Die Grenzen des Grenzlandes
ANDREA KOMLOSY, 25. September 2023, 23 Kommentare, PDFDer engere Grenzkonflikt zwischen der Ukraine und der Russländischen Föderation betrifft die zukünftige Gestalt der Ukraine. Für die ukrainische Führung besteht kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Staatsgrenzen von 1991. Tatsächlich ist die Annexion der Oblaste Donezk, Luhansk/Lugansk, Cherson und Saporischschja/Saporoschje durch Russland völkerrechtswidrig. Der russländische Schutzanspruch für diese Oblaste beruft sich auf den Wunsch der abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Diese sahen mit dem verfassungswidrigen Regimewechsel in Kiew am 22. Februar 2014, der anti-russischen Sprachpolitik und dem Krieg der ukrainischen Armee im Verbund mit irregulären rechtsradikalen Milizen die Grundlage für die Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat nicht mehr gegeben. (1)
Dass sich dieser Schutz, der zuerst zur staatlichen Anerkennung und schließlich zur Annexion führte, auf Gebiete erstreckt, die außerhalb der Reichweite der volksrepublikanischen Macht liegen, deute ich als Überschreitung des Schutzes. Nachträglich herbeigeführte Referenden unter Kriegsbedingungen können diese nicht legitimieren. Aus der Grenzüberschreitung bei der Annexion der volksrepublikanischen Territorien eine generelle Absicht der russländischen Armee abzuleiten, die gesamte Ukraine geschweige denn andere sowjetische Nachfolgestaaten zu erobern, entbehrt dennoch jeder Evidenz. Der Vorwurf fügt sich in die bereits von englischer Seite im Ersten Weltkrieg geprägte und seither seitens westlicher sowie von NS-Politikern beständig wiederholte Metapher von der „eisernen russischen Dampfwalze“ ein, die unerbittlich nach Westen strebe; diese russophobe Unterstellung prägt die westliche Haltung zum russländischen Staat heute wieder.
Der Grenzkonflikt im weiteren Sinn ist Teil der verflochtenen Geschichte, die Zugehörigkeit des „Grenzlandes“ (Kern des Begriffs Ukraine) zu definieren. Der historische Ursprung des Begriffs Ukraina liegt in den Überfällen tatarischer Reiterkrieger aus dem Süden und Osten. Im Rahmen der konkurrierenden polnisch-litauischen und russländischen Herrschaftsansprüche (16. bis 18. Jahrhundert) zeichneten sich unterschiedliche Regelungen der Zugehörigkeit ab.
Kosakentum als Kern ukrainischer Staatlichkeit?
Die vorübergehende Autonomie des Kosaken-Hetmanats mit dem Kerngebiet der Sitsch, das sich in der Region Saporoschje am Dnjepr befand, wird von der ukrainischen Nationalgeschichte heute als Kern ukrainischer Staatlichkeit angesehen. In eine nationalgeschichtliche Perspektive lassen sich die Bemühungen der freien Adeligen und Wehrbauern des russisch-polnischen Grenzgebiets (Kosaken) um Eigenständigkeit nicht einbauen, zu häufig wechselten über die Jahrhunderte ihre Oberherren, Allianzpartner und Spielräume. Aber auch untereinander herrschte Uneinigkeit über die Ausrichtung, sodass das Kosaken-Gebiet in eine rechtsufrige Einheit unter polnischer und eine linksufrige Einheit unter russländischer Patronanz zerfiel (mit dem Fluss Dnjepr als Orientierungslinie).
Ilja Repin: Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief | Russisches Museum, Sankt Petersburg
Der Vertrag von Perejaslaw (1654), mit dem sich die Kosaken-Führung in der Auseinandersetzung mit Polen der russländischen Oberhoheit unterstellte, kann jedoch ebenso wenig im gesamtrussländischen Sinn gedeutet werden. Er spiegelt vor allem das Bemühen der Kosaken um größere Autonomie wider, war allerdings nur von kurzer Gültigkeit. Der Vertragsschluss wurde vom Obersten Sowejt der UdSSR 300 Jahre später, 1954, zum Anlass genommen, der Ukrainischen Sowjetrepublik die Halbinsel Krim zu „schenken“, was nach der Trennung eine Reihe von rechtlichen Unklarheiten nach sich zog. Es überrascht nicht, dass der Vertrag von 1654 in der russländischen und der ukrainisch-nationalen Geschichtsschreibung sehr kontrovers ist.
Im Zuge der Zentralisierungsbemühungen des Zarenreichs im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert wandelte sich der Kosakenbegriff ohnehin vom Selbstverwaltungsanspruch autonomer Grenzer zur Eliteeinheit der zaristischen Zentralmacht in ihrer West- und Südexpansion. Eine Kontinuität vom Hetmanat zu späteren Manifestationen ukrainischer Staatlichkeit kann daraus nicht abgeleitet werden.
Die Aufteilung Polen-Litauens unter dem Zarenreich, Habsburg und Preußen Ende des 18. Jahrhunderts brachte nicht nur neue Grenzen, sondern ordnete die Teilungsgebiete auch den Herrschaftsimperativen der drei Reiche unter: die multiethnische Vielvölkerphilosophie im Habsburgerreich bot für die Herausbildung ukrainischer (hier so genannter ruthenischer) Schriftsprache und Nationalbewusstseins günstigere Voraussetzungen als der allrussische Anspruch des Zarenreiches, die verschiedenen Ausprägungen des Ostslawischen als Teile einer Völkerfamilie zu begreifen. In konfessioneller Hinsicht förderte Wien die Unierte Kirche, die dem Papst in Rom unterstellt war, während orthodoxe Ukrainer in Südrussland dem Moskauer Patriarchat zugehörten.
