konformitätsdruck dabei eine ganz besondere Rolle. Ein konkretes Beispiel:

„In der Corona-Krise haben totalisierende Entwicklungen einen mächtigen Schub erfahren. Dies gilt, wie es für totalisierende Entwicklungen charakteristisch ist, vor allem für die Apparate der Exekutive. Das Bundesverfassungsgericht, das seit 2020 von einem langjährigen Konzernlobbyisten geleitet wird, hat mit seinem Urteil zur Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen der Politik zukünftig freie Hand gegeben, allein durch das Deklarieren einer großen Bedrohung nach eigenem Ermessen fundamentale Grundrechte einschränken oder außer Kraft setzen zu können. Damit werden massiv totalisierende Maßnahmen verfassungsrechtlich legitimiert und institutionalisiert.“ (S. 446)

Neben den totalisierenden Tendenzen stellt Mausfeld den moralischen Nihilismus des Mainstreams heraus, ein Begriff der noch besser passt als der der Doppelmoral.

„Indem bei einer Bewertung eigener Taten andere moralische Kriterien zugrunde gelegt werden als bei einer Bewertung der Taten derjenigen, die als Feinde betrachtet werden, werden natürliche moralische Sensivitäten manipulativ missbraucht, um die Zustimmung der Bevölkerung für globale Raubzüge parasitärer Eliten zu gewinnen. (S. 311)

Ja, Mausfeld ist wütend und wird deutlich. Er ist ein leidenschaftlicher Streiter für die Demokratie und gegen die Elitenherrschaft, wobei er immer bei der Sache bleibt. Seine Vorträge sind fesselnd und auf den Punkt, im Buch hingegen formuliert er bedächtig und wiederholt seine Erkenntnisse immer wieder. Sie setzen sich so beim Leser sehr gut fest – gleichzeitig wirkt das Buch dabei immer mal wieder langatmig.

Die Kraft der Demokratie

Was aber nun versteht Rainer Mausfeld unter Demokratie? Er nähert sich ihr zum einen auf Basis der antiken Erfahrung und zum anderen mit Bezug auf zeitgenössische Arbeiten. Beide Linien verzahnen sich miteinander. Die „Erfindung der Leitidee der egalitären Demokratie als einer robusten Elitenkontrolle durch die gesellschaftliche Basis“ (S. 40) stellt für ihn den Höhepunkt des Versuches der Menschen dar, Schutzinstrumente gegen die Exzesse von Macht zu entwickeln. In der attischen Demokratie sei es gelungen, die Macht radikal durch die Basis zu kontrollieren. An dieser Stelle können nicht die umfangreichen historischen Darlegungen und Einordnungen wiederholt werden, mit der Mausfeld die Etablierung der Demokratie beschreibt und einordnet. Stattdessen soll auf Basis seiner Darstellung eine kurze Beschreibung dessen versucht werden, was im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Athen entstand und bis heute nachwirkt.

Ausgangspunkt der Demokratisierung des antiken Athens war die Organisation der Bürger in sogenannte „Demen“ vor Ort, die die lokalen Entscheidungen zu fällen hatten. Von denen ausgehend bildeten sie weitere Ebenen der Organisation bis hin zur Volksversammlung und dem Rat der 500, der diese vorbereitete. Die Bürger konnten sich vor Ort beteiligen, in den Rat gelost werden und bei der Volksversammlung mitreden und mitstimmen. Zunächst konnte der Adel parallel zu diesen Strukturen seine Sonderstellung erhalten. Erst als nach weiteren Reformen (und anhaltender Korruption sowie Machtmissbrauch) die Privilegien des Adels durch eine Verfassungsreform abgeschafft und die Volksversammlung sowie der Rat der 500 quasi alle Aufgaben übernahmen, war der Punkt erreicht, an dem sich das Volk „auf Basis der politischen Gleichheit aller Bürger selbst regiert“ – erstmals in der Zivlisationsgeschichte, stellt Mausfeld fest (S. 193). Nur wenn die Adressaten der Gesetze auch die Gesetzesgeber sind, könne von einer Demokratie gesprochen werden. Dies war in Athen in der Mitte des fünften Jahrhunderts vor Christus erreicht.

Noël Coypel, „Solon verteidigt seine Gesetze gegen die Einwände der Athener“, 1673, Musee du Louvre

Die Demokratie blieb dabei nicht nur Fassade, die Bürger übten ihre Rechte aktiv aus und wurden durch Tagegelder und Diäten finanziell abgesichert, so dass nicht nur die Wohlhabenden sich die Beteiligung an den Versammlungen „leisten“ konnten. Die kollektive Entscheidungsfindung war für die Demokratie essentiell und zur Vermeidung, dass sich Einzelinteressen bei personellen Entscheidungen durchsetzen, wurde gelost. Für die Griechen war das Los das Kennzeichen für Demokratie, während die Wahl als oligarchisch angesehen wurde.

