Ein Minenwarnschild in der Region Cherson, Juni 2023 | Bild: picture alliance / AA | Svitlana Horieva

Die Grenzen des Grenzlandes

Die territoriale Gestalt des ukrainischen Staates ist ein Kernpunkt des aktuellen Krieges mit Russland. Allerdings sind Grenzkonflikte historisch nichts Neues in dieser Region. In den beiden Weltkriegen war die Ukraine immer Expansions- und Kampfzone der Kriegsparteien gewesen. Zudem lassen die Schatten der älteren Vorgängerstaaten auch innerhalb der Ukraine ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Phantomgrenzen bis heute wirksam bleiben. Statt die Vielfalt zu nutzen, und das Land als Brücke zwischen Ost und West zu begreifen, steuerten die Nach-Maidan-Regierungen auf streng nationalistischem Kurs. Die Chancen, die die Auflösung der Sowjetunion 1991 für die Ukraine barg, sind nach fast zehn Jahren Krieg verspielt.

ANDREA KOMLOSY, 25. September 2023, 23 Kommentare, PDF

Der engere Grenzkonflikt zwischen der Ukraine und der Russländischen Föderation betrifft die zukünftige Gestalt der Ukraine. Für die ukrainische Führung besteht kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Staatsgrenzen von 1991. Tatsächlich ist die Annexion der Oblaste Donezk, Luhansk/Lugansk, Cherson und Saporischschja/Saporoschje durch Russland völkerrechtswidrig. Der russländische Schutzanspruch für diese Oblaste beruft sich auf den Wunsch der abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Diese sahen mit dem verfassungswidrigen Regimewechsel in Kiew am 22. Februar 2014, der anti-russischen Sprachpolitik und dem Krieg der ukrainischen Armee im Verbund mit irregulären rechtsradikalen Milizen die Grundlage für die Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat nicht mehr gegeben. (1)

Dass sich dieser Schutz, der zuerst zur staatlichen Anerkennung und schließlich zur Annexion führte, auf Gebiete erstreckt, die außerhalb der Reichweite der volksrepublikanischen Macht liegen, deute ich als Überschreitung des Schutzes. Nachträglich herbeigeführte Referenden unter Kriegsbedingungen können diese nicht legitimieren. Aus der Grenzüberschreitung bei der Annexion der volksrepublikanischen Territorien eine generelle Absicht der russländischen Armee abzuleiten, die gesamte Ukraine geschweige denn andere sowjetische Nachfolgestaaten zu erobern, entbehrt dennoch jeder Evidenz. Der Vorwurf fügt sich in die bereits von englischer Seite im Ersten Weltkrieg geprägte und seither seitens westlicher sowie von NS-Politikern beständig wiederholte Metapher von der „eisernen russischen Dampfwalze“ ein, die unerbittlich nach Westen strebe; diese russophobe Unterstellung prägt die westliche Haltung zum russländischen Staat heute wieder.

Der Grenzkonflikt im weiteren Sinn ist Teil der verflochtenen Geschichte, die Zugehörigkeit des „Grenzlandes“ (Kern des Begriffs Ukraine) zu definieren. Der historische Ursprung des Begriffs Ukraina liegt in den Überfällen tatarischer Reiterkrieger aus dem Süden und Osten. Im Rahmen der konkurrierenden polnisch-litauischen und russländischen Herrschaftsansprüche (16. bis 18. Jahrhundert) zeichneten sich unterschiedliche Regelungen der Zugehörigkeit ab.

Kosakentum als Kern ukrainischer Staatlichkeit?