Ukrainische Staatsgründung nach Zusammenbruch des Zarenreiches
Der historische Moment für eine ukrainische Staatsbildung erstand erst aus dem Zusammenbruch des Zarismus und Österreich-Ungarns, beginnend mit der Februar- und der Oktoberrevolution 1917, den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk, gefolgt von der deutsch-österreichischen Besetzung sowie der polnischen und der Entente-Intervention in den Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen. In dieser Zeit formten sich auf ehemals zaristischem Gebiet die Ukrainische Volksrepublik, die Ukrainische Sowjetrepublik, das von Deutschland und Österreich-Ungarn inthronisierte Hetmanat, die Volksrepublik Donezk-Kriwoj Rog, die Machnowschtschina des Bauern-Anarchisten Nestor Machno in der Südost-Ukraine, sowie auf habsburgischem Gebiet die Westukrainische Volksrepublik, die sich der polnischen Eroberung durch die Vereinigung mit der Ukrainischen Volksrepublik zu entziehen versuchte.
Die ukrainische Delegation in Brest-Litowsk im Februar 1918. Sie sicherte durch einen separaten Friedensschluss mit den Mittelmächten im Austausch gegen Getreidelieferungen („Brotfrieden“) die formelle Eigenstaatlichkeit der Ukrainischen Volksrepublik. | Bild: picture alliance/Fotoarchiv für Zeitgeschichte
Aus den widerstreitenden Projekten ging nach dem Sieg der Roten im Bürgerkrieg und dem Friedensschluss zwischen Polen und Sowjetrussland 1920 die Ukrainische Sowjetrepublik als Teil der zukünftigen Sowjetunion als Realisat ukrainischer Staatlichkeit hervor. Sie schloss allerdings nicht die Bukowina, die an Rumänien fiel, das vormals ungarische Karpatoruthenien, das an die ČSR fiel, noch das Gebiet des habsburgischen Kronlandes Galizien ein, das zu Polen kam.
Jede neue Staatlichkeit kämpft mit den Schatten der Vorgängerstaaten, deren institutionelles, wirtschaftliches und kulturelles Erbe unter den neuen Strukturen weiterlebt. Jede neue Grenzziehung schafft auf dem Gebiet der ethnisch-sprachlichen Zusammensetzung der Staatsbürger, der Minderheitenrechte in Bezug auf Sprache, Verwaltung, Kultur- und Kirchenpolitik neue Konflikte. Wenn die alten Prägungen und Konfliktlinien wieder aufpoppen, spricht man von Phantomgrenzen. Sie können in Konfliktfällen zu neuen inneren Fronten bis hin zu Trennungswünschen oder Bürgerkriegen führen. An diesem Punkt kommen Ordnungsversuche von außen dazu: Nachbarn, Großmächte, internationale Gremien unterschiedlicher Stoßrichtung und Legitimation. Sie können vermittelnd wirken oder ihre Interessen mit der Intervention für eine Seite verbinden.
Immer Spielball fremder Mächte
Der ukrainische Staatschef von deutschen Gnaden Pawlo Skoropadskyj (Bildmitte) im Jahr 1918 eingerahmt von den deutschen Oberbefehlshabern Hindenburg (links) und Ludendorff (rechts). Er floh nach Deutschland, nachdem er Ende 1918 als Staatsoberhaupt der Ukraine abgesetzt worden war. | Bild: picture-alliance / akg-images | akg-images
Die ukrainische Unabhängigkeit war sowohl in den Jahren 1917 bis 1920, erneut im kurzen Moment, als der nationalsozialistische Russlandfeldzug 1941 Hoffnung auf Eigenständigkeit aufkommen ließ, als auch in den Jahren 1991 bis 2014 ein Spielball fremder Mächte. Dies traf auch auf die Staatlichkeit zu, die die Ukraine als Sowjetrepublik genoss. Als solche war sie nicht nur mit dem Unionszentrum Moskau konfrontiert, sondern auch mit antisowjetischen Interventionen westlicher Mächte für ukrainische Nationalisten, die sich mit der Unabhängigkeit 1991 verstärkten. In der Sowjetzeit wechselte das Unionszentrum mehrmals seine Einstellung zur Ukraine und dem Ukrainischen: einmal wurde die Nationsbildung und die Entwicklung der ukrainische Sprache unterstützt, dann wieder eine zentralistische, das Russische begünstigende Wende eingeleitet, die nationalistische Gefühle bestärkte.
Nach der Auffassung Halford Mackinders, die dieser in seinem viel zitierten Aufsatz „The Geographical Pivot of History“ im Londoner Geographical Journal vom April 1904 publizierte, stelle die Kontrolle des eurasischen „Herzlandes“ die Voraussetzung für die – damals britische – globale Hegemonie dar. Sie begleitet die angloamerikanischen Herrschaftskonzepte gegenüber Europa und Asien bis heute. Ihr jüngstes Revival erlebte sie mit Zbigniew Brzezińskis Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (1997) unter der Überschrift „Das eurasische Schachbrett“. Beide Strategen waren davon überzeugt, dass der russische Einfluss auf die Ukraine einzudämmen und eine Kooperationsachse zwischen Deutschland und Russland zu unterbinden sei.
Ende Februar 2014 verwirkte die ukrainische Post-Maidan-Regierung durch den Verfassungsbruch und die Vertreibung des gewählten Präsidenten das Vertrauen weiter Teile der Bürgerschaft in den mehrheitlich russischsprachigen Oblasten des Donbass sowie auf der Krim. Zum Regimewechsel wurden die neuen Machthaber maßgeblich von westlichen Politikern, Aktivisten und Medien ermuntert. Die russländische Seite verhehlte ihre Sympathie und Unterstützung für die Abtrünnigen nicht, verweigerte aber die von den Separatisten von Donezk und Lugansk gewünschte Anerkennung. Stattdessen bemühte sie sich bis knapp vor Ausbruch des militärischen Angriffs im Feburar 2022 um eine friedliche Konfliktlösung im staatlichen Rahmen der Ukraine (Minsk-Abkommen). Unabhängig davon, wie man die Rechtmäßigkeit der Loslösung der Volksrepubliken genau einschätzt, verfügt die ukrainische Staatsmacht seit damals de facto nicht mehr über die volle Kontrolle über Land und Bewohner.
Welche Begriffe und Konzepte eignen sich zur Analyse der externen Zugriffe auf die Region?
