Zukunftsaussichten eines zerstörten Landes
STEFAN KORINTH, 16. Mai 2022, 8 Kommentare, PDF„Wer Kijew hat, kann Moskau zwingen!“ – Paul Rohrbach, 1915 (1)
Westlichen Geostrategen ist die überragende Bedeutung der Ukraine für die russischen Macht- und Sicherheitsinteressen seit mehr als 100 Jahren klar. Dazu ist es gar nicht nötig, Bezug auf angelsächsische Polit-Einflüsterer wie Halford Mackinder, Zbigniew Brzezinski oder George Friedman zu nehmen – auch deutsche Regierungen hatten solche Ratgeber. Der anti-russische Publizist Paul Rohrbach beispielsweise, der während des Ersten Weltkriegs im Auswärtigen Amt tätig war, warb für die Schwächung Russlands durch Heraustrennen damals neuer Nationalstaaten – wie der Ukraine.
Man könne das Russische Reich „wie eine Apfelsine“ in seine Bestandteile zerlegen und ein System neuer osteuropäischer Staaten schaffen, argumentierte Rohrbach. (2) Russlands Macht und Möglichkeiten würden dadurch massiv eingeschränkt.
„Wer Kijew hat, der hat auch die Küste und die Häfen am Schwarzen Meer. Ohne die Kohle der Ukraina können die Eisenbahnen nicht fahren, ohne ihr Eisenerz können keine Pflugscharen geschmiedet, keine Kanonen gegossen werden, und ohne ihr Getreide hat das übrige Rußland nicht genug Nahrung. (…) Alles große Leben in Rußland muss versiegen, wenn ein Feind die Ukraina packt.“ (3)
Auch wenn diese Zwänge für Russland so heute nicht mehr bestehen, ist die geopolitische Relevanz der Ukraine wegen anderer Faktoren unverändert hoch. Die Bedeutung eines privilegierten Schwarzmeer-Zugangs für Russland wurde bereits 2014 mit der raschen Besetzung und Wiedereingliederung der Krim deutlich. Vor allem jedoch geht es um die existenzielle militärische Bedrohung des russischen Kernlandes, die von der Ukraine aus möglich ist. Das macht das Land auch so bedeutsam für die NATO.
Russische Sicherheitsinteressen definieren Zukunft der Ukraine
Wladimir Putin ist sich dieser Bedeutung bewusst, wie er in seiner Rede am 24. Februar 2022 deutlich machte. Klar wird darin: Die russische Staatsführung hat den Angriff auf die Ukraine aufgrund eigener staatlicher Sicherheitsinteressen beschlossen. Viele Politiker und Leitmedien in NATO-Ländern sind zu dieser Einsicht nicht gewillt oder nicht in der Lage. Dabei machte der russische Präsident sehr deutlich, worum es Moskau geht:
„Die militärische Entwicklung der an unsere Grenzen stoßenden Gebiete wird, wenn wir sie zulassen, noch jahrzehntelang, vielleicht für immer, bestehen bleiben und eine ständig wachsende, völlig inakzeptable Bedrohung für Russland darstellen. Schon jetzt, in dem Maße, wie sich die NATO nach Osten ausdehnt, wird die Situation für unser Land von Jahr zu Jahr schlechter und gefährlicher. Darüber hinaus hat die NATO-Führung in den letzten Tagen ausdrücklich von der Notwendigkeit gesprochen, das Vorrücken der Infrastruktur des Bündnisses in Richtung der russischen Grenzen zu forcieren. Mit anderen Worten: Sie verschärfen ihre Haltung. Wir können nicht länger nur zusehen, was passiert.“
Die USA haben die Ukraine in den vergangenen Jahren in ein „Anti-Russland“ verwandelt und das Land mit modernen Waffen vollgepumpt, betonte Putin. Nun strebe die ukrainische Führung sogar nach Atomwaffen. Russland könne sich nicht sicher fühlen, wenn eine ständige Bedrohung aus dem Gebiet der Ukraine möglich sei.
„Für die USA und ihre Verbündeten ist die sogenannte Politik der Eindämmung Russlands, eine offensichtliche geopolitische Dividende. Für unser Land ist es jedoch letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation. Und das ist keine Übertreibung – so ist es nun einmal. Das ist eine echte Bedrohung nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates und seine Souveränität. Das ist die rote Linie, über die immer wieder gesprochen wurde.“
Putin bekräftigte diese Erklärung nochmal in seiner Rede zum Tag des Sieges am 9. Mai. Die russische Motivation zu verstehen, ist entscheidend, um abschätzen zu können, was aus dem ukrainischen Staat werden könnte. Denn es sind genau diese russischen Sicherheitsinteressen, die das maßgeblich definieren werden.
Militärische Mathematik
Die detaillierten militärischen Entwicklungen vor Ort an den Fronten können hier nicht näher analysiert werden. Grob überblickt, herrscht folgende Lage: Die russische Armee hat große Teile im Süden und Osten der Ukraine unter ihrer Kontrolle. Trotz aller ukrainischen Stärkebekundungen und westlicher Unterstützungsleistungen verliert die ukrainische Armee im Donbass, da wo ihre stärksten Kräfte stehen, täglich Raum. Große Teile des restlichen Landes – darunter Autobahnen und Schienenwege – liegen zudem unter russischer Feuerhoheit. Die ukrainische Rüstungsindustrie ist stark zerstört. Russlands Militär beherrscht große Teile des Luftraums und nahezu vollständig die Küsten der Ukraine. Einzelne Achtungserfolge der Verteidiger ändern an dieser Lage nichts.