„Kein Verfahren repräsentierte also die Idee einer politischen Gleichheit so sehr wie das Los. Es ermöglichte erst eine solche Gleichheit, weil es für überkommene Auswahlkriterien wie Abstammung, Vermögen oder sozialen Status gleichsam blind ist und zudem Bestechung und Protektion entgegenwirkt.“ (S. 196)

So große Bedeutung die Demokratie der Athener hat, zeitlich existierte sie als Volksherrschaft nur wenige Jahrzehnte oder, mit einigen Einschränkungen, etwa 130 Jahre. Letztlich konnte sie dem Druck von außen wie von innen nicht standhalten. Das Beispiel der Athener wirkt gleichwohl fort. Ihr Versuch, eine politische Ordnung auf der Basis der Gleichheit und der Partizipation der Bürger aufzubauen, ist als weltgeschichtliche Premiere der Volksherrschaft in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzen. Dass dafür ein weitgehender Konsens über die Normen und Werte notwendig war und die institutionelle Struktur nur in einem kleinen Maßstab denkbar ist, wenn alle Bürger beteiligt werden sollen, sind Aspekte, die laut Mausfeld eine einfache Adaption der antiken Demokratie für heutige Zeiten schwierig machen. Gleichwohl ist die Leitidee einer politischen Gleichheit aller Bürger bis heute Ideal der Demokratie.

Mausfeld arbeitet in seinem Buch auf Basis des antiken Beispiels und unter Rückgriff auf Denker der Aufklärung sowie vor allem mit Bezug auf die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus eine Definition von Demokratie aus, deren Kernelement das Konzept der Volkssouveränität ist:

„Die Idee der Volkssouveränität zielt durch eine Gesetzgebung, in der die Gesetzesadressaten zugleich die Gesetzgebenden sind, auf eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft – und damit in gewisser Weise auf eine grundsätzliche Aufhebung von Herrschaft.“ (S. 227)

Ausgangspunkt für die Volkssouveränität sind ein naturrechtlich begründetes Recht auf Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung, das sich jedoch erst durch den demokratischen Gesetzgebungsprozess konkretisieren und kodifizieren muss. Nur der demokratische Souverän kann nach dieser Auffassung darüber entscheiden, wie die Freiheits- und Menschenrechte konkret zu füllen sind. Das Volk ist dabei souverän als Legislative, nicht aber als Exekutive und Judikative. Allerdings sind diese beiden direkt an den Willen des Volkes gebunden.

„Die Verfassung bindet also zum Schutz individueller vorstaatlicher Freiheitsrechte den Staat, jedoch nicht das Volk zum Schutz des Staates. Jenseits des vom Volk gesetzten Rechts kann die Staatsgewalt kein ‚höheres Recht‘ und keine ‚höheren‘ Gerechtigkeits- und Rationalitätsnormen gegen den demokratischen Souverän geltend machen. Dieser ist jenseits der Rechtsnormen, die er selber verantwortet, an nichts gebunden.“ (S. 230)

Anders ausgedrückt: Das Volk kann jederzeit die Verfassung ändern, ja den Staat in einer Revolution umwälzen. Der Staat hingegen darf nur das tun, was durch demokratisch vom Volk gesetztes Recht erlaubt ist, die Staatsapparate können aus sich selbst heraus kein Recht schaffen, auch nicht zum Schutz der bestehenden Ordnung oder um die Staatsorgane funktionsfähig zu halten.

Spätestens an dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass das Konzept der Verfassungssouveränität nach Ingeborg Maus der heutigen Verfassungswirklichkeit diametral entgegen steht, ändern doch heute höchste Gerichte quasi täglich durch exzessive Interpretation die Verfassung während das Volk mahnend auf diese verpflichtet wird, dabei ist diese unberechenbar geworden, schreibt Maus, das Volk ist „realiter von den bloß Ermächtigten übermächtigt“ (S. 231) worden. Mausfeld selbst weist darauf hin, dass

„gegenwärtige Modelle repräsentativer Demokratie der Idee einer ungeteilten Volkssouveränität überwiegend ablehnend gegenüber [stehen]. Sie sind von der Sorge um die Willkür demokratischer Mehrheiten geprägt und sehen die Gefahren einer destruktiven Entgrenzung von Macht weniger auf Seiten politischer und ökonomischer Machteliten.“ (S. 234)

Die repräsentative Demokratie ist demnach eine Abwehr der Volksherrschaft, die gleichwohl zum Mittel der Revolutionsprophylaxe simuliert wird, was Mausfeld ausführlich im längsten Kapitel des Buches darlegt. Hierzu gleich mehr. Wer dann nach der fundierten theoretischen Kritik konkrete Vorschläge einer alternativen Organisation der Gesellschaft auf Basis der Volkssouveränität erwartet, der wird von Mausfeld enttäuscht. Es ist allerdings gerade die Stärke des Buches, eben nicht in die tagespolitischen Kämpfe einzusteigen, sondern die Wirklichkeit von außen zu betrachten.

