Inhaltliche Entleerung
MARCUS KLÖCKNER, 11. Mai 2022, 9 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Der Einstieg in die Rede erfolgt in einem Ton der Demut:
„Heute vor 77 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Das Schweigen der Waffen am 8. Mai 1945 glich einer Friedhofsruhe – über den Gräbern von mehr als 60 Millionen Frauen, Männern und Kindern. Millionen von ihnen sind auf den Schlachtfeldern gefallen. Millionen sind in ihren Städten und Dörfern, in Konzentrations- oder Vernichtungslagern ermordet worden. Deutsche haben dieses Menschheitsverbrechen verübt.“
Der Eindruck entsteht, hier redet ein Kanzler, der Schuld und Verantwortungsübernahme nicht von sich schiebt. Zwischen den Zeilen kommuniziert Scholz die Botschaft eines Kanzlers mit ausgeprägtem Rechtsbewusstsein. All das weckt Vertrauen.
„Umso schmerzhafter ist es mitzuerleben, wie heute, 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erneut rohe Gewalt das Recht bricht, mitten in Europa. Wie Russlands Armee in der Ukraine Männer, Frauen und Kinder umbringt, Städte in Schutt und Asche legt, ja selbst Flüchtende angreift. Für mich ist dies ein 8. Mai wie kein anderer. Deshalb wende ich mich heute an Sie.“
Im zweiten Absatz knüpft Scholz an die aufgebaute Inszenierung an. Demut, Einsicht, Rechtsbewusstsein erscheinen als geistige Grundhaltung, die hinter den Worten des Kanzlers stehen. Doch schon zu Beginn dieses Abschnitts beginnt Scholz mit einem Haltungswechsel. Er gleitet langsam in die Rolle des Anklägers, spricht davon, dass „erneut rohe Gewalt das Recht bricht“.
Der Ausdruck „schmerzhaft“ entfaltet eine emotionale Wirkung, der Leser soll den Eindruck haben, Scholz durchlebe selbst „Schmerzen“ beim Anblick des Krieges in der Ukraine. Scholz wird als ein „mitfühlender Mensch“ sichtbar. Wie die vorangegangenen Aussagen, dient auch dieser Redeabschnitt dazu, Sympathie bei den Adressaten hervorzurufen.
An dieser Stelle beginnt ein manipulatives Element sich zu entfalten.
„Rohe Gewalt“, die „das Recht bricht“ – den Zuschauern, die die Nachrichten verfolgt haben, ist klar, für welches Subjekt „Gewalt“ steht. „Russland“ beziehungsweise „die russische Armee“ hat Recht gebrochen und erzeugt Gewalt. Das ist zwar richtig, aber weder an dieser Stelle noch im weiteren Verlauf der Rede geht Scholz auf die schweren Völkerrechtsbrüche innerhalb und außerhalb Europas ein, die die USA und die NATO begangen haben. Der Völkerrechtsbruch im Hinblick auf die illegale Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, unter Unterstützung durch Scholz‘ eigener Partei, blendet der Kanzler aus. Russland steht als alleiniger „Gewaltverbrecher“ da. Diese Einseitigkeit in den Ausführungen des Kanzlers ist als manipulativ zu werten.
Es folgt der Satz: „Wie Russlands Armee in der Ukraine Männer, Frauen und Kinder umbringt, Städte in Schutt und Asche legt, ja selbst Flüchtende angreift.“ Zunächst fällt auf, dass Scholz ohne konkrete Belege und pauschalisierend davon spricht, dass russische Soldaten Männer, Frauen, Kinder und Flüchtende umbringen. Auch wenn angenommen wird, dass es von russischer Seite tatsächlich Übergriffe und Morde an unschuldigen Zivilisten gegeben hat, ist Scholz‘ Aussage durch Einseitigkeit realitätsverzerrend. Auch von ukrainischer Seite, sind, wie es scheint, schwere Verbrechen begangen worden. Man denke hierbei an die gefangen genommenen russischen Soldaten, denen in die Beine geschossen wurde; man denke an die bestialisch gefolterte und ermordete Frau, die mit einem auf den Bauch geschlitzten Hakenkreuz gefunden wurde.