Es sei Ergebnis einfacher militärische Mathematik, dass die ukrainische Armee unterliegen werde, sagt der frühere US-Marine und UNO-Waffenkontrolleur Scott Ritter. Auch andere westliche Militärexperten kommen zu dieser Einschätzung. Die ukrainische Armee wird sich – solange ihre Strukturen noch halbwegs intakt sind – hartnäckig verteidigen. Jedoch wird sich die russische Armee langsam aber stetig durchsetzen und in einigen Monaten, nach dem Sieg über die ukrainischen Hauptstreitkräfte im östlichen Landesteil, vorrücken und immer größere Teile der Ukraine unter Kontrolle bringen.
Auch wenn die NATO-Länder ihre Rüstungslieferungen weiter aufstocken und schwere Waffensysteme tatsächlich in relevanter Weise in den Kampfhandlungen eingesetzt werden könnten, würde Russland seinen technischen, personellen und materiellen Einsatz ebenfalls um das Nötige erhöhen, so dass es die militärische Auseinandersetzung trotzdem für sich entscheidet. Ausschlaggebend ist: Russland kann sich in einem Konflikt, den Wladimir Putin selbst als „existenziell“ definiert, keine Niederlage erlauben.
Nun, da die russische Staatsführung die schwerwiegende Entscheidung zum Einmarsch in die Ukraine einmal getroffen hat, wird sie diesen Krieg auch solange führen, bis die eigenen Vorstellungen von militärstrategischer Sicherheit erfüllt sind. Diese These ist der Ausgangspunkt der folgenden Annahmen über die Zukunft der Ukraine. Blicken wir zuerst auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen.
Bevölkerungsexodus
Die Ukraine erlebte seit dem Maidan einen massiven Bevölkerungsverlust durch Auswanderung, weil das Land immer stärker verarmte und die Visa-Vereinbarungen mit der EU gelockert wurden. Mit dem Krieg beschleunigt sich dieser Exodus nun extrem. Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) spricht – Stand 13. Mai – von mehr als sechs Millionen ins Ausland geflohenen Ukrainern seit dem Beginn des russischen Einmarsches. Das sind rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Etwa acht Millionen ukrainische Binnenflüchtlinge, die ihre Wohnorte ebenfalls verlassen haben und etwa bei Verwandten auf dem Lande untergekommen sind, könnten bald ins Ausland folgen.
Vor allem Eltern mit Kindern haben das Land verlassen. (4) Je länger der Krieg in ihrem Heimatland dauert, desto wahrscheinlicher werden sie sich sprachlich, schulisch und beruflich in ihren Zufluchtsländern integrieren. Es ist höchst fraglich, ob die Mehrheit dieser Menschen je wieder dauerhaft in die Ukraine zurückkehren wird, wenn weite Landesteile, darunter womöglich das eigene Zuhause im jetzigen Krieg zerstört werden. Damit verliert die Ukraine einen beträchtlichen Teil ihrer jungen Generation.
Es ist stark anzunehmen, dass die eher wohlhabenderen und gut gebildeten Bevölkerungsschichten geflohen sind, die zum Teil bereits Verbindungen ins Ausland hatten. Die jüngeren Männer aus dieser Schicht hatten auch das nötige Geld, sich an der Grenze vom Militärdienst freizukaufen. Gerade sie haben keine große Motivation als potenzielle Deserteure in ihre Heimat zurückzukehren. Weitere zehntausende junge Männer verliert die Ukraine – getötet oder schwer verwundet – auf den Schlachtfeldern. Das Land blutet buchstäblich aus.
Zerstörtes Land
Da sich die ukrainische Armee in vielen Orten verschanzt, droht noch weiteren Städten das Schicksal Mariupols. Die Großstadt am Asow’schen Meer ist nach zweimonatigen Straßen- und Häuserkämpfen stark zerstört. Auch viele Kleinstädte und Dörfer im umkämpften Donezbecken sehen inzwischen wie Ruinenlandschaften aus. Russland ist dort zu massiven Artilleriebombardements der ukrainischen Stellungen übergegangen.
Gerade in der Ostukraine ist erkennbar, dass die rechtsextremen, oft ortsfremden Teile der ukrainischen Nationalgarde keine Rücksicht auf Zivilbevölkerung und Infrastruktur nehmen. In ukrainischen Medien betonten nationalistische Kämpfer in den vergangenen Jahren immer wieder, dass sie die Einwohner der Ostukraine größtenteils für illoyal und pro-russisch halten. Die Städte der Region sind von diesen Akteuren für eine Zukunft in einem ukrainischen Staat offenbar bereits abgeschrieben. Doch verlorene Ortschaften sollen der russischen Armee nicht kampflos und intakt überlassen werden. Nationalisten drohen jedem, der dies anders handhabt: Ukrainische Bürgermeister, die der russischen Armee keinen Widerstand entgegensetzten, wurden in Kiew als Hochverräter angeklagt und teilweise entführt und ermordet. (5)
Die russische Armee, die sich als Befreier der ost- und südukrainischen Bevölkerungsteile versteht, hat zwar eher kein Interesse an zivilen Opfern und an der Zerstörung dieser Region, die zukünftig womöglich zu Russland gehört. Doch auch von russischer Seite ist kaum Rücksicht auf zivile Einrichtungen zu erkennen, wenn ukrainische Soldaten darin Stellung bezogen haben.