Die vorübergehende Autonomie des Kosaken-Hetmanats mit dem Kerngebiet der Sitsch, das sich in der Region Saporoschje am Dnjepr befand, wird von der ukrainischen Nationalgeschichte heute als Kern ukrainischer Staatlichkeit angesehen. In eine nationalgeschichtliche Perspektive lassen sich die Bemühungen der freien Adeligen und Wehrbauern des russisch-polnischen Grenzgebiets (Kosaken) um Eigenständigkeit nicht einbauen, zu häufig wechselten über die Jahrhunderte ihre Oberherren, Allianzpartner und Spielräume. Aber auch untereinander herrschte Uneinigkeit über die Ausrichtung, sodass das Kosaken-Gebiet in eine rechtsufrige Einheit unter polnischer und eine linksufrige Einheit unter russländischer Patronanz zerfiel (mit dem Fluss Dnjepr als Orientierungslinie).

Ilja Repin: Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief | Russisches Museum, Sankt Petersburg

Der Vertrag von Perejaslaw (1654), mit dem sich die Kosaken-Führung in der Auseinandersetzung mit Polen der russländischen Oberhoheit unterstellte, kann jedoch ebenso wenig im gesamtrussländischen Sinn gedeutet werden. Er spiegelt vor allem das Bemühen der Kosaken um größere Autonomie wider, war allerdings nur von kurzer Gültigkeit. Der Vertragsschluss wurde vom Obersten Sowejt der UdSSR 300 Jahre später, 1954, zum Anlass genommen, der Ukrainischen Sowjetrepublik die Halbinsel Krim zu „schenken“, was nach der Trennung eine Reihe von rechtlichen Unklarheiten nach sich zog. Es überrascht nicht, dass der Vertrag von 1654 in der russländischen und der ukrainisch-nationalen Geschichtsschreibung sehr kontrovers ist.

Im Zuge der Zentralisierungsbemühungen des Zarenreichs im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert wandelte sich der Kosakenbegriff ohnehin vom Selbstverwaltungsanspruch autonomer Grenzer zur Eliteeinheit der zaristischen Zentralmacht in ihrer West- und Südexpansion. Eine Kontinuität vom Hetmanat zu späteren Manifestationen ukrainischer Staatlichkeit kann daraus nicht abgeleitet werden.

Die Aufteilung Polen-Litauens unter dem Zarenreich, Habsburg und Preußen Ende des 18. Jahrhunderts brachte nicht nur neue Grenzen, sondern ordnete die Teilungsgebiete auch den Herrschaftsimperativen der drei Reiche unter: die multiethnische Vielvölkerphilosophie im Habsburgerreich bot für die Herausbildung ukrainischer (hier so genannter ruthenischer) Schriftsprache und Nationalbewusstseins günstigere Voraussetzungen als der allrussische Anspruch des Zarenreiches, die verschiedenen Ausprägungen des Ostslawischen als Teile einer Völkerfamilie zu begreifen. In konfessioneller Hinsicht förderte Wien die Unierte Kirche, die dem Papst in Rom unterstellt war, während orthodoxe Ukrainer in Südrussland dem Moskauer Patriarchat zugehörten.

Ukrainische Staatsgründung nach Zusammenbruch des Zarenreiches

Der historische Moment für eine ukrainische Staatsbildung erstand erst aus dem Zusammenbruch des Zarismus und Österreich-Ungarns, beginnend mit der Februar- und der Oktoberrevolution 1917, den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk, gefolgt von der deutsch-österreichischen Besetzung sowie der polnischen und der Entente-Intervention in den Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen. In dieser Zeit formten sich auf ehemals zaristischem Gebiet die Ukrainische Volksrepublik, die Ukrainische Sowjetrepublik, das von Deutschland und Österreich-Ungarn inthronisierte Hetmanat, die Volksrepublik Donezk-Kriwoj Rog, die Machnowschtschina des Bauern-Anarchisten Nestor Machno in der Südost-Ukraine, sowie auf habsburgischem Gebiet die Westukrainische Volksrepublik, die sich der polnischen Eroberung durch die Vereinigung mit der Ukrainischen Volksrepublik zu entziehen versuchte.