Die repräsentative Demokratie als Abwehr der Volksherrschaft

Folgen wir Rainer Mausfeld, erleben wir heute eine „Demokratie ohne Demokratie“, in der die Herrschaftseliten, die Wohlhabenden keine Sorge um ihre Macht und ihr Eigentum haben müssen. Ihr Status ist durch demokratische Prozesse nicht gefährdet. Dies lässt sich über die vergangenen etwa 250 Jahre seit der amerikanischen Revolution verfolgen, denn in deren Zuge entstand die Idee der repräsentativen Demokratie. Dabei geht es bei der Repräsentation nicht darum, eine angemessene Teilhabe aller Schichten zu gewährleisten, sondern das Volk kann zwischen vorgegebenen Elitengruppen auswählen, die das Gemeinwohl durch den Schutz des Eigentums fördern sollen. Nach Vorstellung der Verfassungsväter in den USA wird dadurch das irrationale Volk vor sich selbst geschützt – bis heute.

Mausfeld arbeitet heraus, dass es in den USA um den Schutz des Privateigentums und letztlich des Kapitalismus ging und geht. Der wiederum sei ein extrem autoritäres System und seinem Wesen nach mit Demokratie unvereinbar. Warum? Kapitalismus bedeutet die Herrschaft des Kapitals, die „nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass sie über den Bereich des Wirtschaftslebens hinaus die gesamte Gesellschaft zu durchdringen und den gesamten gesellschaftlichen Reichtum als Ware zu behandeln sucht“ (S. 274). Während nun der zivilisatorischen Leitidee der Demokratie (nicht ihrer Pervertierung in der gegenwärtigen Praxis) ein egalitäres politischen Grundprinzip der Anerkennung aller als Freie und Gleiche zugrunde liegt, basiert der Kapitalismus wesentlich auf dem Recht des Stärkeren. Das Eigentum (und dessen im Kapitalismus notwendigerweise ungleiche Verteilung) ist Basis der Machtverhältnisse. Den kapitalistischen Eliten sei es dabei gelungen, durch eine umfassende Bewusstseinskontrolle unter Indienstnahme der Psychologie, den Sozialwissenschaften, der Kommunikationswissenschaft und in deren Folge insbesondere auch der Medien dem Volk zu suggerieren, Anteil an dieser Scheindemokratie zu haben.

„Heute ist von der egalitären zivilisatorischen Leitidee der Demokratie kaum mehr geblieben als der verführerische Klang des Wortes. Der Demokratiediskurs, in dessen Zentrum ursprünglich die gesellschaftliche Notwendigkeit einer rigorosen Kontrolle ökonomischer und politischer Eliten durch die gesellschaftliche Basis stand, wurde von ebendiesen Eliten usurpiert und, unter Beibehaltung demokratischer Rhetorik, derartig verfälscht, dass er sich nun für eine besonders wirksame Entgrenzung von Macht politisch nutzen lässt.“ (S. 352f.)

Die extreme gesellschaftliche Ungleichheit, die soziale Spaltung und Fragmentierung der Gesellschaft, die Vorstellung des Neoliberalismus, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, habe die sozialen Identitäten und das Gefüge der Gesellschaft zerstört. Gleichzeitig werde einer Ideologie der Alternativlosigkeit das Wort geredet, was zusammengenommen den politischen Raum entleert. Für Mausfeld ist dies ein ideales Umfeld, in dem nationalextremistische, rassistische und fundamentalistische Bewegungen wachsen können – die zudem, wieder ein Beispiel moralischen Nihilismus, in anderen Staaten gefördert werden, wenn dies den „kapitalistischen Demokratien“ nützt. Mausfeld sieht die Gesellschaft dabei im Übergang zu autoritären Herrschaftsformen, denn die Entgrenzung von Macht hat nach seinen Worten ein noch nie zuvor gekanntes Ausmaß erreicht, wobei die Entwicklung von immer neuen Instrumenten der Überwachungs- und Repressionstechniken eine wichtige Rolle spielt. Dabei steigere jede Verbesserung von Instrumenten der Machtausübung die Macht- und Besitzgier der herrschenden Eliten.