Die ukrainische Armee wiederum vermint zahlreiche Gebiete – etwa die Strände in Odessa oder die Landschaft rund um die Industriestadt Krywyj Rih (russisch: Kriwoi Rog). Politiker beider Seiten wiesen bereits auf das große Problem der Minenräumung nach Kriegsende hin. Im Gebiet Cherson hat die russische Armee schon mit der Minenräumung begonnen. Von ukrainischer Seite hieß es, gut 80.000 Quadratkilometer müssten auf Minen untersucht werden; das wäre ein Sechstel der Fläche der Ukraine.
Zerstörte Brücke zwischen Irpin und Kiew | Bild: picture alliance/dpa/Lehtikuva | Jussi Nukari
Ein weiteres Problem sind die zerstörten Verkehrswege: Allein bis Ende März hatte die ukrainische Armee bereits 127 Brücken gesprengt, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Die russische Armee zerstörte hingegen mehrere west- und zentral-ukrainische Schienenknotenpunkte und Umspannwerke, um Waffen-, Munitions- und Treibstofflieferungen zu unterbinden, und wird dies weiterhin tun. Auch viele Flughäfen sind wegen ihrer militärischen Bedeutung bevorzugtes Angriffsziel. Bei zunehmender Kriegsintensität könnten große Kraftwerke ebenfalls ins Visier geraten.
Die wirtschaftliche Basis des Landes wird durch den Krieg besonders in Mitleidenschaft gezogen. Wesentliche Teile der entwickelten ukrainischen Industrie (Luftfahrt, Rüstung, Auto- und Motorenbau) sind als kriegswichtige Betriebe im Fadenkreuz russischer Raketen. Die ukrainischen Hauptexportgüter Getreide und Stahl können aufgrund des Krieges nur in deutlich geringeren Mengen als früher produziert werden. Auch die Transportmöglichkeiten für den Handel solcher Güter sind stark eingeschränkt. Gerade die Landwirtschaft wird noch für viele Jahre unter der militärischen Verseuchung der Flächen durch Minen, Kriegsschrott, Blindgänger und giftige Munitionsreste – darunter auch abgereichertes Uran panzerbrechender Geschosse – zu leiden haben.
Verrohung und bewaffnete Gesellschaft
Zukünftige staatliche Gebilde auf ukrainischem Boden werden mit einer massiv traumatisierten und verrohten Nachkriegsgesellschaft zu tun haben. Die herrschende Gesetzlosigkeit und Gewaltbereitschaft werden Spuren hinterlassen. Dass dies nicht nur für aktuelle Kampfgebiete gilt, zeigen die Schießereien und die Selbstjustiz in ukrainischen Regionen, die fernab der Front liegen.
Das staatliche Gewaltmonopol ist nicht mehr existent und liegt in vielen dieser Regionen de facto in Händen rechtsradikaler Paramilitärs. Die massenhafte Ausgabe von automatischen Gewehren und die Entlassung zahlreicher Gefängnisinsassen durch ukrainische Autoritäten kurz nach Beginn des russischen Einmarsches verschärft die Situation und könnte die Ukraine auf absehbare Zeit in ein unregierbares Chaos stürzen. Zahlreiche der nun vom Westen in die Ukraine gelieferten Waffen werden auf dem Schwarzmarkt verkauft und in den Händen krimineller und politisch extremer Gruppierungen landen.
All das bedeutet: Nach dem Krieg bleibt eine stark dezimierte, schwer angeschlagene Gesellschaft zurück und es werden riesige Investitionen und jahrzehntelanger Wiederaufbau nötig. Wer Interesse und Mittel hat, dies zu finanzieren, hängt in erster Linie von den staatlichen Nachkriegskonstellationen auf dem jeweiligen Gebiet ab. Blicken wir also auf die kurz-, mittel- und langfristigen politischen Perspektiven der Ukraine.
Wird es eine Verhandlungslösung geben?
Bereits kurz nach Beginn des russischen Einmarschs traten Delegationen beider Seiten in Verhandlungen miteinander – zuerst in Weißrussland, dann in der Türkei, später per Videokonferenz. Bis auf den russischen Teilrückzug aus der Nordukraine, einige Gefangenenaustausche und die Einrichtung von lokalen Fluchtkorridoren für Zivilisten haben diese Gespräche bislang jedoch keine Ergebnisse erzielt.
Konkret verhandelt wird über die Neutralität und militärische Abrüstung der Ukraine, über Sicherheitsgarantien für das Land, über den Status der russischen Sprache, der Krim und des Donbass sowie über die interpretationsoffene Entnazifizierung der Ukraine. Ende März meldeten Medien zwar, beide Verhandlungsparteien stünden kurz vor einer Einigung. Einen entsprechenden Verhandlungsabschluss gab es jedoch bis heute nicht.