Die ukrainische Delegation in Brest-Litowsk im Februar 1918. Sie sicherte durch einen separaten Friedensschluss mit den Mittelmächten im Austausch gegen Getreidelieferungen („Brotfrieden“) die formelle Eigenstaatlichkeit der Ukrainischen Volksrepublik. | Bild: picture alliance/Fotoarchiv für Zeitgeschichte

Aus den widerstreitenden Projekten ging nach dem Sieg der Roten im Bürgerkrieg und dem Friedensschluss zwischen Polen und Sowjetrussland 1920 die Ukrainische Sowjetrepublik als Teil der zukünftigen Sowjetunion als Realisat ukrainischer Staatlichkeit hervor. Sie schloss allerdings nicht die Bukowina, die an Rumänien fiel, das vormals ungarische Karpatoruthenien, das an die ČSR fiel, noch das Gebiet des habsburgischen Kronlandes Galizien ein, das zu Polen kam.

Jede neue Staatlichkeit kämpft mit den Schatten der Vorgängerstaaten, deren institutionelles, wirtschaftliches und kulturelles Erbe unter den neuen Strukturen weiterlebt. Jede neue Grenzziehung schafft auf dem Gebiet der ethnisch-sprachlichen Zusammensetzung der Staatsbürger, der Minderheitenrechte in Bezug auf Sprache, Verwaltung, Kultur- und Kirchenpolitik neue Konflikte. Wenn die alten Prägungen und Konfliktlinien wieder aufpoppen, spricht man von Phantomgrenzen. Sie können in Konfliktfällen zu neuen inneren Fronten bis hin zu Trennungswünschen oder Bürgerkriegen führen. An diesem Punkt kommen Ordnungsversuche von außen dazu: Nachbarn, Großmächte, internationale Gremien unterschiedlicher Stoßrichtung und Legitimation. Sie können vermittelnd wirken oder ihre Interessen mit der Intervention für eine Seite verbinden.

Immer Spielball fremder Mächte

Der ukrainische Staatschef von deutschen Gnaden Pawlo Skoropadskyj (Bildmitte) im Jahr 1918 eingerahmt von den deutschen Oberbefehlshabern Hindenburg (links) und Ludendorff (rechts). Er floh nach Deutschland, nachdem er Ende 1918 als Staatsoberhaupt der Ukraine abgesetzt worden war. | Bild: picture-alliance / akg-images | akg-images

Die ukrainische Unabhängigkeit war sowohl in den Jahren 1917 bis 1920, erneut im kurzen Moment, als der nationalsozialistische Russlandfeldzug 1941 Hoffnung auf Eigenständigkeit aufkommen ließ, als auch in den Jahren 1991 bis 2014 ein Spielball fremder Mächte. Dies traf auch auf die Staatlichkeit zu, die die Ukraine als Sowjetrepublik genoss. Als solche war sie nicht nur mit dem Unionszentrum Moskau konfrontiert, sondern auch mit antisowjetischen Interventionen westlicher Mächte für ukrainische Nationalisten, die sich mit der Unabhängigkeit 1991 verstärkten. In der Sowjetzeit wechselte das Unionszentrum mehrmals seine Einstellung zur Ukraine und dem Ukrainischen: einmal wurde die Nationsbildung und die Entwicklung der ukrainische Sprache unterstützt, dann wieder eine zentralistische, das Russische begünstigende Wende eingeleitet, die nationalistische Gefühle bestärkte.

Nach der Auffassung Halford Mackinders, die dieser in seinem viel zitierten Aufsatz „The Geographical Pivot of History“ im Londoner Geographical Journal vom April 1904 publizierte, stelle die Kontrolle des eurasischen „Herzlandes“ die Voraussetzung für die – damals britische – globale Hegemonie dar. Sie begleitet die angloamerikanischen Herrschaftskonzepte gegenüber Europa und Asien bis heute. Ihr jüngstes Revival erlebte sie mit Zbigniew Brzezińskis Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (1997) unter der Überschrift „Das eurasische Schachbrett“. Beide Strategen waren davon überzeugt, dass der russische Einfluss auf die Ukraine einzudämmen und eine Kooperationsachse zwischen Deutschland und Russland zu unterbinden sei.