„Imperial“ trifft auf die sämtlich republikanisch verfassten Staaten nicht zu – mit der Einschränkung, wenn ein Staat oder Staatsmann bewusst an die imperiale Vergangenheit eines Vorgängerimperiums anknüpft. Bestimmte Aussagen Präsident Putins können als Reminiszenz auf vergangene Größe interpretiert werden, auch wenn er weder die Restauration der Sowjetunion noch der Monarchie anstrebt. Die im Westen üblich gewordene Charakterisierung russländischer Machtausübung als „imperial“ lenkt von den tatsächlichen Verhältnissen ab.
„Imperialistisch“ erfordert die Unterscheidung zwischen der ökonomischen und der politisch-militärischen Dominanz. Ökonomischer Imperialismus im klassischen Sinn liegt vor, wenn eine stärkere Ökonomie, getrieben von der Suche nach einer Verbesserung der Kapitalverwertung, auf die Ressourcen einer weniger entwickelten Ökonomie zugreift; Kolonisierung, Okkupation oder Annexion ist dafür nicht vonnöten. Es ist eine Expansion, die sich aus der Dynamik der Kapitalakkumulation speist.
Die Ukraine war dieser Dynamik seit ihrer Einbindung in die Weltwirtschaft als Agrar- und Rohstoffprovinz für die benachbarten Reiche im 19. Jahrhundert ausgesetzt. Diese Rolle erfüllte sie auch in der Sowjetunion, in der die Zentrum-Peripherie-Beziehungen jedoch nicht der Kapitaldynamik, sondern dem politischen Primat folgten. Weder im Zarenreich noch in der Sowjetzeit lag ein ökonomischer Entwicklungsunterschied zwischen den Zentren und der Ukraine vor. Der Zugriff auf Ressourcen und Arbeitskräfte erfolgte auf der Basis politischer Macht. Aufgrund der Investitionen in Bergbau und Verarbeitung, die im 19. Jahrhundert von britischen und französischen Investoren im zaristischen Bemühen um Industrialisierung begonnen wurden, kam dem Donbass die Rolle eines ökonomischen Zentralraums zu. Der ehemals galizische Osten, also die heutige Westukraine, blieb auch in der Sowjetunion weiterhin Agrarprovinz.
Mit der Unabhängigkeit 1991 forcierten die ukrainischen Regierungen die Umorientierung von der engen Verflechtung mit dem Sowjetraum in Richtung Westen. Dies war mit einer Entwertung der Schwerindustrien sowie der Maschinen- und Rüstungsindustrie in der Zentral- und Ostukraine verbunden. Für westliche Unternehmen war und ist die Ukraine aufgrund der verfügbaren Rohstoffe und der niedrigen Arbeitskräftekosten ein interessantes Investitionsfeld. Sie dient als Standort für Agrarkonzerne, als Billiglohnstandort für die globale Zulieferung von Komponenten und Dienstleistungen sowie als Quelle für ArbeitsmigrantInnen. Als spezifischer Wirtschaftszweig hat sich zudem die Vermietung der Frauenkörper etabliert, die als Leihmütter weltweite Kinderwünsche erfüllen.
EU-Assoziierung als Musterbeispiel für Wirtschaftsimperialismus
Das von der Europäischen Union im Herbst 2013 forcierte Assoziierungsabkommen sollte die Umorientierung von Ost nach West vertraglich festmachen. Es war, nach langer Abwägung, von Präsident Wiktor Janukowitsch aufgrund des damit verbundenen Abbruchs der für die Ukraine vorteilhaften Integration mit dem postsowjetischen Raum nicht unterzeichnet worden. Dies bot schließlich den Anlass für die Proteste am Maidan. Es handelt sich bei dieser EU-Initiative geradezu um ein Musterbeispiel von Wirtschaftsimperialismus, das die neue Maidan-Regierung dann schnell absegnete.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und der französische Präsident Francois Hollande im Februar 2015, wenige Tage vor Unterzeichnung des Minsker Friedensabkommens | Bild: picture alliance / dpa | Mykola Lazarenko / Pool
Ökonomischer Imperialismus lässt sich in der Praxis meist schwer von der politisch-militärischen Beherrschung trennen, allerdings besteht zwischen den beteiligten Mächten oft eine Arbeitsteilung, in der manche stärker die politisch-militärische Seite betreiben, während sich andere in deren Windschatten auf die wirtschaftliche Seite konzentrieren können. Das kommt in Begriffen wie „kollektiver Imperialismus“ oder „imperialistische Komplizenschaft“ zum Ausdruck.
Politisch-militärischer Imperialismus liegt dann vor, wenn die Einmischung primär aus geostrategischen Interessen erfolgt. Sie kann Eroberung, Errichtung eines Protektorats oder Annexion nach sich ziehen, oder den beherrschten Staat politisch kontrollieren und in das eigene Bündnissystem einordnen. Wir begegnen auf dem Gebiet der Ukraine beiden Varianten von Imperialismus. Galizien stellte als Agrarprovinz und militärische Pufferzone eine ökonomische und eine militärische Peripherie der Habsburgermonarchie dar; dasselbe gilt für das Deutsche Reich gegenüber den polnischen Teilungsgebieten.
Im Ersten und Zweiten Weltkrieg war der Zugriff auf die ukrainischen Ressourcen ein wesentliches Kriegsziel. Als zwischen den Großmächten umstrittene Region war die Ukraine als militärisches Auf- und Durchmarschgebiet von Kriegseinwirkungen besonders betroffen. Sie stellte für beide Seiten eine bewegliche Expansions- und Kampfzone dar. Dafür gibt es den Begriff Mark, Militärgrenze, Frontera, Frontier, Krajina – oder eben „Ukraina“. Wie im Englischen, Spanischen oder Deutschen ist die konkrete Bezeichnung einer solchen Grenzzone auch im Slawischen in die Alltagssprachen eingegangen. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung tritt die Verbindungsfunktion, die umstrittene Grenzregionen immer auch als Brücken und Vermittler qualifizieren, gegenüber der wandernden Kampfzone in den Hintergrund. Die Ukraine liefert die Soldaten, die den Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland austragen.