Die Haltung der ukrainischen Staatsführung zu den Verhandlungen hat sich immer weiter verschärft. Präsident Wolodimir Selenskij sei bereit zu Gesprächen über Krim und Donbass, sagte er noch am 8. März. Gegenüber den Außenministern Polens, Tschechiens und Sloweniens versicherte er später schon, die Ukraine werde so lange kämpfen, bis Putin bessere Bedingungen anbiete. Ende April drohte Selenskij, aus den Verhandlungen auszusteigen, wenn seine Landsleute in Mariupol "weiter vernichtet" würden. Anfang Mai machte er einen russischen Truppenabzug zur Vorbedingung für ein Friedensabkommen. Im italienischen Fernsehen sagte er am 12. Mai, Kiew werde die Krim und den Donbass nie als Teil Russlands anerkennen.
Olexij Danilow vom Nationalen Sicherheitsrat der Ukraine erklärte am 2. Mai im ukrainischen Fernsehen sogar, dass es nichts zu verhandeln gebe: „Mit Russland können wir nur dessen Kapitulation unterzeichnen.“ Und Vizeministerpräsidentin Olga Stefanischyna betonte, selbstverständlich halte Kiew weiter am Ziel der NATO-Mitgliedschaft fest.
Auch die russische Seite scheint von den Verhandlungen vorerst nichts mehr zu erwarten. Die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa informierte am 20. April: Russland habe das Vertrauen in die ukrainischen Unterhändler verloren. Wladimir Putin äußerte sich später ganz ähnlich. Für Moskau ist aufgrund der militärischen Lage allerdings auch keine schnelle Verhandlungslösung notwendig.
Die ukrainische Verschleppungstaktik bei den Gesprächen erscheint wegen der sich täglich verschlechternden Situation im Land unlogisch, lässt sich aber vor allem mit externen Faktoren erklären. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erläuterte am 20. April:
"Es gibt Länder innerhalb der NATO, die wollen, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht. Sie sehen in der Fortsetzung des Krieges eine Schwächung Russlands. Die Lage in der Ukraine ist ihnen ziemlich egal."
Kurzfristige Perspektive: Kein Interesse an Kompromissen
Es ist davon auszugehen, dass die Verhandlungen auf absehbare Zeit zu keinem Friedensschluss führen werden. So befremdlich es klingt, aber keine der beiden Seiten kann sich derzeit eine Verhandlungslösung leisten.
Nach den negativen Erfahrungen mit den Maidan- und Minsk-Abkommen kann niemand in Moskau erwarten, dass die ukrainische Staatsführung ehrlich bereit wäre, irgendeine ausgehandelte Übereinkunft umzusetzen. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein Abkommen mit großen ukrainischen Zugeständnissen im Westen anerkannt würde. Russland wird deshalb keine Vereinbarung unterzeichnen, die die Umsetzung zentraler Punkte in den Händen einer extrem vom Westen abhängigen ukrainischen Regierung belässt. Den russischen Sicherheitsinteressen, die ausschlaggebend für diesen Angriff waren, wäre damit nicht gedient.
Da mehrere westliche Staatsführer inzwischen erklärt haben, dass der Krieg in einer Niederlage Russlands enden müsse und sie sich immer stärker in die militärische Unterstützung der Ukraine hineinsteigern, kann auch die pro-westliche Regierung in Kiew derzeit kein Friedensabkommen unterschreiben. Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte die westliche Verweigerungshaltung in seiner Rede am 8. Mai mit den Worten:
"Einen russischen Diktatfrieden soll es nicht geben. Den werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht akzeptieren – und wir auch nicht."
Für Präsident Selenskij persönlich kommt noch ein bedrohlicher interner Faktor hinzu: Die militanten Nationalisten in seinem Land würden ebenfalls keine Verhandlungslösung anerkennen – außer einer bedingungslosen Kapitulation Moskaus inklusive Rückgabe der Krim. Jedes ukrainische Zugeständnis würden sie als Verrat definieren, zumal in der Ukraine seit Kriegsbeginn massiv Siegeshoffnungen geschürt werden. Eine Verhandlungslösung wäre eine ideale Vorlage für ukrainische Rechtsextreme, eine Art Dolchstoßlegende zu konstruieren und die verräterischen Politiker zu entmachten und umzubringen. Da die militanten Nationalisten und ihre Ideologie, den ukrainischen staatlichen Sicherheitsapparat inzwischen auf allen Ebenen durchdrungen haben, wären sie zu solchen Taten in der Lage.
Bleibt Selenskij Präsident?