Ende Februar 2014 verwirkte die ukrainische Post-Maidan-Regierung durch den Verfassungsbruch und die Vertreibung des gewählten Präsidenten das Vertrauen weiter Teile der Bürgerschaft in den mehrheitlich russischsprachigen Oblasten des Donbass sowie auf der Krim. Zum Regimewechsel wurden die neuen Machthaber maßgeblich von westlichen Politikern, Aktivisten und Medien ermuntert. Die russländische Seite verhehlte ihre Sympathie und Unterstützung für die Abtrünnigen nicht, verweigerte aber die von den Separatisten von Donezk und Lugansk gewünschte Anerkennung. Stattdessen bemühte sie sich bis knapp vor Ausbruch des militärischen Angriffs im Feburar 2022 um eine friedliche Konfliktlösung im staatlichen Rahmen der Ukraine (Minsk-Abkommen). Unabhängig davon, wie man die Rechtmäßigkeit der Loslösung der Volksrepubliken genau einschätzt, verfügt die ukrainische Staatsmacht seit damals de facto nicht mehr über die volle Kontrolle über Land und Bewohner.

Welche Begriffe und Konzepte eignen sich zur Analyse der externen Zugriffe auf die Region?

„Imperial“ trifft auf die sämtlich republikanisch verfassten Staaten nicht zu – mit der Einschränkung, wenn ein Staat oder Staatsmann bewusst an die imperiale Vergangenheit eines Vorgängerimperiums anknüpft. Bestimmte Aussagen Präsident Putins können als Reminiszenz auf vergangene Größe interpretiert werden, auch wenn er weder die Restauration der Sowjetunion noch der Monarchie anstrebt. Die im Westen üblich gewordene Charakterisierung russländischer Machtausübung als „imperial“ lenkt von den tatsächlichen Verhältnissen ab.

„Imperialistisch“ erfordert die Unterscheidung zwischen der ökonomischen und der politisch-militärischen Dominanz. Ökonomischer Imperialismus im klassischen Sinn liegt vor, wenn eine stärkere Ökonomie, getrieben von der Suche nach einer Verbesserung der Kapitalverwertung, auf die Ressourcen einer weniger entwickelten Ökonomie zugreift; Kolonisierung, Okkupation oder Annexion ist dafür nicht vonnöten. Es ist eine Expansion, die sich aus der Dynamik der Kapitalakkumulation speist.

Die Ukraine war dieser Dynamik seit ihrer Einbindung in die Weltwirtschaft als Agrar- und Rohstoffprovinz für die benachbarten Reiche im 19. Jahrhundert ausgesetzt. Diese Rolle erfüllte sie auch in der Sowjetunion, in der die Zentrum-Peripherie-Beziehungen jedoch nicht der Kapitaldynamik, sondern dem politischen Primat folgten. Weder im Zarenreich noch in der Sowjetzeit lag ein ökonomischer Entwicklungsunterschied zwischen den Zentren und der Ukraine vor. Der Zugriff auf Ressourcen und Arbeitskräfte erfolgte auf der Basis politischer Macht. Aufgrund der Investitionen in Bergbau und Verarbeitung, die im 19. Jahrhundert von britischen und französischen Investoren im zaristischen Bemühen um Industrialisierung begonnen wurden, kam dem Donbass die Rolle eines ökonomischen Zentralraums zu. Der ehemals galizische Osten, also die heutige Westukraine, blieb auch in der Sowjetunion weiterhin Agrarprovinz.