„Einer der bedrückendsten Aspekte dieser Entwicklung ist, dass das ideologische Gewölbe mittlerweile so dicht verfugt ist, dass den Bürgern kapitalistischer Demokratien diese Prozesse einer Entzivilisierung praktisch nicht zu Bewusstsein kommen und sie mehrheitlich vielmehr überzeugt sind, trotz aller zerstörerischen Entwicklungen in der ‚besten aller möglichen Welten‘ zu leben. Eine solche Veränderung und Verformung des kollektiven Bewusstseins schränkt die Möglichkeiten zu einem gesellschaftlichen Lernen und zu einer kreativen solidarischen Entwicklung geeigneter Schutzinstrumente gegen eine Entzivilisierung von Macht extrem ein.“ (S. 382f.)

Auswege aus dem zivilisatorischen Abstieg

Mausfeld ist Realist. Er schätzt die Chancen, der Entzivilisierung entgegen zu treten und eine demokratische Revolution zu entfachen, als nicht besonders groß ein. Zum Abschluss des Buches verweist er allerdings auch auf die Zivilisationsgeschichte, in der es immer von der Hoffnung getriebene emanzipatorische Bewegungen gab. Die Hoffnung setze den existenziellen Bedrohungen ein Trotzdem entgegen.

„Hoffnung ist eine Grunddimension menschlichen Lebens und Erlebens. Sie drückt ein Urvertrauen aus, dass die Welt für uns bewältigbar bleibt, dass wir nicht durch Dinge, die wir weder verstehen noch emotional handhaben können, überwältigt werden. Sie ist Ausdruck in ein Vertrauen in die Welt, ein Vertrauen in die soziale Welt und in die sozialen Bezüge. Und ein Vertrauen in die gesamte Lebenswelt. Sie ist ein Vertrauen in Kontinuitäten. Ohne ein Vertrauen in Kontinuitäten würde die Welt zerfallen, sie würde als psychotisch erlebt.“ (S. 473)

Die wiederkehrende Existenz emanzipatorischer Bewegungen in der Zivilisationsgeschichte stimmt Mausfeld trotz allem hoffnungsvoll. Es hat einen Grund, dass sich Mausfeld die vergangenen 5000 Jahre vorgenommen hat. Die Geschichte legt in der Tat Zeugnis davon ab, dass es immer wieder erfolgreiche wie auch gescheiterte Versuche gab, der Macht entgegen zu treten. Deswegen verwundert es bei der Lektüre, dass Mausfeld außer dem ausführlichen Beispiel der attischen Demokratie wenig auf weitere Kämpfe in der Vergangenheit eingeht. Wobei man übrigens seine Darstellung durch solche der antiken Klassenkampfgeschichte mindestens ergänzen müsste, wie sie zum Beispiel Arthur Rosenberg bereits 1921 in seinem Werk „Demokratie und Klassenkampf im Altertum“ dargelegt hat.

Das Fehlen der (Klassen-)Kampfgeschichte bei Mausfeld mag auch damit zu erklären sein, dass die emanzipatorische Tradition in Deutschland mit dem Sieg des Nazifaschismus einen vernichtenden Schlag erhalten hat, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Die Kämpfe der Arbeiterbewegung aber auch die Revolutionen des 19. Jahrhunderts oder die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts könnten allerdings weitere wichtige Hinweise darauf geben, wie der Entgrenzung von Macht organisiert entgegen getreten werden kann – und welche Fehler es zu vermeiden gilt. Das gleiche gilt für die Versuche nach 1945, an emanzipatorische Traditionen anzuknüpfen. Es gab durchaus Organisationsversuche, die für heutige Bewegungen wichtige Bezugspunkte sein könnten.

Mausfeld bleibt bei diesen Fragen wie auch bei seiner Demokratiekonzeption abstrakt. Geht er doch von der abstrakten Gleichheit aller Staatsbürger aus, deren konkreten Person und Interessen wie deren historischen und kulturellen Traditionen keine Rolle spielen sollen. Auch an dieser Stelle könnte man kritisch nachfragen, zum Beispiel, warum denn sowohl die Vorstellung von Demokratie und Volksherrschaft als auch deren totalitäre Umkehrung im „Westen“ entstanden sind? Auch fehlen Überlegungen dazu, wie sich das Volk selbst ermächtigen kann, um wirklich Herrschaft auszuüben und nicht wieder den Eliten auf den Leim zu gehen. Auch hierfür sind konkrete Kämpfe nötig, in denen die Beteiligten merken, welche Macht sie entfalten können. Diese sind dann auch ein Mittel gegen die Angst vor der Freiheit, die die Beherrschten immer wieder vor dem Widerstand zurückschrecken lässt und die von den Mächtigen weiter geschürt werden. Mausfeld würde vermutlich entgegnen, dass dies nicht seine Aufgabe ist und vor falschen Propheten und Rattenfängern warnen. Auch die gab es in der Widerstandsgeschichte schließlich zuhauf.