Für Wolodimir Selenskij geht es also nicht nur um sein Amt, sondern um sein Leben. Dmitro Jarosch, Gründer des Rechten Sektors, drohte in einem Interview 2019 kurz vor Selenskijs Amtseinführung:
„Seine Aussagen über den Frieden um jeden Preis sind gefährlich für uns. (…) Er wird sein Leben verlieren, er wird an einem Baum auf dem Kreschtschatik [zentrale Straße in Kiew] aufgehängt, wenn er die Ukraine und die Menschen betrügt, die in Revolution und Krieg gestorben sind.“
Aller Erfahrung nach würde Russland für solch ein Attentat verantwortlich gemacht werden. Laut Scott Ritter sei es vor allem in russischem Interesse, dass Präsident Selenskij überlebt und im Amt bleibt, denn nur er als legitimer und im Westen inzwischen höchst populärer ukrainischer Staatsführer könne später einen Vertrag mit Moskau unterzeichnen, dem der Westen nicht widersprechen kann. Stirbt Selenskij vorher, würde Ritter zufolge eine ukrainische Exilregierung im Westen gebildet, die alle russischen Vorschläge ablehnen würde.
Der russische Außenminister Lawrow betonte in einem Interview im italienischen Fernsehen:
„Unser Ziel ist nicht der Regime Change in der Ukraine. Das ist die Spezialität der USA.“
Das russische Vorgehen hat sich geändert – die Ziele nicht
Aus der Art des militärischen Vorgehens und den politischen Aussagen zu Beginn des Einmarsches lässt sich ableiten, dass die russische Staatsführung versuchte, ähnlich wie 2008 in Georgien, durch einen überwältigenden, großflächigen Angriff zügig vorzurücken, das bedrohliche, ukrainische Militärpotenzial zu zerstören und mittels dieses Schockmoments schnelle Kapitulationsverhandlungen mit Kiew zu erzwingen. Möglicherweise setzte man in Moskau auf einen raschen Zusammenbruch der ukrainischen Armee, auf eine Art Erhebung der russlandfreundlichen Ostukrainer und auf eine Flucht Selenskis. „Unsere Pläne sehen nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete vor“, sagte Wladimir Putin am 24. Februar.
Da die vermeintlichen Annahmen nicht eintrafen und die Ziele in den ersten Kriegswochen nicht erreicht wurden, hat Russlands Führung die Methoden zur Zielerreichung nun offenbar angepasst – sowohl administrativ als auch militärisch. Eine Besetzung der eroberten ukrainischen Gebiete ist aus Sicht Moskaus offenbar unumgänglich geworden.
In den eroberten südukrainischen Oblasten (vergleichbar mit Bundesländern) Cherson und Teilen Saporoschjes wurden russische Besatzungsverwaltungen eingerichtet. Bezahlt wird dort nun neben dem ukrainischen Griwna auch mit dem Rubel. Einwohner können russische Pässe beantragen, die Internetversorgung läuft jetzt über russische Provider, zudem wird derzeit ein Register für Rentenzahlungen und andere Sozialleistungen aufgebaut. Die Versorgung mit Lebensmitteln läuft über die Krim und Südrussland. In den Schulen wird nun der russische Lehrplan eingeführt. Die Regionen Donezk und Lugansk, in denen vieles davon schon länger so gehandhabt wird, haben ihr Telefonsystem auf die russische Vorwahl umgestellt.
Dass Russland mit all dem erst mehr als einen Monat nach Beginn des Einmarsches begann, ist ein Indiz dafür, dass es ursprünglich nicht vor hatte, diese Regionen zu besetzen. Für Teile der Bevölkerung ist es nichts anderes als eine Befreiung. Dieser Schritt verringert nun jedoch die Zahl der politischen Zukunftsoptionen. Mehrere örtliche Funktionäre sagten bereits, dass es kein Zurück zur Ukraine geben werde. Zuletzt erklärte das am 8. Mai beim Besuch in Cherson auch ein hoher russischer Politiker – der Stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates Andrei Turtschak:
„Russland wird hier für immer sein. Darüber sollten keine Zweifel aufkommen. Eine Rückkehr in die Vergangenheit wird es nicht geben.“
Es ist stark anzunehmen, dass Russland in weiteren neu eroberten Gebieten ebenfalls militärisch-zivile Administrationen einrichtet – und das so lange tun wird, bis die beiden Kriegsziele, Schutz der russlandfreundlichen Bevölkerung und Schutz der russischen Sprache, auch ohne Vertrag erreicht sind.
Mittelfristige Perspektive I: Waffenstillstand und geteiltes Land
Wann stoppt Russland den Vormarsch? Dies könnte in diesem oder im nächsten Jahr geschehen, wenn die russische Armee ein Gebiet eingenommen hat, das das Potenzial hat, wirtschaftlich allein lebensfähig zu sein und politisch von einer eher russlandfreundlichen Bevölkerung dominiert wird. Dieses Gebiet würde von West nach Ost die Oblaste Odessa, Nikolajew, Cherson, Saporoschje, Dnjepropetrowsk, Charkow, Donezk und Lugansk umfassen. Es entspräche ungefähr der historischen Siedlungsregion Neurussland (Noworossija), die im Verlauf des 18. Jahrhunderts vom Russischen Reich gegen Krimtataren und Osmanen erobert und von Russen sowie speziell ins Land geholten Kolonisten, darunter viele Deutsche, besiedelt und im 19./20. Jahrhundert industrialisiert wurde.