Der Ukraine-Konflikt im globalen Rahmen
Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland erweitert sich zu einem geopolitischen Konflikt zwischen dem transatlantischen Westen und Russland, das aufgrund der abgeschnittenen Kooperation mit dem Westen verstärkt auf neue Partner im globalen Süden setzt. Wir beobachten auf beiden Seiten das Bemühen um neue Bündniskonstellationen, die durch die Sanktionen gegen Russland – und die Anstrengungen ihrer Umgehung – eine globale Neuordnung nach sich ziehen. Für Schwellen- und Entwicklungsländer bietet dies eine Gelegenheit, die seit den 1970er Jahren geforderte neue internationale Wirtschaftsordnung voranzutreiben. Präsident Putin unterstützt die Kritik am westlichen Imperialismus und interpretiert Russland aufgrund der westlichen Rüstungshilfe für die Ukraine als dessen Opfer. Dies bezieht sich jedoch nur auf die militärische Seite.
Dabei ist Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch in seinen wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen den imperialistischen Interessen der multinationalen Konzerne ausgesetzt. Die starke Orientierung auf Rohstoffexporte und die geringe Konkurrenzfähigkeit von Industrie und Technologie kennzeichnen seine Position im Weltsystem. Zudem hat der Zusammenbruch der Sowjetunion die Position Russlands als Wirtschaftsstandort enorm geschwächt.
Präsident Putins Ambitionen, die – im verlorenen Jahrzehnt unter Jelzin enorm gewachsene – Abhängigkeit zugunsten einer breiteren wirtschaftlichen Basis im Land zu überwinden, kamen aufgrund der Eigeninteressen der Rohstoffindustrien und ihrer Oligarchen nur langsam voran. Westliche Sanktionen und die Nachfrage der Rüstungsindustrie begünstigen zwar die inländische Produktion sowie die Diversifizierung von Investoren und Zulieferern, unterbrechen aber auch wesentliche Lieferketten. Der Krieg leitet die Potenziale zur Stärkung der wirtschaftlichen Verarbeitungskapazitäten im Land zudem stark in Vernichtungs- statt in Aufbaukraft.
Das westliche Verhalten in der Ukraine entspricht allen Kriterien von ökonomischem und politischem Imperialismus. Russland kann diesem aufgrund seiner eigenen wirtschaftlichen Schwäche lediglich geopolitisch-militärisch begegnen. Auch dieses Ungleichgewicht erschwert eine Friedenslösung.
Grenzen des Wohlstands, der Konfession und der Sprachen
Um den Krieg in und um die Ukraine in seiner inneren Dynamik zu verstehen, reicht der Rekurs auf imperialistische Durchdringung, Geopolitik und militärische Logik nicht aus. Ökonomische, soziale und kulturelle Grenzen existieren auch auf kleinräumiger Ebene und verbinden sich mit den größeren, überregionalen Interessen und Einflussfaktoren. Als Grenzen im weiteren Sinn werden hier die Wohlstandsgrenze sowie die Sprach- und Konfessionsgrenze als zentrale Kulturgrenze herangezogen.
Die Wohlstandsgrenze wurde bereits im Zusammenhang mit ökonomischem Imperialismus angesprochen, denn die Unterschiede der Einkommen und Kosten bilden die Voraussetzung, Profite durch Kapitalexport, also durch Investitionen in kostengünstigere Standorte, Auslagerung und Einbeziehung in globale Güterketten zu erzielen. Wohlstandsgrenzen auf regionaler und sozialer Ebene existieren auch innerhalb von Staaten, ja es sind gerade diese Unterschiede, die moderne Staatsbildung überhaupt erst möglich machen. Sie leben nach der Herausbildung moderner Staatlichkeit als regionale und soziale Disparitäten weiter und spiegeln sich in der ungleichen Verteilung von Einkommen, Vermögen, Lebens- und Aufstiegschancen.
Als solche interessieren sie uns im vorliegenden Kontext nur dann, wenn bestimmte soziale Gruppen, und mehr noch wenn sich diese regional konzentrieren, durch Vernachlässigung – oder gar durch gesetzliche Aufkündigung, wie im Fall der Russen diskriminierenden Sprachpolitik in der Ukraine – ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Rechte die Zugehörigkeit zum Staat in Frage stellen.
Im Gegensatz zur regionalen Ungleichheit und zum Klassencharakter einer Gesellschaft ging moderne Staatsbildung in kultureller Hinsicht mit sprachlicher, konfessioneller, also kultureller Homogenisierung einher. Diese ergab sich aus freiwilliger Anpassung aufgrund von Anreizen und besserer Aufstiegschancen, oder sie wurde, wie dies etwas im Musterland der modernen Nationalstaatlichkeit, in Frankreich, der Fall war, durch Assimilationsdruck auf ethnische oder konfessionelle Minderheiten bewerkstelligt. Bestehende Vielfalt wurde in den Grenzen der sich herausbildenden Nationalstaaten kanalisiert.
In den Reichen mit überseeischem Kolonialbesitz konnte die Homogenisierung im Mutterland voranschreiten, während in den Kolonien die ethnische Vielfalt der Untertanen aufrecht blieb – freilich ohne deren rechtliche Angleichung. Anders in den Reichen der Habsburgermonarchie, Russlands oder des Osmanischen Reichs mit ihrer multiethnischen und multikonfessionellen Bevölkerung. Mit ihrem Zerfall strebten die Nationalitäten unabhängige Nationalstaaten an, die sich in ihrer Homogenisierungspolitik stark am französischen Vorbild orientierten. Sie fühlten sich nach dem Ersten Weltkrieg auch vom Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Völker des US-Präsidenten Wilson bestärkt.