Apropos Widerstand. Zu diesem Thema gibt Mausfelds Buch noch einen wichtigen Hinweis an Bewegungen in der Gegenwart, die sich gerne auf das Widerstandsrecht im Grundgesetz berufen. Dieses Widerstandsrecht aber bezieht sich auf die Verfassung als statisches Monument. Dieser Vorstellung liegt statt der Volkssouveränität die Vorstellung einer Verfassungssouveränität zugrunde. Wer sich darauf beruft, beraubt sich laut Mausfeld der wichtigsten Leitidee – also der Demokratie – und wirft alle Prinzipien demokratischer Legitimation politischen Handelns über Bord. Anders gesagt: Die Volkssouveränität steht vor und über der Verfassung und der Rechtsordnung. Dass sich basisdemokratische Bewegungen auf ein Widerstandsrecht berufen, macht in Mausfelds Augen deutlich, wie tiefgreifend die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie im öffentlichen Bewusstsein ausgelöscht worden ist. Es wäre also eine der mannigfaltigen Aufgaben einer echten Demokratiebewegung, die ursprüngliche Bedeutung der Demokratie wieder ins Bewusstsein zu rufen und dabei nicht in Halbheiten beziehungsweise in Positionen stecken zu bleiben, die dem eigenen Ziel konträr gegenüber stehen.

Rainer Mausfeld, Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren, Westend Verlag 2023, 510 Seiten, 36 Euro

Über den Autor: Helge Buttkereit, Jahrgang 1976, hat sein Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik mit einer Arbeit zu „Zensur und Öffentlichkeit in Leipzig 1806-1813“ abgeschlossen. Nach journalistischen Tätigkeiten bei verschiedenen Medien und Buchveröffentlichungen über die Neue Linke in Lateinamerika arbeitet er aktuell in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

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DIETER R., 31. Januar 2024, 13:50 UHR

Man kann auf Multipolar nun wirklich jeden Artikel mit Gewinn lesen ... :-)
Aber zum konkreten Thema:

"Mausfeld ist Realist. Er schätzt die Chancen, der Entzivilisierung entgegenzutreten (...) als nicht besonders hoch ein."

Wie jetzt, ist nicht gerade die Erkenntnis eines mißlichen Zustandes und derer Zusammenhänge Impuls zur Änderung? Und würde nicht solch eine negative Einschätzung das Handeln zur Änderung der derzeitigen suboptimalen Zustände lähmen? So nach dem Motto, das ist alles zu komplex und überhaupt wird ein schlechtes System nur durch ein noch schlechteres oder ähnlich schlechtes ersetzt ...? Das ist mir ja nun wirklich zu negativ. Dann kann man ja gleich verzweifeln ...

MATTHIAS BARON, 1. Februar 2024, 12:55 UHR

Diese schöne Beschreibung des Staates als Beute der Parteien lässt Fragen offen. Wie konstituieren sich besagte Eliten? Stromlinienförmige AufsteigerInnen sind kaum noch zu übersehen. 70 fette Jahre haben offenbar den Blick auf die Realität verkleistert. Lange Zeit hatten nur Wenige was gegen die 'repräsentative Demokratie ' zu sagen. Unter den positiv konnotierten Kanzlern Brandt und Schmidt erreichte die Umweltvergiftung ihren Höhepunkt. Warum gibt es weltweit kaum Beispiele für 'echte' Demokratien ? Sind Staaten mit zig Millionen Bürgern wirklich schlau? Wo will Mensch hin? Wohl kaum hierher.

SIGRID PETERSEN, 4. Februar 2024, 14:05 UHR

Eine schöne „Buchbesprechung“, wenn man das so nennt. Ich persönlich bin allerdings etwas positiver hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Wiederinbesitznahme der Macht durch das Volk oder besser durch die Völker. Ist es nicht so, dass welt- und zeitgeschichtlich jede Machtausübung herrschender Gewalt, ob Kaiser, König oder sonst welche Regierungsformen, die die Völker in die Armut und Sklaverei geführt haben zu Aufständen, Revolutionen oder Umstürzen geführt haben?

Ja, ich denke, man kann es so sagen, der Nationalsozialismus mit allen seinen Implikationen hat den Deutschen das Selbstbewusstsein ausgehaucht und deswegen wird hier mehr erduldet, der Stolz fehlt.

Mit der berechtigten Verabscheuung dieses Teils der deutschen Geschichte geht leider eine zumeist unterschwellige (unbewusste?) Negation des Rechtes auf Freiheit und Selbstbestimmung einher. Sowohl des persönlichen als auch der Gemeinschaft. Dieses Recht existiert nur als Fassade, ist nicht verinnerlicht und nicht begriffen. Und damit sind wir bei der Erkenntnis Mausfelds, dass anstelle sich auf die Volkssouveränität zu berufen, sich auf die Verfassungssouveränität berufen wird.