Mit der Unabhängigkeit 1991 forcierten die ukrainischen Regierungen die Umorientierung von der engen Verflechtung mit dem Sowjetraum in Richtung Westen. Dies war mit einer Entwertung der Schwerindustrien sowie der Maschinen- und Rüstungsindustrie in der Zentral- und Ostukraine verbunden. Für westliche Unternehmen war und ist die Ukraine aufgrund der verfügbaren Rohstoffe und der niedrigen Arbeitskräftekosten ein interessantes Investitionsfeld. Sie dient als Standort für Agrarkonzerne, als Billiglohnstandort für die globale Zulieferung von Komponenten und Dienstleistungen sowie als Quelle für ArbeitsmigrantInnen. Als spezifischer Wirtschaftszweig hat sich zudem die Vermietung der Frauenkörper etabliert, die als Leihmütter weltweite Kinderwünsche erfüllen.

EU-Assoziierung als Musterbeispiel für Wirtschaftsimperialismus

Das von der Europäischen Union im Herbst 2013 forcierte Assoziierungsabkommen sollte die Umorientierung von Ost nach West vertraglich festmachen. Es war, nach langer Abwägung, von Präsident Wiktor Janukowitsch aufgrund des damit verbundenen Abbruchs der für die Ukraine vorteilhaften Integration mit dem postsowjetischen Raum nicht unterzeichnet worden. Dies bot schließlich den Anlass für die Proteste am Maidan. Es handelt sich bei dieser EU-Initiative geradezu um ein Musterbeispiel von Wirtschaftsimperialismus, das die neue Maidan-Regierung dann schnell absegnete.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und der französische Präsident Francois Hollande im Februar 2015, wenige Tage vor Unterzeichnung des Minsker Friedensabkommens | Bild: picture alliance / dpa | Mykola Lazarenko / Pool

Ökonomischer Imperialismus lässt sich in der Praxis meist schwer von der politisch-militärischen Beherrschung trennen, allerdings besteht zwischen den beteiligten Mächten oft eine Arbeitsteilung, in der manche stärker die politisch-militärische Seite betreiben, während sich andere in deren Windschatten auf die wirtschaftliche Seite konzentrieren können. Das kommt in Begriffen wie „kollektiver Imperialismus“ oder „imperialistische Komplizenschaft“ zum Ausdruck.

Politisch-militärischer Imperialismus liegt dann vor, wenn die Einmischung primär aus geostrategischen Interessen erfolgt. Sie kann Eroberung, Errichtung eines Protektorats oder Annexion nach sich ziehen, oder den beherrschten Staat politisch kontrollieren und in das eigene Bündnissystem einordnen. Wir begegnen auf dem Gebiet der Ukraine beiden Varianten von Imperialismus. Galizien stellte als Agrarprovinz und militärische Pufferzone eine ökonomische und eine militärische Peripherie der Habsburgermonarchie dar; dasselbe gilt für das Deutsche Reich gegenüber den polnischen Teilungsgebieten.

Im Ersten und Zweiten Weltkrieg war der Zugriff auf die ukrainischen Ressourcen ein wesentliches Kriegsziel. Als zwischen den Großmächten umstrittene Region war die Ukraine als militärisches Auf- und Durchmarschgebiet von Kriegseinwirkungen besonders betroffen. Sie stellte für beide Seiten eine bewegliche Expansions- und Kampfzone dar. Dafür gibt es den Begriff Mark, Militärgrenze, Frontera, Frontier, Krajina – oder eben „Ukraina“. Wie im Englischen, Spanischen oder Deutschen ist die konkrete Bezeichnung einer solchen Grenzzone auch im Slawischen in die Alltagssprachen eingegangen. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung tritt die Verbindungsfunktion, die umstrittene Grenzregionen immer auch als Brücken und Vermittler qualifizieren, gegenüber der wandernden Kampfzone in den Hintergrund. Die Ukraine liefert die Soldaten, die den Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland austragen.