Die in Friedensverträgen und Grenzziehungen festgelegten Grenzen befriedigten jedoch weder die Vorstellungen der Mehrheits- noch der Minderheitsnationalitäten und blieben als Konfliktpotenzial bis heute präsent. Auch die ukrainischsprachigen Regionen der Habsburgermonarchie erklärten im November 1918 ihre Unabhängigkeit als Westukrainische Volksrepublik, und die Südslawen bildeten den Staat der Slowenen, Kroaten und Serben. Beide Nachfolgestaaten gingen schließlich in größeren Staatsprojekten auf: die Westukrainische Volksrepublik in der Ukrainischen Volksrepublik (bis 1920), das österreichische Südslawien im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.
Durchmischung durch inner-sowjetische Migration
Sowjetrussland verband, geleitet vom Leninschen Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, den Anspruch nationaler Identität mit der Transformation zum sozialistischen Vielvölkerstaat. Die ethno-kulturelle Gemengelage stand der Nationsbildung bzw. dem Minderheitenstatus der Völker nicht entgegen, bei – phasenweise mehr oder weniger stark eingeforderter – Führungsrolle des Russischen als Lingua Franca und des Atheismus als sozialistischer Staatsreligion. Bis zur Auflösung der Sowjetunion gab es keinen Versuch, ethno-kulturelle mit politischen Grenzen in Übereinstimmung zu bringen, im Gegenteil, die Arbeits- und Bildungsmigration begünstigten die Durchmischung. Dies förderte die Herausbildung von ethnisch-sprachlichen Mehrfachidentitäten bzw. regionalen Mischformen in der Alltagssprache, etwa einem Amalgam zwischen Russisch und Ukrainisch, das auch als Surschyk bezeichnet wird.
Die Staatsgründung der Ukraine im August 1991 brach mit diesem Prinzip. In der Praxis war es jedoch unmöglich, eine Gesellschaft, die personell, kulturell und wirtschaftlich so eng mit der russischen Kultur und der Russländischen Föderation verflochten war, von heute auf morgen zu einem homogenen Nationalstaat zu machen. Trotz der Öffnung zum Westen, von der sich die meisten die Anbindung an Wohlstand und Teilhabe an den – vermeintlichen – Segnungen des globalen Kapitalismus erhoffte, war die militärische und wirtschaftliche Umorientierung nach Westen unter ukrainischen Politikern und ihren oligarchischen Schutzherren in den Jahren 1991 bis 2014 umstritten. Dies schlug sich auch im regelmäßigen Austausch des politischen Personals nieder.
Die Kooperation mit der postsowjetischen Welt war eine Realität, die zur Öffnung zum Westen nicht im Widerspruch stehen musste. Seit dem Regimewechsel 2014 darf die Frage nach einer in beide Richtungen blickenden internationalen Ausrichtung der Ukraine nicht mehr gestellt werden, die Führung hat sich militärisch, (geo-)politisch, wirtschaftlich und kulturell auf Gedeih und Verderb fest den Erwartungen des Westens untergeordnet und eine Politik der Abgrenzung gegenüber Russland und der russischen Kultur in Angriff genommen. Sie hat damit ein Zerreißen des Landes in Kauf genommen, wie die Zeitschrift der Kommunistischen Partei der Ukraine bereits 2003 in einer politischen Karikatur voraussah. Diese weitsichtige Prognose sprang der Autorin auf einer Odessa-Reise ins Auge.
Nach 1991 zunehmender Druck durch Ukrainisierung
Auch in der Nationalitäten- und Kulturpolitik wechselten einander Phasen der ukrainisch-russischen Koexistenz, Phasen der Ukrainisierung und Phasen des Ausgleichs zwischen den Kulturen ab. Eine Unterdrückung des Russischen erschien trotz der Verankerung des Ukrainischen als Staatssprache weder bei der politischen Führung noch bei der Bevölkerungsmehrheit wünschenswert bzw. machbar.
Generell konnte bei Wahlergebnissen, Meinungsumfragen und Zensusdaten beobachtet werden, das sich die politische Ausrichtung klar in die demographische Verteilung russischer und ukrainischer Bevölkerungsmehrheiten einfügte. Das heißt, es gab eine Dominanz des Ukrainischen und der Westorientierung im Westen und eine Dominanz des Russischen und der Russland-Orientierung im Osten, Südosten sowie in einer Überlappungszone in der Zentral- und Nordostukraine. Laut Meinungsumfragen sprach sich entsprechend dieser Unterschiede 2012 rund die Hälfte der Befragten für die Einführung des Russischen als zweite Staatssprache aus. Die Befürworter deckten sich weitgehend mit jenen Regionen, die heute von Russland besetzt und annektiert wurden.
Die Transformation verschrieb sich zunehmend den Zielen der Ukrainisierung und Westorientierung. So verständlich die Förderung des Ukrainischen als Staatssprache im neuen Staat war, so sehr setzte das Selbstverständnis des Staates als Nationalstaat der Ukrainer die russischsprachige Bevölkerung einem besonderen Druck aus.
Nationalistische Kirchenpolitik
Verschärft wurde der Ukrainisierungsdruck durch die Kirchenpolitik. Historisch herrschte in den ehemaligen Gebieten unter polnischer bzw. habsburgischer Herrschaft bei Ukrainern die griechisch-katholisch Variante des Christentums vor, das heißt eine orthodoxe Glaubenspraxis, die den Papst in Rom als Oberhaupt anerkannte, auch als Unierte bezeichnet. Unter dem Kommunismus verboten, formierte sich die Unierte Kirche mit weströmischer Unterstützung nach 1991 neu und reaktivierte eine bereits vergessen geglaubte Phantomgrenze, die in handgreiflichen Auseinandersetzungen um die Gotteshäuser kulminierte.
Aber auch die orthodoxen Ukrainer, ob russisch- oder ukrainisch-sprachig, die in den zentralen und östlichen Teilen der Ukraine lebten und dem Moskauer Patriarchat angehörten, gerieten mit der Nationalstaatsgründung unter Druck. Im ostkirchlichen Staatskirchenkonzept orientiert sich die Kirchenorganisation grundsätzlich am Staat: es war also nur folgerichtig, dass in der unabhängigen Ukraine eine autokephale ukrainische Kirche mit einem Kiewer Patriarchen entstand. In den Auseinandersetzungen mit der gesamtrussischen Kirche des Moskauer Patriarchats wurde die Ukrainische Nationalkirche von der Regierung Juschtschenko (2005 bis 2010) unterstützt, anstelle des Kirchenslawischen verwendet sie Ukrainisch als Liturgiesprache.