In dieser Region befindet sich der Großteil der entwickelten ukrainischen Wirtschaft, die bis zum Maidan-Staatsstreich 2014 sehr eng mit der russischen Ökonomie verzahnt war. Auch alle Handels- und Industriehäfen der Ukraine liegen dort. In diesem Gebiet lebt nicht nur ein sehr großer Anteil russischer Muttersprachler, sondern dort wählten die Menschen seit dem Ende der Sowjetunion und bis 2014 mehrheitlich russlandfreundliche Parteien. Ukrainisch-nationalistische Parteien hatten dort nie eine Chance. Besonders deutlich wurde die politische Spaltung des Landes bei den Präsidentschaftswahlen 2010 und bei den Parlamentswahlen 2012. Nach dem prowestlichen Umsturz 2014 sank die Wahlbeteiligung in den südlichen und östlichen Oblasten der Ukraine auf nur noch 30 bis 50 Prozent.
Ergebnisse der ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2010 | Bild: Wikipedia / Vasyl` Babych / CC BY 3.0
Die Region wäre auch militärstrategisch für Russland attraktiv, denn sie würde die verbliebene Restukraine komplett vom Schwarzen Meer abtrennen und eine direkte Landverbindung von Russland bis zur abtrünnigen moldawischen Region Transnistrien herstellen.
Trotz aller Plausibilität wäre ein solches russisches Vorgehen jedoch mit der Eroberung der Millionenstadt Charkow und mehrerer Großstädte wie Odessa und Dnjepropetrowsk verbunden. Gerade in diese drei Orte wurden nationalistische Bataillone als Garnisonen entsandt, die die Städte genauso „verteidigen“ wollen, wie das Asow-Regiment Mariupol. Diese Eroberungen würden nicht nur unzählige Leben kosten, sondern die Großstädte auch von positiven Wirtschaftsfaktoren in rauchende Trümmerlandschaften verwandeln. Bevor es dazu kommt, bestünde die vorerst letzte Gelegenheit zu ernsthaften Verhandlungen.
Angebot mit Zuckerbrot denkbar
Russland könnte – sobald die Region „Noworossija“ militärisch besetzt und deren Großstädte umstellt sind – seinen Vormarsch und Raketenbeschuss stoppen und Kiew ein letztes Verhandlungsangebot machen. Dies würde einen sofortigen Waffenstillstand, den Austausch aller regulären Kriegsgefangenen sowie einen Evakuierungskorridor für ukrainische Soldaten aus den umstellten Großstädten beinhalten.
Die verbliebene Rumpfukraine, deren Hauptstadt weiterhin Kiew wäre, müsste im Gegenzug jedoch anerkennen, dass die besetzten bisherigen ukrainischen Gebiete vorerst unter russischer Kontrolle verbleiben und auch die bisherigen Verhandlungsinhalte kämen wieder auf den Tisch. Falls sich Kiew dazu bereit erklärt, auf eine NATO-Mitgliedschaft zu verzichten, keine westlichen Soldaten im eigenen Land zu stationieren, sich einer internationalen Abrüstungskontrolle zu unterwerfen und die Krim als russisches Staatsgebiet anzuerkennen, würde solch ein vorläufiger Friedensvertrag zu Stande kommen.
Russland könnte das Angebot ergänzen mit Wiederaufbaukrediten und einem langfristigen Liefervertrag von stark verbilligtem Gas an die Ukraine durch die bestehenden Pipelines. Kiew wiederum hätte die Option, einen Teil dieses Gases zu hohen Preisen als „Freiheitsgas“ an den Westen weiterzuverkaufen und sich dadurch neue Staatseinnahmen in Milliardenhöhe zu verschaffen. Viele dann bereits krisengeschüttelte EU-Staaten dürften solch eine Regelung begrüßen – das Gas könnten sie als „Ukrainisch“ deklarieren und ihre Russland-Sanktionen formell aufrechterhalten.
Vorstellbar wäre zudem, dass die Bevölkerung der russisch besetzten Region, in der sich eine Art Ostukrainische Volksrepublik konstituiert, in einem Referendum nach einem festgelegten Zeitraum (vergleichbar dem Saarland 1935) über seine zukünftige staatliche Zugehörigkeit abstimmt. Bis dahin könnte das besetzte Gebiet formell unter UN-Mandat und faktisch unter militärischen Schutz der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) gestellt werden.
Egal wie solch ein russisches Friedensangebot konkret aussieht, es wird für dessen Erfolg darauf ankommen, wie konstruktiv westliche Regierungen, vor allem die US-Führung, damit umgehen. Allerdings ist es aus weiter oben genannten Gründen nicht realistisch, dass solch ein Angebot von Seiten Washingtons und Kiews in absehbarer Zeit angenommen würde. Dazu müsste der wirtschaftliche, soziale und politische Leidensdruck auf westliche Regierungen wahrscheinlich noch stark ansteigen. Auch wären die sicherheitspolitischen Motive Moskaus mit solch einem Vertrag nur ungenügend erfüllt, da in der Rumpfukraine noch immer militante Russlandfeinde agieren und verdeckt von der NATO aufgerüstet werden könnten.