Es gilt zu berücksichtigen, dass saubere, das heißt nicht kriegspropagandistisch kontaminierte Informationen schwer zu finden sind. Vieles, was an Vorwürfen von der einen oder anderen Seite vorgebracht wird, kann nicht unabhängig verifiziert werden. Wer tatsächlich welche Verbrechen wann, wie und unter welchen Umständen begangen hat, müsste Gegenstand unvoreingenommener Ermittlungen sein. Scholz blendet solche Überlegungen aus. Er hat seine Wahrheit gefunden. Der Kanzler setzt an dieser Stelle erneut auf „Emotionen“, in dem er von umgebrachten „Frauen“, „Kindern“ und „Geflüchteten“ spricht. Dadurch erscheint die russische Armee als besonders grausam. Erinnert sei an die Aussage der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright. In einem CBS-Interview im Jahr 1996 wurde sie darauf angesprochen, dass aufgrund der verhängten Sanktionen gegenüber dem Irak etwa 500.000 irakische Kinder gestorben seien. Sie sagte daraufhin, es sei die Sache „wert gewesen“. Erneut gilt festzuhalten: Die Verbrechen jener Seite, auf der der Bundeskanzler steht, findet bei ihm keine Erwähnung.
„Wir können nicht an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa erinnern, ohne der Tatsache ins Auge zu sehen: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Russland hat diesen Krieg entfesselt. Einst kämpften Russen und Ukrainer gemeinsam unter größten Opfern, um Deutschlands mörderischen Nationalsozialismus niederzuringen. Deutschland hat sich damals schuldig gemacht, an beiden Nationen, der russischen wie der ukrainischen. Mit beiden streben wir seit Jahrzehnten nach Aussöhnung. Nun jedoch will Russlands Präsident Putin die Ukraine unterwerfen, ihre Kultur und ihre Identität vernichten.“
Scholz beginnt durch die Verwendung der ersten Person Plural („wir“) die Adressaten der Rede miteinzubeziehen. Der Kanzler spricht aus der Rolle eines Mannes, der sich der Realität stellt („der Tatsache ins Auge sehen“). Scholz benennt Russland als Verantwortlichen und Schuldigen des Krieges („Russland hat den Krieg entfesselt“). Der Kanzler blendet aus:
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den Sturz der ukrainischen Regierung 2014
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das Verbrechen in Odessa 2014
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den Kampf der ukrainischen Regierung gegen die russischsprachige Bevölkerung in der Konfliktregion mit über 13.000 Toten auf beiden Seiten seit 2014 bis zum Februar 2022
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die Ausbildung ukrainischer Soldaten durch die USA
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das Agieren der CIA in der Ukraine - seit Jahren
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geostrategische Interessen des Westens, insbesondere der USA
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die Bedeutung der Ukraine für Russland aus der Perspektive der Sicherheitsinteressen
Erneut rekurriert Scholz auf die historischen Ereignisse des 2. Weltkriegs, spricht offen an, dass sich Deutschland sowohl an der Ukraine als auch an Russland schuldig gemacht habe, dass Deutschland sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland „Aussöhnung“ suche. Diese Stelle verbindet einen wahren – das heißt nachweislich überprüfbaren – Sachverhalt (die Aussöhnung) mit einer unterschwelligen Botschaft. Deutschland will Aussöhnung, aber diese scheitert an Russland, so das in einer Klammer Kommunizierte.
Wieder unterschlägt der Kanzler dabei für das deutsch-russische Verhältnis zentrale Sachverhalte. Einerseits existiert tatsächlich von deutscher Seite eine Politik der Aussöhnung, gleichzeitig ist es ein offenes Geheimnis, dass die deutsche Politik mit der Aussöhnung nicht „zu weit“ gegangen ist. Die ausgestreckte Hand Putins in seiner Rede im Bundestag wurde nicht angenommen. Selbst in den Zeiten nach dem Kalten Krieg und insbesondere in den 2000er Jahren bis zur Krise in der Ukraine 2014 hat Deutschland Russland immer wieder distanziert behandelt. Echte Versöhnung, die konsequenterweise vielleicht auch in eine belastbare Freundschaft übergeht, sieht anders aus. Der Grund für dieses argwöhnische Verhalten von deutscher Seite liegt darin, dass Russland von den USA als Gegner betrachtet wird. Scholz unterschlägt, wie angespannt das Verhältnis trotz einer vordergründigen Aussöhnung und Entspannung im Grunde genommen immer war. Er unterschlägt ebenso die massive Stimmungsmache sowohl von politischer als auch medialer Seite gegen Russland seit den Entwicklungen in der Ukraine 2014.