Der Ukraine-Konflikt im globalen Rahmen

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland erweitert sich zu einem geopolitischen Konflikt zwischen dem transatlantischen Westen und Russland, das aufgrund der abgeschnittenen Kooperation mit dem Westen verstärkt auf neue Partner im globalen Süden setzt. Wir beobachten auf beiden Seiten das Bemühen um neue Bündniskonstellationen, die durch die Sanktionen gegen Russland – und die Anstrengungen ihrer Umgehung – eine globale Neuordnung nach sich ziehen. Für Schwellen- und Entwicklungsländer bietet dies eine Gelegenheit, die seit den 1970er Jahren geforderte neue internationale Wirtschaftsordnung voranzutreiben. Präsident Putin unterstützt die Kritik am westlichen Imperialismus und interpretiert Russland aufgrund der westlichen Rüstungshilfe für die Ukraine als dessen Opfer. Dies bezieht sich jedoch nur auf die militärische Seite.

Dabei ist Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch in seinen wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen den imperialistischen Interessen der multinationalen Konzerne ausgesetzt. Die starke Orientierung auf Rohstoffexporte und die geringe Konkurrenzfähigkeit von Industrie und Technologie kennzeichnen seine Position im Weltsystem. Zudem hat der Zusammenbruch der Sowjetunion die Position Russlands als Wirtschaftsstandort enorm geschwächt.

Präsident Putins Ambitionen, die – im verlorenen Jahrzehnt unter Jelzin enorm gewachsene – Abhängigkeit zugunsten einer breiteren wirtschaftlichen Basis im Land zu überwinden, kamen aufgrund der Eigeninteressen der Rohstoffindustrien und ihrer Oligarchen nur langsam voran. Westliche Sanktionen und die Nachfrage der Rüstungsindustrie begünstigen zwar die inländische Produktion sowie die Diversifizierung von Investoren und Zulieferern, unterbrechen aber auch wesentliche Lieferketten. Der Krieg leitet die Potenziale zur Stärkung der wirtschaftlichen Verarbeitungskapazitäten im Land zudem stark in Vernichtungs- statt in Aufbaukraft.

Das westliche Verhalten in der Ukraine entspricht allen Kriterien von ökonomischem und politischem Imperialismus. Russland kann diesem aufgrund seiner eigenen wirtschaftlichen Schwäche lediglich geopolitisch-militärisch begegnen. Auch dieses Ungleichgewicht erschwert eine Friedenslösung.

Grenzen des Wohlstands, der Konfession und der Sprachen

Um den Krieg in und um die Ukraine in seiner inneren Dynamik zu verstehen, reicht der Rekurs auf imperialistische Durchdringung, Geopolitik und militärische Logik nicht aus. Ökonomische, soziale und kulturelle Grenzen existieren auch auf kleinräumiger Ebene und verbinden sich mit den größeren, überregionalen Interessen und Einflussfaktoren. Als Grenzen im weiteren Sinn werden hier die Wohlstandsgrenze sowie die Sprach- und Konfessionsgrenze als zentrale Kulturgrenze herangezogen.

Die Wohlstandsgrenze wurde bereits im Zusammenhang mit ökonomischem Imperialismus angesprochen, denn die Unterschiede der Einkommen und Kosten bilden die Voraussetzung, Profite durch Kapitalexport, also durch Investitionen in kostengünstigere Standorte, Auslagerung und Einbeziehung in globale Güterketten zu erzielen. Wohlstandsgrenzen auf regionaler und sozialer Ebene existieren auch innerhalb von Staaten, ja es sind gerade diese Unterschiede, die moderne Staatsbildung überhaupt erst möglich machen. Sie leben nach der Herausbildung moderner Staatlichkeit als regionale und soziale Disparitäten weiter und spiegeln sich in der ungleichen Verteilung von Einkommen, Vermögen, Lebens- und Aufstiegschancen.