2018 wurde sie vom Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel, der orthodoxen Dachorganisation, anerkannt. Die neue Orthodoxe Kirche der Ukraine fristet jedoch vor allem im Osten und Süden des Landes ein Schattendasein. Die Gläubigen, die seit 1990 wieder zur offenen Religionsausübung zurückgekehrt sind, fühlten sich weiterhin der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats zugehörig. Damit wich das Territorium des Glaubens jedoch vom Territorium des Staates ab. In dem Maße, wie Moskau zum Feind aufgebaut wurde, wurden die Gläubigen und mehr noch die Geistlichen der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats zur 5. Kolonne Russlands stilisiert. Es nutzte ihnen nichts, dass sie auf einer Kirchenversammlung im Mai 2022 den Krieg verurteilten, die Regierungen zu Verhandlungen aufforderten und auf Distanz zum Moskauer Patriarchen gingen, der sich offen auf die russische Seite gestellt hatte. Seit 2023 werden ukrainisch-orthodoxe Priester verhaftet und Kirchengüter beschlagnahmt, allen voran das Kiewer Höhlenkloster, eines der ältesten Bauwerke der orthodoxen Welt.
Wellenartige Verdrängung der Russischen Sprache
Der Nationalitätenkonflikt spiegelt sich auch in der Frage des Sprachgebrauchs im öffentlichen Leben, konkret ob Russisch im äußeren Amtsverkehr und bei Gericht zugelassen ist. Er setzt sich in der Schulpolitik und in der Frage fort, unter welchen Bedingungen Schulunterricht in russischer Sprache erfolgen darf.
Russisch wurde programmatisch und rechtlich in mehreren Wellen aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Das Ziel wird auch als „Reversing Language Shift“ bezeichnet. Das bedeutet die Durchsetzung der Titularsprache, die Unterdrückung von Zweitsprachen, Mischsprachen und Mehrsprachigkeit. Unter der Regierung Janukowitsch (2010 bis 2014) wurde dieser Trend mit einem neuen Sprachengesetz im Jahr 2012 zwischenzeitlich gebremst. Das Gesetz ließ in Regionen mit mindestens 10 Prozent ethnischer Minderheitsbevölkerung neben dem Ukrainischen auch die Sprache der Minderheit als Amtssprache zu. In 13 von 27 Verwaltungseinheiten wurde damals Russisch als Regionalsprache verankert. Das Gesetz wurde 2014 im Post-Maidan-Parlament aufgehoben und später vom Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt.
Russisch ist seit 2014 mit Bann und Verachtung belegt. Das neue Sprachgesetz vom 25. April 2019 verschrieb sich der „Sicherstellung der Funktion des Ukrainischen als Staatssprache“. Es gibt klare Regeln für alle Bereiche des öffentlichen Lebens wie Verwaltung, Justiz, Theater, Kino, TV, Verlagswesen, öffentliche Unternehmen vor, Ukrainisch zu sprechen, aber auch als Antwortpflicht etwa in Geschäften, Restaurants und Dienstleistungsbetrieben. Auch die russischsprachige Presse fiel der Ukrainisierung zum Opfer. Ausgenommen davon sind autochthone Minderheiten, zu denen paradoxerweise Russischsprachige nicht gezählt werden, sowie Englisch und EU-Amtssprachen. Russisch wird damit auf die private Kommunikation beschränkt. Russische Literatur ist fast vollkommen verboten, selbst aus wissenschaftlichen Texten sind russischsprachige Quellen bzw. Autoren verbannt.
Einen weiteren Reversing-Language-Schub brachte das 2017 erlassene Gesetz über die Bildung. Es sah in Schulen autochthoner Völker und nationaler Minderheiten eine sukzessive Erhöhung des Unterrichts in ukrainischer Sprache, der sogenannten „Mova“, am Lehrplan vor. Auf den Diskriminierungsvorwurf seitens der Venedig-Kommission des Europarates reagierte die ukrainische Regierung nicht. 2018 gab es noch 622 Schulen im Land, in denen Russisch die Hauptunterrichtssprache war. Seit dem Schuljahr 2020 ist der muttersprachliche Unterricht für russischsprachige SchülerInnen überhaupt Vergangenheit, sie haben lediglich die Möglichkeit, das Fach „Muttersprache“ zu belegen. SchülerInnen der abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk waren von dieser Regelung selbstverständlich nicht betroffen. Andere Minderheiten erhielten einen Aufschub bis 2024.
Sprachenombudmann Taras Kremin zeigt in seinem Jahresbericht auf, dass es im Schuljahr 2022/23 praktisch keine Einrichtungen, Klassen oder Schüler gab, in denen Russisch als Schulfach unterrichtet wurde, auch nicht in den Regionen Dnipro, Charkiw und Odessa. „Es ist anzumerken“, heißt es in dem Bericht, „dass dieser Prozess natürlich auf Wunsch der Eltern stattfindet und die allgemeinen Prozesse zur Stärkung der nationalen und staatsbürgerlichen Identität der Ukrainer widerspiegelt.“
Der neue ukrainische Bildungsminister Oksen Lisovoy hat sich gerade erst dagegen ausgesprochen, dass es Schulen gibt, in denen [einzelne Fächer] auf Russisch unterrichtet werden. „Wir kämpfen jetzt für ein Wertesystem, das sich radikal vom Wertesystem des russischen Reiches unterscheidet. Wir gehen definitiv einen anderen Weg als die ‚russische Welt‘. Warum bereiten wir dann die Kinder auf den Gebrauch der russischen Sprache vor?“, - sagte er.