Mittelfristige Perspektive II: Fortsetzung des Krieges
Deutlich wahrscheinlicher ist deshalb, dass der Krieg in der Ukraine sich noch über Jahre hinziehen wird. Dessen weiterer Verlauf ist aus heutiger Sicht jedoch kaum zu kalkulieren. Anzunehmen ist: Russland wird in der Fläche vorrücken, weitere Großstädte umstellen und die kriegswichtige ukrainische Infrastruktur im Hinterland mit Raketen zerstören. Die NATO-Staaten werden die Ukraine weiterhin mit zahlreichen militärischen und logistischen Tätigkeiten unterstützen, um Russland maximal zu schaden und die Ukraine als Testfeld für eigene militärische Entwicklungen (wie bestimmte neuartige Drohnen) zu nutzen. Zudem benötigen westliche Regierungen weiterhin das Feindbild Russland, um eigene innenpolitische Absichten zu rechtfertigen.
Je länger dieser Zustand andauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass es zu einer Eskalation und Ausweitung des Krieges auf andere Länder – wie Moldawien, Polen oder Weißrussland – und letztlich zu einem neuen Weltkrieg kommt. Eine offizielle Beteiligung der NATO mit eigenen Truppen in der Ukraine ist zwar nicht auszuschließen, aber noch eher unwahrscheinlich und würde den Fortgang absolut unkalkulierbar machen.
Selbst im günstigsten Fall (also ohne NATO-Eingreifen und Weltkrieg), muss sich die russische Staatsführung bewusst sein, dass ihr Vorrücken in die Westukraine zu einem lang anhaltenden, verbissenen Krieg zwischen dem russischen Militär und ukrainischen Nationalisten wie von 1945 bis 1955 führen wird, der immer mehr den Charakter eines Partisanenkrieges annimmt. Anders als in großen Teilen der Süd- und Ostukraine würde Russland in der Westukraine – vor allem in der historischen Region Ostgalizien – von der Bevölkerung nicht wohlwollend begrüßt werden.
Das Dilemma Moskaus: Russland kann kein Interesse daran haben, die westliche Ukraine zu besetzen, da der eigene Schaden sehr groß wäre. Es kann sie aber aus eigenen sicherheitspolitischen Überlegungen auch weder nationalistischen ukrainischen Militärs noch selbsternannten Schutztruppen aus NATO-Ländern überlassen. Hierbei geht es neben der möglichen Stationierung von Mittelstreckenraketen, die auf Moskau zielen, auch um biologische und atomare Bedrohungspotenziale. In den westukrainischen Städten Riwne und Chmelnyzkyj befinden sich beispielsweise Atomkraftwerke. In Lwiw gibt es US-Biolabore. Die militanten Nationalisten müssten klassisch entwaffnet werden, doch es gibt niemanden weder innerhalb noch außerhalb der Ukraine, der das tun würde – außer Russland.
Die Zukunft des gesamten ukrainischen Landesteils zwischen Uschgorod in den Karpaten und Poltawa östlich von Kiew bliebe ein einziges riesiges Fragezeichen.
Langfristige Perspektive: Neuaufteilung bis zum Staatszerfall?
Dementsprechend spekulativ ist es, langfristige Prognosen zur ukrainischen Staatlichkeit zu treffen. Dass es eine Art Neuaufteilung des Staates geben wird, scheint unausweichlich. Derzeit kaum vorstellbar ist allerdings eine Komplettauflösung etwa durch die Einverleibung westukrainischer Gebiete durch Polen, Ungarn oder Rumänien, die zuletzt von verschiedenen Seiten kolportiert wurde. Auch deren Armeen würden von ukrainischen Nationalisten feindselig empfangen werden, langfristige ethnische Konflikte wären vorprogrammiert und die EU-Mitglieder würden dann genau das tun, was man Russland vorwirft. Nicht zuletzt könnte es dadurch zum Dritten Weltkrieg kommen.
Die langfristige Neuaufteilung wird sich wie oben dargelegt eher in den östlichen und südlichen Regionen manifestieren. Eine russische Rückgabe des blutig eroberten Gebietes ist – genauso wie eine innerukrainische Föderalisierung – realpolitisch kaum noch denkbar. All die Zerstörungen, das Leid und die Verluste des Krieges wären weder den Menschen in Russland noch den russlandfreundlichen Bewohnern in der Ukraine vermittelbar, wenn sich die Armee wieder zurückzieht und Kiew das Feld überlässt.
Ob aus dem verbliebenen ukrainischen Binnenstaat ein permanentes Kriegsgebiet oder ein neutraler, entmilitarisierter Pufferstaat mit teilsouveräner Zukunft wird, hängt auch von der Bereitschaft des Westens ab, die russischen Sicherheitsinteressen anzuerkennen und in der Ukraine nicht mehr militärisch und geheimdienstlich aktiv zu sein. Dazu müssten allerdings die EU-Europäer den US-Einfluss auf dem Kontinent zurückdrängen und selbstbestimmt in Verhandlungen mit Moskau eintreten. Dies erscheint jedoch höchst illusorisch. Derzeit geschieht das genaue Gegenteil.
Kommt es in den kommenden Jahren zu keiner friedensvertraglichen Einigung bleibt nach langen Kämpfen ein russischer Vormarsch in der Ukraine bis zur NATO-Grenze denkbar. Einige ukrainische Publizisten wie der russlandfreundliche Politblogger Juri Podoljaka, der den Krieg im Februar voraussagte, gehen davon aus, dass Wladimir Putin die Ukraine in die Eurasische Zollunion integrieren möchte – und zwar die gesamte Ukraine.