CARLO LF, 5. Februar 2024, 19:00 UHR

Also ich kann mit der intellektualistischen Art und Herangehensweise dieses Buches wenig anfangen. Zugegeben: ich habe es selber nicht gelesen. Aber einige Besprechungen wie diese hier. Mir scheint, in dem Buch werden stark interpretierte Ideengeschichte(n) und gesellschaftliche Wirklichkeiten gegeneinander ausgespielt, wobei dann die hehren Ideen prächtig dastehen, die tatsächlichen Abläufe der Geschichte aber als unendlicher Verrat, als verfälschende Mißdeutung dieser vorgeblichen Ursprünglichkeit durch "die Eliten" erzählt werden.

Wieso Mausfeld dann gar auf 5000 Jahre Geschichte zurückblicken will, ist mir nicht klar geworden. Wenn man aber mit Athen zu erzählen und zu verklären beginnt, und dabei aber an der Wirklichkeit der Athener Sklaven- und Unfreiengesellschaft vorbei deren "Demokratie"-Begriff feiert, kann ich kaum nachvollziehen. "Demokratie der Freien" - der Besitzenden müsste das wohl genauer heißen. Dass einer mehr als 150 Jahre nach Marx Formulierungen wie "Entzivilisierung von Macht" oder "Entgrenzung von Macht" beschwört, weil der "Begriff (!) der Demokratie" seiner "ursprünglichen Bedeutung beraubt" worden sei - nun ja, das ist halt eine ideengeschichtliche Sicht.

Gut - wie dann aber echte "Demokratie" in einer Massengesellschaft wie der heutigen gehen soll, als jenseits des kleinstädtischen Athens mit seiner überschaubaren Agora, darüber habe ich wenig gelesen. Es bleibt halt der idealisierende Begriff?

STEFAN KRÖGER, 5. Februar 2024, 22:05 UHR

Ich schließe mich meinem Vorredner an. Der Artikel ist gut, aber ich denke, die Sklaven und wahrscheinlich auch die Frauen haben nicht mitentscheiden können. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege. Also doch nur eine Oligarchodemokratie?

DIRK MEINHARDT, 6. Februar 2024, 15:10 UHR

Hallo Stefan Kröger. Sie haben recht, eine bestimmte Gruppe aufgrund ihrer sozialen Stellung von der demokratischen Entscheidungsfindung auszuschließen, klingt nicht gerade demokratisch. Aber darum geht es nicht bei der Leitidee der Demokratie. Es geht darum, wie innerhalb einer Gruppe eine Entscheidungsfindung zustande kommt, nämlich unabhängig der Machtmöglichkeiten eines Einzelnen oder einer Untergruppe. Alle Mitglieder haben den gleichen Einfluss, sie sind egalitär an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Bei einer Oligarchie oder im Kapitalismus entscheidet der Besitz von Kapital über die mögliche politische Einflussnahme.

Der wesentliche Unterschied ist, dass die Gruppe, die demokratische Entscheidungsfindungen praktiziert, keine Gefahr läuft, von innen durch soziale Ungleichheiten zu zerfallen und die Gruppe mit der z.B. kapitalabhängiger Entscheidungsfindung dieser Gefahr bis zum Zerfall dieser Gruppe ausgesetzt ist.
Rainer Mausfeld untersucht die Entwicklungen von Gesellschaften, in denen sich parasitäre Macht im Bestreben nach Stabilisierung gegen die Macht der Benachteiligten stellt. Er zeigt Mechanismen auf, wie man das Aufkommen von parasitärer Macht verhindern kann und er stellt fest, dass die parasitäre Macht, wenn sie denn nicht verhindert wurde, immer eine Gegenmacht erzeugt hat. Beide Kräfte, je nach Ausprägung, haben in Wechselwirkung eine Gesellschaft mal länger oder kürzer überleben lassen (im Volksmund, „Der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht“).

Die zentrale Botschaft des Buches ist: Heute hat sich die parasitäre Macht so perfekt stabilisiert, dass es keine Gegenmacht mehr gibt und somit die parasitäre Macht solange ausufern (entgrenzen) wird, bis wir im zivilisatorischen Abgrund enden. Diese Schlussfolgerung zieht er aus den kognitiven Dispositionen des Menschen, also die psychische vorhandene Grundausstattung, des immer Mehrhabenwollens (Volksmund: die Gier kennt keine Grenzen)

Sein Aufruf ist: Wir müssen unsere Befähigung zurückerlangen, die reale Gesellschaft zu erkennen. Dann kann sich auch wieder eine Gegenmacht entwickeln und die Menschheit vorm Abgrund bewahren. Oder besser, gleich eine Gesellschaftsordnung entwickeln, die das Aufkommen destruktiver Macht wirksam verhindert.