Weiter spricht Scholz davon, dass Russland die Ukraine „unterwerfen, ihre Kultur und Identität vernichten“ wollen. Vom Kulturkampf der Ukraine gegen das Russische im Land sagt er nichts. Anfang des Jahres ist in der Ukraine ein Gesetz in Kraft getreten, durch das die Regierung beabsichtigt, die russische Sprache zurückzudrängen.
„Präsident Putin setzt seinen barbarischen Angriffskrieg sogar mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gleich. Das ist geschichtsverfälschend und infam. Dies klar auszusprechen, ist unsere Pflicht. Doch damit ist es nicht getan. Es war der militärische Sieg der Alliierten, der der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland ein Ende setzte. Wir Deutsche sind dafür bis heute dankbar! Daher konnte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 vom 8. Mai als 'Tag der Befreiung' sprechen.“
In diesem Abschnitt der Rede streift Scholz indirekt die Motivationslage Russlands. Putin, sagt Scholz, setze den Krieg in der Ukraine mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gleich. Warum genau Putin diese Gleichsetzung vornimmt, sagt er nicht. Kein Wort des Kanzlers über real vorhandene Nazis in der Ukraine. Kein Wort von den Einflüssen des rechten Sektors in der Politik. Stattdessen ein belehrender Ton, der nicht einmal ansatzweise die Mühe erkennen lässt, zu verstehen, welche Bedenken Russland im Hinblick auf die Nazis in der Ukraine hat. Gerade auch im Hinblick auf die Millionen Russen, die im 2. Weltkrieg ums Leben gekommen sind – das heißt: Russen, die von Nazis getötet wurden – mutet Scholz‘ Aussage respektlos an. Darf ein Land, dass 27 Millionen Menschen durch das Wirken des Nationalsozialismus verloren hat, nicht besonders sensibel, vielleicht sogar hypersensibel auf Nazi-Umtriebe in der Nähe reagieren? Darf ein Land also, dass eine Leidenserfahrung wie Russland machen musste, den Kampf gegen die Nazis in der Ukraine nicht mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gleichsetzen?
Es geht wohlgemerkt an dieser Stelle nicht um die Frage, ob der Vergleichs Putins nun objektiv angebracht ist, oder nicht. Und es geht auch nicht darum, ob dieser Vergleich nur dazu dient, unedle Motive Russlands zu verschleiern. Es geht nur darum anzuerkennen, dass man Opfern – und das war Russland – eine eigene Betrachtungsweise zugestehen sollte. Von der demütigen Haltung, die Scholz zu Beginn der Rede einnimmt, ist an dieser Stelle nichts mehr zu sehen.
„Aus der katastrophalen Geschichte unseres Landes zwischen 1933 und 1945 haben wir eine zentrale Lehre gezogen. Sie lautet: 'Nie wieder!' Nie wieder Krieg. Nie wieder Völkermord. Nie wieder Gewaltherrschaft. Und doch ist es wieder passiert – Krieg in Europa. Darauf hat der ukrainische Präsident Selenskyj heute hingewiesen. In der gegenwärtigen Lage kann dies nur bedeuten: Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor.“
Das Stilmittel Repetitio – Wiederholung – bestimmt diesen Abschnitt der Rede. Drei Mal sagt Scholz: „Nie wieder!“ und will damit verstärkt zum Ausdruck bringen, wie wichtig ihm, aber auch der Bundesrepublik der Frieden ist. Erneut inszeniert sich Scholz als ein moralisch integrer Kanzler, dessen Positionierung für den Frieden und gegen den Krieg keinen Zweifel aufkommen lassen soll.
Im nachfolgenden Satz („Und doch ist es wieder passiert – Krieg in Europa.“) verdichtet sich wie unter einem Brennglas eine zutiefst doppelzüngige und verlogene Politik Deutschlands gegenüber Russland. Wie oben schon angesprochen versteht es Scholz Russland entweder allein die Schuld für den Krieg zu geben oder aber, wie hier, die konkret handelnden Subjekte durch den Gebrauch des „Neutrums“ zu verschleiern.