Anzunehmen ist jedenfalls, dass Russland nicht bereit sein wird, dem Westen aktive Gestaltungsmacht über die Zukunft der Ukraine einzuräumen. Das verbieten die russischen Sicherheitsinteressen und die historischen Erfahrungen neuerer und älterer Art. Zuletzt als Russland sich die Neuordnung der Region von einer westlichen Macht diktieren lassen musste – im Friedensvertrag von Brest-Litowsk (Anfang 1918) – wurden die Ideen des zu Beginn zitierten Paul Rohrbach teilweise umgesetzt. Die Ukrainer traten bei den damaligen Verhandlungen übrigens ähnlich forsch und undiplomatisch auf wie der heutige ukrainische Botschafter in Deutschland. (6)
Möglicherweise erleben wir jetzt, wie Russland die damalige Neugestaltung der Region, die bis heute grundsätzlich bestehen blieb, nun teilweise rückgängig macht. Vor diesen langfristigen Effekten warnten andere geopolitische Publizisten übrigens auch schon im Ersten Weltkrieg. So argumentierte der deutsch-österreichische Offizier und Schriftsteller Albert Ritter in einer Denkschrift (7):
„Jeder Politiker wäre auf dem Irrwege, der die östliche Gefahr zu bannen oder zu verringern vermeinte durch Wegnahme russischer Gebiete (…). Jede Abtrennung eines großen Stückes schüfe einen unhaltbaren Zustand, da Rußland es heimholen müßte. Jeder Auflösung des Reiches würde nach furchtbaren Stürmen wieder ein Zusammenschluß in irgend einer Form folgen.“
Weitere Artikel zum Thema:
- Inhaltliche Entleerung (Marcus Klöckner, 11.5.2022)
- Krieg in der Ukraine – Schwarze Tage Europas (27.2.2022)
Anmerkungen
(1) Zitiert nach Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 1914 – 1939. (Paderborn, 2010), Seite 43.
(2) Siehe Jörg Kronauer: Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg. (Köln, 2018), Seite 27ff.
(3) Zitiert nach Golczewski, Seite 44. Im Ersten Weltkrieg riet Rohrbach dazu, die ukrainische Nationalbewegung zu nutzen, um Russland zu „zertrümmern“. (47) Der österreichische Konsul Emanuel Urbas schlug bereits im August 1914 vor, einen ukrainischen Staat bis zum Don zu schaffen, um Russlands Macht zu brechen und Österreich zu sichern. (87) Die finanzielle Unterstützung der ukrainischen Nationalbewegung begann ebenfalls in dieser Zeit: Im September 1914 zahlten Wien und Berlin gemeinsam eine Million Reichsmark für ukrainische Propagandamittel. (71)
(4) Nicht zu vergessen ist dabei, dass nach russischen Angaben bereits mehr als eine Million Ukrainer nach Russland geflüchtet sind. Dieser Beitrag der Krim-Nachrichten zeigt Kinder aus Donezk, die nach Sewastopol kommen, um endlich wieder ohne Raketenbeschuss in die Schule gehen zu können. Nach wie vor werden die Donbassflüchtlinge in westlichen Leitmedien ignoriert. Für diese Menschen dauert der Krieg bereits acht Jahre. Viele der Kinder und Jugendlichen aus dieser Region können sich an eine Zeit ohne Krieg gar nicht erinnern.
(5) Wolodimir Strok, Bürgermeister der Kleinstadt Kreminna, wurde aus seinem Haus entführt und erschossen. Zuvor hatte er seine Kollegen in anderen Städten zu Verhandlungen mit der russischen Armee aufgefordert. Wenige Tage später wurde Juri Prylipko der Bürgermeister des Kiewer Vororts Hostomel ermordet, da er mit dem russischen Militär über einen Fluchtkorridor für die Bürger seiner Stadt verhandelt hatte. Elf weitere „pro-russische“ Bürgermeister seien vermisst, berichtete das Magazin The Grayzone. Die Bürgermeister Gennadi Mazegora (Kupjansk) und Iwan Stolowoi (Balaklija) wurden von ukrainischen Staatsanwaltschaften wegen Hochverrats angeklagt, da sie die russische Armee kampflos durch ihre Kleinstädte bei Charkow hatten fahren lassen – nachdem das ukrainische Militär bereits geflüchtet war.
(6) Die Führung der Ukrainischen Volksrepublik, die sich erst wenige Tage zuvor unabhängig von Moskau erklärt hatte, schickte zwei Studenten nach Brest-Litowsk, um ein separates Abkommen mit den Mittelmächten auszuhandeln. Den Aussagen der deutschen und österreichischen Delegationsmitglieder zufolge traten die Ukrainer sehr fordernd und selbstbewusst auf. Sie hätten die Verhandlungen geführt, als wären sie die Siegerpartei und forderten Landgewinne für den ukrainischen Staat auf Kosten Polens gegen Getreidelieferungen ein. Der österreichische Außenminister Ottokar Graf Czernin schrieb: „Die Ukrainer verhandeln nicht mehr, sie diktieren!“ (zitiert nach Golczewski, Seite 187)
(7) Zitiert nach Golczewski, Seite 223.
Diskussion
8 Kommentare