STEFAN KRÖGER, 6. Februar 2024, 23:10 UHR

Ich möchte ein anderes historisches Demokratiekonzept in die Runde werfen: das System der Irokesen. Es ist schon einige Zeit her, dass ich darüber las, doch schien es mir für kleinere Gesellschaften sehr gerecht und trotzdem noch praktikabel. Aber auch diese Form der Demokratie wird sich nicht mit Kapitalismus vereinigen lassen. So scheint gerade die "Demokratie" der USA eine Monstrosität, in der man (stark vereinfacht) alle paar Jahre gezwungen wird, eine Wahl zwischen zwei Übeln zu treffen oder seine Stimme zu verschenken. Daher etwas schade, dass die Gesellschaftsordnung der Irokesen teilweise als Vorbild für die US-Verfassung dargestellt wird. Ich verweise für den Interessierten auf das Buch von Bastian Barucker (https://bastian-barucker.de/), der sich wiederum auf Thomas Wagner bezieht (https://www.perlentaucher.de/buch/thomas-wagner/irokesen-und-demokratie.html)

DIRK MEINHARDT, 6. Februar 2024, 17:40 UHR

Hallo Helge Buttkereit, eine sehr gute Zusammenfassung des Buches. Ich möchte ein paar wenige Dinge aus meiner Sicht anders darstellen.

Die Grundthese im Buch geht deutlich weiter zurück, nämlich auf die kognitiven Dispositionen in uns allen, die Individuen in Gesellschaften mit Arbeitsteilung dazu treiben, sich parasitär Vorteile zu verschaffen, indem Sie anderen ihren Willen aufzwingen, also Macht ausüben. Gleichsam haben wir aber auch alle die kognitiven Dispositionen, die Wirkmechanismen zur Bildung einer Macht der Benachteiligten gegen das parasitäre Verhalten Einzelner oder Gruppen zu bilden. Gelingt es einer Gesellschaft nicht das Aufkommen von parasitärer Macht zu unterbinden oder einzuhegen, entwickeln sich destruktive Kräfte, die den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft zerstören und letztlich zum Untergang der Gesellschaft führen.

Rainer Mausfeld befürchtet/mahnt, dass wir heute an einem Punkt angekommen sind, an dem die parasitär verhaltenen selbsternannten Eliten ihre Machtstabilisierung so perfektioniert haben, dass die Gegenmacht der Benachteiligten neutralisiert ist und die Gefahr besteht, dass es so bleibt. Im Ergebnis der damit einhergehenden ungebremsten Machtentgrenzung sieht Rainer Mausfeld den zivilisatorischen Abgrund.

Es ist nicht so, dass Reiner Mausfeld keine Lösungen vorschlägt. Er erklärt im Detail die grundlegenden Prinzipien einer Demokratie, die auch in Ihrer Zusammenfassung oben Berücksichtigung finden. In Bezug auf den Zustand der heutigen Gesellschaft und insbesondere dem Bewusstseinszustand des Demos, legt er sehr konkret den Startpunkt zur Entwicklung einer Demokratie fest, der da wäre: Wir müssen die Werkzeuge unseres Geistes wieder herstellen um die Befähigung wiederzuerlangen den realen Zustand unserer Gesellschaft erkennen zu können. Alles was danach kommt, kann nicht vorgegeben werden, weil es ein demokratisch-empirischer Prozess sein sollte. Kein Wissenschaftler oder Experte oder sonst wer kann uns das abnehmen, weil es dann schon nicht mehr demokratisch ist.

Insofern ist Ihre Kritik an der Nichtberücksichtigung der historischen Klassenfrage obsolet, weil die politischen Überzeugungen aus dem Klassenkampf dem demokratisch-empirischen Prozess die Ergebnisse vorwegnehmen bzw. vorgeben und somit das Potential einer Diktatur haben.

Kleiner Exkurs: Ich denke, das war auch der grundlegende Fehler in den sozialistischen Gesellschaften des Ostblockes. Man hat die Entgrenzung der Wirtschafts(Kapital)macht mittels Entgrenzung der politischen und militärischen Macht wasserdicht verhindert. Vielleicht hatten die Machthaber des Ostblockes auch so eine Art, um mit den Worten von Rainer Mausfeld zu sprechen, „parasitäres Mehrhabenwollen“ im Sinn, jedoch nicht von Besitz, sondern von der Deutungshoheit der Wahrheit und Moral (selbst wenn man unterstellt, dass es in humanitärer Absicht zum Wohle des Volkes war, bleibt dieses Handeln parasitär im geistigen Sinne). Dass diese Form der gesellschaftlichen Organisation nicht halten konnte, war im Sinne der Grundthese dieses Buches quasi ein Selbstläufer. Aber die Chancen für den oben beschrieben Startpunkt im Sozialismus des Ostblockes waren deutlich besser als heute in den westlichen Demokratien.