Im Zusammenhang mit dem zuvor in der Rede benannten Schuldigen, also Russland, entsteht der Eindruck, dass der Krieg quasi aus einer russischen Selbstzeugung entstanden ist. Tiefenpolitische Einflüsse vonseiten der USA, ihre geostrategischen Interessen, die Rolle der ukrainischen Regierung im Hinblick auf eine Verhinderung des Krieges, macht der Kanzler unsichtbar.
„In der gegenwärtigen Lage kann dies nur bedeuten: Wir verteidigen Recht und Freiheit – an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor.“
Zuerst spricht Scholz von „Nie wieder Krieg“, um dann letztlich, auch wenn er es nicht so nennt, eine Beteiligung am Krieg auszusprechen. Dabei nimmt er Deutschland durch die Verwendung des Wörtchens „wir“ voll mit in den Kampf. „Wir“ sagt Scholz, „unterstützen den Kampf gegen den Aggressor.“ Laut Umfragen sind etwa die Hälfte der Bundesbürger gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Hier von einem „wir“ zu sprechen verbietet eigentlich der demokratische Anstand.
Schließlich tauchen in der Rede auch jene Begriffe auf, die wohl immer in Kriegsreden auftauchen: „verteidigen“, „Recht“ und „Freiheit“ – Worte, die längst zu leeren Signifikaten geworden sind. Das heißt: Alle direkten oder indirekten Kriegsparteien nehmen sie in den Mund und laden sie so inhaltlich auf, wie es ihnen passt. Russland kämpft für „Recht“ und „Freiheit“, die Ukraine kämpft für „Recht“ und „Freiheit“ und Deutschland und die NATO sowieso.
Scholz ersetzt das Wort Russland durch den Begriff „Aggressor“. Deutlich wird, wie sich auch in der Rede der Konflikt zwischen Deutschland und Russland verschärft.
„Das nicht zu tun, hieße zu kapitulieren vor blanker Gewalt – und den Aggressor zu bestärken. Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann. Daher haben wir in den vergangenen Tagen und Wochen weitreichende und schwierige Entscheidungen getroffen – zügig und entschlossen, durchdacht und abgewogen.“
Wieder bringt sich Scholz in die Position des aufrichtigen Retters, der aus einer Gewissensverpflichtung nicht anders zu können scheint, als den Angegriffenen zu helfen.
Diese Positionierung erscheint in Anbetracht des russischen Angriffskrieges zunächst verständlich. Doch zum wiederholten Male baut Scholz auf eine verkürzt vorgetragene Geschichte. Die Tatsache, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA/NATO und Russland handelt, spricht Scholz nicht an. Die Beachtung der realen Situation, das heißt, nicht die Situation, die aus einem propagandistischen Narrativ entsteht, würde in der Konsequenz zu einer ganz anderen Bewertung des eigenen Handelns führen müssen.
„Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann“, ist eine Aussage, die wieder einen Realitätsbruch erkennen lässt. Ohne Unterstützung von westlicher Seite hätte die Ukraine schon längst kapituliert. Die massive, entfesselte Gewalt des Krieges, so wie sie jetzt zu beobachten ist, hätte es bei einer Kapitulation der Ukraine nicht gegeben – das ist eine nüchterne Feststellung, keine Wertung. Mit anderen Worten: Die Gewalt, die Scholz beenden will, hängt auch mit der massiven Gegenwehr der Ukraine zusammen, die von westlicher Seite ausgebildet und mit Waffen ausgestattet wird.
„Wir haben nie dagewesene Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und die russische Führung verhängt, um Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Mit offenen Armen haben wir hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Hunderttausende, die vor der Gewalt in ihrer Heimat bei uns Zuflucht finden. Hilfsorganisationen leisten erste Unterstützung, Schulen und Kitas richten Willkommensklassen ein, Bürgerinnen und Bürger nehmen Geflüchtete bei sich zuhause auf. Für diese enorme Hilfsbereitschaft überall in unserem Land danke ich Ihnen von Herzen! Und – wir haben erstmals überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik Waffen in ein solches Kriegsgebiet geschickt, in großem Umfang – und immer sorgfältig abwägend auch schweres Gerät. Das setzen wir fort.“
In diesem Abschnitt versucht Scholz das Solidaritätsgefühl zwischen Deutschen und Ukrainern zu stärken. Scholz bedankt sich bei den Bundesbürgern für die Unterstützung der vom Krieg Geflüchteten und verknüpft mit dieser emotional aufgeladenen Passage die zentrale Information, dass die Bundesregierung zum ersten Mal in der Geschichte des Landes auch schwere Waffen in ein Kriegsgebiet schickt. Das Schicksal der vom Krieg vertriebenen Ukrainer dient zur moralischen Legitimation der Waffenlieferungen.