Mit der Internationalisierung des Krieges 2022 wurden sämtliche Parteien, die die Interessen der Russischsprachigen vertraten, verboten. Damit verschiebt sich die Grenze zwischen dem Russischen und dem Ukrainischen zwangsläufig, sodass der Gebrauch des Russischen abnimmt. Für Binnenflüchtlinge, die nicht oder schlecht Ukrainisch sprechen, werden in den ukrainischsprachigen Hochburgen im Westen Sprachkurse angeboten. In Wien, wo Tausende UkrainerInnen Zuflucht gefunden haben, hört man jedoch viel Russisch und wenig Ukrainisch. Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass für UkrainerInnen, die des Ukrainischen nicht mächtig sind, im Ausland die Priorität des Fremdsprachenerwerbs in der Sprache des Zufluchtslandes liegt.
Militärisch forcierte Westorientierung
Die zweite große Transformationsrichtung zielt auf den Abbruch der Integration mit der Russländischen Föderation und anderen Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion und die Hinwendung nach Westen. Die Westorientierung hat eine wirtschaftliche und eine militärische Seite. Während die militärische Anbindung unter der Ägide von USA und NATO erfolgt, waren in der Europäischen Union vor allem wirtschaftliche Interessen an der Nutzung ukrainischer Ressourcen wirksam. Im Zuge der kriegerischen Zuspitzung des Konflikts als geopolitische Auseinandersetzung zwischen dem kollektiven Westen und Russland wurde auch die Europäische Union in die Waffenhilfe hineingezogen.
Die Militarisierung der internationalen Beziehungen macht die Unterscheidung zwischen der wirtschaftlichen und der militärischen Ebene zunehmend obsolet: Europäische Kommission und Mitgliedsstaaten wurden zu wichtigen Lieferanten von Waffen, logistischer Unterstützung und Soldaten-Ausbildung sowie zu Treibern des Sanktions- und Embargo-Regimes – obwohl beides die EU-Staatshaushalte sowie das Russland-Geschäft enorm belastet. Hier kommen innerwestliche Interessengegensätze ins Spiel: Unter den Bedingungen des militärischen Primats kann die USA ihre hegemoniale Schwäche durch ihre Führungsrolle in der NATO kompensieren und die europäischen NATO-Partner entgegen deren ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen in Geiselhaft nehmen. Möglich wird dies durch ein Filtersystem, in dem US-beherrschte globale Thinktanks und Stiftungen die Auswahl des politischen Personals bestimmen, das die westliche Komplizenschaft trägt.
Auch die USA verfolgen mit der Ukraine-„Solidarität“ ökonomische Ziele. Dazu gehört die Ankurbelung der Nachfrage nach Rüstungsgütern, in denen US-Konzerne nach wie vor tonangebend sind. Die USA nutzten die Gelegenheit des Krieges aber auch zur Skandalisierung der europäischen Gas- und Ölimporte aus Russland, um ihr eigenes, unter ungleich umweltschädlicheren Bedingungen gefördertes und zugleich teureres Fracking-Gas auf den europäischen Markt zu bringen. Um den europäischen Energiekunden diesen für sie umweltpolitisch nachteiligen und kostentreibenden Coup schmackhaft zu machen, wird diese Umorientierung als Überwindung von Importabhängigkeit gepriesen und mit der angestrebten Abkehr von der fossilen Energie überhaupt in Verbindung gebracht.
Auch hier wird die Überzeugungsarbeit durch europäische Politiker selbst erledigt. Ökologisch besorgte Bürger werden durch das Heraufbeschwören einer das Überleben der Menschheit gefährdenden Klimakrise ins Boot für die Russland-Sanktionen und die Hilfspakete für die Kriegs- und Staatsführungskapazität der Ukraine geholt. Die Ukraine wird zum Frontstaat der Verteidigung „westlicher Werte“ hochstilisiert.
1991: Auflösung der Sowjetunion ohne Blick auf zukünftige Konflikte
Rückblickend betrachtet, war die Ukraine aufgrund der unterschiedlichen Traditionen und historischen Einbindungen in sozialer und regionaler Hinsicht entlang ökonomischer und kultureller Grenzen gespalten. Diese Trennlinien lebten in der Sowjetzeit unterschwellig fort, auch wenn diese neue Probleme und Interessengegensätze zum Vorschein brachte. Die Auflösung der Sowjetunion, die von den Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine am 9. Dezember 1991 beschlossen wurde, stellte die Nachfolge-Regierungen vor schier unlösbare Probleme. Die drei Präsidenten hatten die Entscheidung zur Auflösung der Union ohne Voraussicht auf mögliche Konsequenzen getroffen. Dabei war absehbar, dass die Grenzen der Sowjetrepubliken, die in der Union sehr durchlässig waren und das Nebeneinander und den Austausch zwischen den vielfältigen Bevölkerungsgruppen nicht behinderten, als Staatsgrenzen großen Druck aufbauen würden.
Unterzeichnung der Vereinbarung zur Auflösung der Sowjetunion 1991 | Bild: RIA Novosti
Die am eigenen Machterhalt orientierten Präsidenten und die mit ihnen verbundenen Oligarchen hatten nicht daran gedacht, dass der Zerfall des komplex zusammengesetzten, multiethnischen Gebildes komplizierte Rechts-, Kompetenz- und Aufteilungskonflikte nach sich ziehen würde. Bei den alten westlichen Imperien lasten die kolonialen Schatten immer noch über den Konflikten der Nachfolgestaaten. Eilig angesetzte Referenden am Ende der Sowjetunion und nach Ausrufung der ukrainischen Unabhängigkeit mit ihren – aufgrund der faktischen Macht der Verhältnisse – hohen Zustimmungsquoten konnten dies auch hier nicht verhindern. Die rechtlich abgestuften Autonomien im Unionsstaat verloren mit der Vereinheitlichung der Bürgerrechte im Nationalstaat ihre Bedeutung als Vermittlungsinstanz für kulturelle Vielfalt.
Die Aufteilung einer implodierenden Union in Nachfolgestaaten barg durchaus positive Potentiale. Die Unabhängigkeit wurde nicht nur von eingefleischten Nationalisten als Chance begriffen. Im Fall der Ukraine kann man nach fast zehn Jahren Bürgerkrieg und eineinhalb Jahren der Eskalation als internationaler Krieg mit direkten und indirekten Akteuren allerdings feststellen, dass diese Chance verspielt ist.