Heute dem Kapital unblutig die Grundlagen seiner für die Gesellschaft destruktiven Macht zu entziehen, dürfte mehrere Generationen beanspruchen. Mein Tipp: Einfach anfangen mit: Aufklärung noch und „nöcher“, die Dinge beim Namen nennen (die Wirkkraft kann man beim Rumpelstilzchen nachlesen), keine Relativierungen zulassen und keine Grundsätze mit Sachzwängen aushebeln lassen.

HELGE BUTTKEREIT, 8. Februar 2024, 09:15 UHR

Hallo Herr Meinhardt,
danke für Ihren Kommentar und die konstruktive Kritik. Sie haben einige Punkte hervorgehoben, die ich in der Rezension nur am Rande betrachtet habe und das auch, weil meine Kritik an diesen Positionen den Rahmen der referierenden Rezension gesprengt hätte. Dies gilt natürlich auch für diese Kommentarspalte. Ich möchte es gleichwohl kurz versuchen.

Meines Erachtens ist die Betrachtung der kognitiven Dispositionen bei Mausfeld undialektisch und unhistorisch. Sie entstehen nicht im historischen Prozess, sondern sind bei ihm einfach da. Sie sind eine Projektion zurück in die Geschichte. Das kann man machen und hat durchaus einen Erkenntnisgewinn. Seine Sichtweise nimmt die Subjekte mit in die Geschichte, betrachtet die Menschen, die die Geschichte machen. Allerdings ist sie mir bei Mausfeld zu statisch, die Dispositionen im Menschen verändern sich nicht. Es kommt deshalb auch nicht von ungefähr, dass Mausfeld auf den abstrakten Staatsbürger abzielt in seiner (modellhaften und ebenfalls unhistorischen) Demokratiekonzeption.

Mausfeld lässt den historischen Prozess in großen Teilen außer acht und damit auch die konkreten Kämpfe der Eliten mit den Benachteiligten, wie Sie es ausdrücken. Ich würde dies eben Klassenkämpfe nennen. Diese wiederum beruhen auf den realen Klassenunterschieden der jeweiligen Gesellschaftsformation und gehen von den Interessen der jeweiligen Klassen und ihrer Mitglieder, von den Interessen der konkreten Menschen aus. Der Klassenkampf ist keine Ideologie, wie Sie ihn offenbar verstehen, sondern er ist objektiv da, geschieht auch ohne dass er dem Einzelnen bewusst ist. Der Klassenkampf ist dabei auch immer ein Kampf um die Köpfe (und wird deshalb immer auch ideologisch geführt).

Wenn wir, wie Sie schreiben, die Werkzeuge unseres Geistes wiedergewinnen wollen, dann können wir das nicht tun ohne die Umstände zu verstehen, in denen dieser Geist (und der konkrete, individuelle Mensch, um dessen Geist es geht) zu existieren hat. Marx schrieb: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ und „die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“. Rudi Dutschke rekapitulierte diese elfte Feuerbachthese in der Phase seiner Rekonvaleszenz nach dem Attentat 1968 wie folgt: „…, es kommt darauf an SICH zu verändern.“ Das war zwar wörtlich falsch, trifft aber den Kern: Die Veränderung der Umstände ist ohne die Selbstveränderung nicht zu denken. Und umgekehrt!

Die Machtentgrenzung, von der Mausfeld schreibt, ist Folge des (vorläufigen) Sieges des Kapitals im Klassenkampf. Damit verbunden ist auch der ideologische Etappensieg, der in die heutige Gesellschaft die Vorstellung einer Alternativlosigkeit implementiert hat. Mausfeld arbeitet heraus, wie diese entstanden ist, welche Funktionen sie hat und welche Folgen sie haben kann und nennt dies den „zivilisatorischen Abgrund“. Was ich sehr treffend finde.

Aus dieser scheinbaren Alternativlosigkeit können sich die Benachteiligten, die Lohnabhängigen nur gemeinsam, organisiert, im Bewusstsein der Ohnmacht (welches sich bereits durch die Aufnahme, das Bewusstsein des Kampfes ändert) und unter Berücksichtigung der konkreten gesellschaftlichen Umstände herausarbeiten. Aufklärung ist, da gebe ich ihnen recht, dafür sehr wichtig. Zum Staatssozialismus möchte ich nur noch einmal Rudi Dutschke zitieren: „In der DDR ist alles real, bloß nicht der Sozialismus; in der BRD ist alles real, bloß nicht ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘, bloß keine reale Demokratie.“ Auch das passt zum Thema.

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