Scholz verwebt die als positiv zu bewertende Hilfe der Bundesbürger für die Kriegsflüchtlinge mit der hochumstrittenen Entscheidung, Waffen für den Krieg zu liefern. Der Eindruck entsteht, als seien Waffenlieferungen, durch die letztlich russische Soldaten ums Leben kommen werden, gleichzusetzen mit der Hilfe, wie sie die Bürger den geflüchteten Ukrainer zukommen lassen. Scholz vermischt echte Hilfe mit zerstörerischer „Hilfe“. Diese Verbindung der einen Hilfe mit der anderen wird auch grammatikalisch durch das Bindewort „und“ sichtbar. Obwohl die Waffenlieferungen von deutscher Seite an die Ukraine hochumstritten sind, führt Scholz diese zentralen Aussagen so an, als ginge es um eine Nebensächlichkeit, die sich noch schnell durch eine Konjunktion an einen vorangegangenen Satz anhängen lässt. Anders gesagt. Scholz schiebt die Aussagen in Sachen Waffenlieferungen regelrecht unter die Hilfsbereitschaft der Bundesbürger.
Erstaunlich ist, wie der Kanzler sozusagen im „Vorbeigehen“ die Waffenlieferungen anspricht und dabei einen jahrzehntelangen Konsens, wonach keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern sind, einfach übergeht. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir brauchen eine abrüstungspolitische Offensive und wollen eine führende Rolle bei der Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen und Nichtverbreitungsregimes einnehmen (…) Für eine restriktive Rüstungsexportpolitik brauchen wir verbindlichere Regeln und wollen daher mit unseren europäischen Partnern eine entsprechende EU-Rüstungsexportverordnung abstimmen. Wir setzen uns für ein nationales Rüstungsexportkontrollgesetz ein. (…) Wir erteilen keine Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Staaten, solange diese nachweislich unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind.“
„Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr diese Entscheidungen viele von Ihnen bewegen. Schließlich geht es buchstäblich um Krieg und Frieden. Um unsere historische Verantwortung. Um maximale Solidarität mit der angegriffenen Ukraine. Um die Sicherheit unseres Landes und unseres Bündnisses. Diese Ziele miteinander in Einklang zu bringen – dieser Aufgabe stellen wir uns Tag für Tag. Dass wir als Land über Fragen solcher Tragweite intensiv miteinander diskutieren, ist gut und legitim. Zur Demokratie gehört auch, solche Kontroversen in 'Respekt und gegenseitiger Achtung' zu führen. Darauf hat der Bundespräsident in seiner Rede heute Morgen zu Recht hingewiesen. Aus vielen Äußerungen, die ich dieser Tage höre, spricht ernste Sorge. Sorge auch davor, dass sich der Krieg ausweitet, dass der Frieden auch bei uns in Gefahr geraten könnte. Es wäre falsch, das einfach abzutun. Solche Sorgen müssen ausgesprochen werden können. Gleichzeitig gilt: Angst darf uns nicht lähmen.“
Scholz visiert die Bundesbürger an, versucht ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass er ihre Sorgen vor einer „Ausweitung des Krieges“ ernst nimmt. Doch das einzige, was der Kanzler diesen Sorgen entgegensetzt ist eine abgegriffene Parole: „Angst darf uns nicht lähmen.“ In der Qualität steht diese Aussage in einer Linie mit den weiter oben angeführten instrumentell verwendeten Begriffen von „Recht“ und „Freiheit“. Ihrer inhaltlichen Entleerung folgt die propagandistische Aufladung. Die Parole „Angst darf uns nicht lähmen“ stellt sich in die Tradition von Durchhalteparolen, wie sie in allen Kriegen vorkommen.