Nationalismus statt Vielfalt, Grenze statt Brücke
Die leidvolle Geschichte der von wechselnden Fremdherrschaften geprägten Region, deren Bemühungen um Autonomie und Eigenstaatlichkeit stets von außen instrumentalisiert wurden, hätte den Regierenden nahelegen müssen, die Heterogenität des Landes als positives Erbe zu begreifen. Eine Ukraine, in der Tradition von Grenzland und Brücke, kann als selbständiger Staat nur bestehen, wenn er die innere Vielfalt ebenso anerkennt wir die Vielfalt der äußeren Beziehungen. Die geopolitische Anspannung und Aufladung der Region, die sich aus der Lage zwischen übermächtigen, tendenziell rivalisierenden Nachbarn und Hegemonialmächten ergibt, erfordert ein System kollektiver Sicherheit, das alle Seiten einbezieht. Nur in dessen Schutz kann ein ukrainischer Staat Bestand haben.
In wirtschaftlicher Hinsicht kann die Brücken- und Vermittlerfunktion auch ökonomisch Chancen eröffnen. Nachdem die Brücken abgebrochen und die Türen zugeschlagen wurden – als letzte die Missachtung der Vereinbarung von Minsk vom Februar 2015 bis hin zur Friedenslösung von Istanbul im März 2022 nach dem russischen Angriff – , wird nun die Homogenisierung und Blockintegration unter nationalistischen Vorzeichen verfolgt. Diese folgt einem exklusiven Muster der ethnischen und politischen Homogenisierung und läuft folgerichtig auf die ethnische Frontstellung zwischen Ukrainern und Russen hinaus. Der Kampf um die Grenze der nationalen Territorien ist voll im Gange. Wer auf seiner Seite nicht zum Staatsvolk gehört, muss sich assimilieren oder fliehen, sofern er oder sie die Schlacht überlebt. Unter diesen Bedingungen gibt es keinen Weg zurück in die Multikulturalität.
Ein Waffenstillstand mit einer nachfolgenden Friedenslösung, die die Grenzen unter Berücksichtigung des Bevölkerungswillens und der Einbeziehung internationaler Friedensinstitutionen festlegt und langfristig überwacht, wird die vollzogene Ethnisierung der Grenzen nicht rückgängig machen können. Die Internationalisierung der Interessen zieht auch eine Internationalisierung der Bemühungen um Waffenstillstand nach sich.
Die beiden, durch den Krieg als einander ausschließende Identitäten geformten Nationalitäten werden nur mittels Trennung bestehen können. Die Frage ist, wann diese Trennung durch garantierte Grenzen anstelle von Soldaten beider Seiten verschleißende Kampfhandlungen an der Kriegsfront erfolgen kann.
Über die Autorin: Andrea Komlosy, Jahrgang 1957, arbeitet als Professorin i.R. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Zuletzt erschienen von ihr die Bücher „Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive“, „Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf“, „Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft“ sowie der Beitrag „Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917 – 1991)“ im Sammelband „Kriegsfolgen“.
Anmerkung
(1) Die Krim stellt einen Sonderfall dar. Russland eroberte die Halbinsel sowie das restliche Herrschaftsgebiet der Krimtataren im 18. Jahrhundert. Die Krim wurde später durch die multinationale christlich-orthodoxe Besiedlung zum Inbegriff russländischer Reichskultur. Ob die viel zitierte Schenkung an die Ukrainische Sowjetrepublik 1954 tatsächlich eine staatsrechtliche Bedeutung hatte, ist umstritten; Sewastopol als sowjetischer Marinestützpunkt war davon jedenfalls ausgenommen. Am 20.1.1991, also noch vor der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine, sprach sich die Bevölkerung, die nach der Aussiedlung der Krimtataren fast zur Gänze aus ethnischen Russen bestand, für die Eigenständigkeit der Krim als Autonome Republik im Staatenbund der UdSSR aus. Im Referendum zur Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991 stimmten dann 54 % der Krim-Bewohner für diese. Sämtliche Vorstöße des Krim-Parlaments, sich in der Folge von der Ukraine zu lösen, wurden von Kiew zurückgewiesen. Den Ausschlag für die Loslösung und den Anschluss an die Russländische Föderation gab die mit dem Regimewechsel verbundene politische Neuausrichtung der Ukraine im Februar 2014 durch die Regionalverwaltung, die im März 2014 durch ein Referendum bestätigt wurde. Zwei Tage später vollzog Russland den Anschluss.
Literatur
- Hofbauer Hannes (2016): Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, Wien.
- Kappeler Andreas (2019): Kleine Geschichte der Ukraine, München.
- Klutschewsky Alexej (2022): On the preparation and sanctification of the Holy Chrism in Eastern Orthodox Churches in Modern Times
- Komlosy Andrea (2023): Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917-1991), in: Hofbauer Hannes/Kraft Stefan Hg. (2022): Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert, Wien.
- Komlosy Andrea (2022): Eurasien in Herrschafts- und Entwicklungs-Konzepten, in: Zeitschrift für Weltgeschichte; Volume 23, Nummer 1
- Komlosy Andrea (2018): Grenzen. Wirtschaftliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf, Wien.
- Miller Alexej (2003): The Ukrainian Question. The Ukrainian Question and Nationalism in the 19th Century, Budapest.
- Nolte Hans-Heinrich (2017): Kurze Geschichte der Imperien, Wien-Köln-Weimar.
Laufende Medienberichterstattung
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- Was sind Russlands Kriegsgründe? (Paul Schreyer, 25.1.2023)
- Der Ukraine-Krieg im Lichte des Völkerrechts (Rudolf Brandner, 5.11.2022)
- Zukunftsaussichten eines zerstörten Landes (Stefan Korinth, 16.5.2022)
- Krieg in der Ukraine – Schwarze Tage Europas (Redaktion, 27.2.2022)
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