„Ich habe Ihnen geschildert, was wir tun, um Recht und Freiheit zu verteidigen in der Ukraine und in ganz Europa. Das ist sehr viel. Und zugleich tun wir nicht einfach alles, was der eine oder die andere gerade fordert. Denn: Ich habe in meinem Amtseid geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Dazu zählt, unser Land und unsere Verbündeten vor Gefahren zu schützen. Vier klare Grundsätze folgen daraus für die Politik: Erstens: Keine deutschen Alleingänge! Was immer wir tun, stimmen wir auf das Engste mit unseren Bündnispartnern ab – in Europa und jenseits des Atlantiks. Zweitens: Bei allem, was wir tun, achten wir darauf, unsere eigene Verteidigungsfähigkeit zu erhalten! Und: Wir haben entschieden, die Bundeswehr deutlich besser auszustatten, damit sie uns auch in Zukunft verteidigen kann. Drittens: Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland. Und viertens: Wir werden keine Entscheidung treffen, die die Nato Kriegspartei werden lässt. Dabei bleibt es!
Dass es keinen Weltkrieg mehr geben soll – erst recht keinen zwischen Nuklearmächten – auch das ist eine Lehre des 8. Mai. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich kann Ihnen heute noch nicht sagen, wann und auf welche Weise Russlands grausamer Krieg gegen die Ukraine enden wird. Klar ist aber: Einen russischen Diktatfrieden soll es nicht geben. Den werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht akzeptieren – und wir auch nicht. Selten standen wir mit unseren Freunden und Partnern so geschlossen und geeint da wie heute. Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen. Freiheit und Sicherheit werden siegen – so wie Freiheit und Sicherheit vor 77 Jahren über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur triumphiert haben. Dazu nach Kräften beizutragen, das bedeutet heute 'Nie wieder'! Darin liegt das Vermächtnis des 8. Mai.“
Dieser Schlussteil der Rede erinnert stark an „Doppeldenk“ oder „Zwiedenken“, das George Orwells in seinem dystopischen Roman 1984 eingeführt hat. Auf Wikipedia heißt es dazu: „Durch dieses propagierte Denken, bei dem zwei widersprüchliche oder sich gegenseitig ausschließende Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren sind, setzt die herrschende Kaste die Gesetze der Logik außer Kraft. Dadurch wird das Denken der Parteimitglieder schwammig und in Zweideutigkeit gehalten, wodurch schnelle Kurswechsel des Regimes auf eigentümliche Weise sofort akzeptiert werden können, auch wenn es sich dabei um das genaue Gegenteil der zuvor noch 'gültigen Wahrheit' handelt, etwa bei abrupten Wechseln der Feindbilder oder der politischen Losungen.“
Scholz sagt er will:
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Recht und Freiheit in der Ukraine und ganz Europa verteidigen
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nicht alles tun, was „die ein oder anderen gerade fordern“
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getreu seinem Amtseid, „Schaden vom deutschen Volk abwenden“.
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„unser Land und unsere Verbündeten vor Gefahren“ schützen
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keine Deutschen Alleingänge
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Verteidigungsfähigkeit erhalten
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Bundeswehr deutlich besser auszustatten
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nichts „unternehmen, was unseren Partnern mehr schadet als Russland“
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keine Entscheidungen treffen, „die die NATO Kriegspartei werden lässt“
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keinen Weltkrieg
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keinen russischen „Diktatfrieden“
Zusammengefasst: Scholz will keinen Krieg, er wird aber auch nicht akzeptieren, dass Russland gewinnt. Scholz will die Ukraine und ganz Europa „verteidigen“, er will aber auch nicht, dass die NATO Kriegspartei wird. Er will Deutschland und den Deutschen keinen Schaden zufügen, verhängt aber anti-russische Sanktionen, die vielen Menschen in Deutschland Schaden zufügen. Anders ausgedrückt: Die Aussagen widersprechen sich massiv. Dass ein Kanzler damit öffentlich durchkommt, ist ein alarmierendes Zeichen.
Quelle: Fernsehansprache von Olaf Scholz am 8. Mai 2022 in der ARD (Transkript)
Über den Autor: Marcus Klöckner, studierte Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Er ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien sein Buch: „ Zombie-Journalismus – Was kommt nach dem Tod der Meinungsfreiheit?“. Als Mitherausgeber initiierte er 2019 eine Neuausgabe des Klassikers der herrschaftskritischen Soziologie „Die Machtelite“ von C. Wright Mills.
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