Als solche interessieren sie uns im vorliegenden Kontext nur dann, wenn bestimmte soziale Gruppen, und mehr noch wenn sich diese regional konzentrieren, durch Vernachlässigung – oder gar durch gesetzliche Aufkündigung, wie im Fall der Russen diskriminierenden Sprachpolitik in der Ukraine – ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Rechte die Zugehörigkeit zum Staat in Frage stellen.

Im Gegensatz zur regionalen Ungleichheit und zum Klassencharakter einer Gesellschaft ging moderne Staatsbildung in kultureller Hinsicht mit sprachlicher, konfessioneller, also kultureller Homogenisierung einher. Diese ergab sich aus freiwilliger Anpassung aufgrund von Anreizen und besserer Aufstiegschancen, oder sie wurde, wie dies etwas im Musterland der modernen Nationalstaatlichkeit, in Frankreich, der Fall war, durch Assimilationsdruck auf ethnische oder konfessionelle Minderheiten bewerkstelligt. Bestehende Vielfalt wurde in den Grenzen der sich herausbildenden Nationalstaaten kanalisiert.

In den Reichen mit überseeischem Kolonialbesitz konnte die Homogenisierung im Mutterland voranschreiten, während in den Kolonien die ethnische Vielfalt der Untertanen aufrecht blieb – freilich ohne deren rechtliche Angleichung. Anders in den Reichen der Habsburgermonarchie, Russlands oder des Osmanischen Reichs mit ihrer multiethnischen und multikonfessionellen Bevölkerung. Mit ihrem Zerfall strebten die Nationalitäten unabhängige Nationalstaaten an, die sich in ihrer Homogenisierungspolitik stark am französischen Vorbild orientierten. Sie fühlten sich nach dem Ersten Weltkrieg auch vom Konzept des Selbstbestimmungsrechts der Völker des US-Präsidenten Wilson bestärkt.

Die in Friedensverträgen und Grenzziehungen festgelegten Grenzen befriedigten jedoch weder die Vorstellungen der Mehrheits- noch der Minderheitsnationalitäten und blieben als Konfliktpotenzial bis heute präsent. Auch die ukrainischsprachigen Regionen der Habsburgermonarchie erklärten im November 1918 ihre Unabhängigkeit als Westukrainische Volksrepublik, und die Südslawen bildeten den Staat der Slowenen, Kroaten und Serben. Beide Nachfolgestaaten gingen schließlich in größeren Staatsprojekten auf: die Westukrainische Volksrepublik in der Ukrainischen Volksrepublik (bis 1920), das österreichische Südslawien im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.

Durchmischung durch inner-sowjetische Migration

Sowjetrussland verband, geleitet vom Leninschen Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, den Anspruch nationaler Identität mit der Transformation zum sozialistischen Vielvölkerstaat. Die ethno-kulturelle Gemengelage stand der Nationsbildung bzw. dem Minderheitenstatus der Völker nicht entgegen, bei – phasenweise mehr oder weniger stark eingeforderter – Führungsrolle des Russischen als Lingua Franca und des Atheismus als sozialistischer Staatsreligion. Bis zur Auflösung der Sowjetunion gab es keinen Versuch, ethno-kulturelle mit politischen Grenzen in Übereinstimmung zu bringen, im Gegenteil, die Arbeits- und Bildungsmigration begünstigten die Durchmischung. Dies förderte die Herausbildung von ethnisch-sprachlichen Mehrfachidentitäten bzw. regionalen Mischformen in der Alltagssprache, etwa einem Amalgam zwischen Russisch und Ukrainisch, das auch als Surschyk bezeichnet wird.

Die Staatsgründung der Ukraine im August 1991 brach mit diesem Prinzip. In der Praxis war es jedoch unmöglich, eine Gesellschaft, die personell, kulturell und wirtschaftlich so eng mit der russischen Kultur und der Russländischen Föderation verflochten war, von heute auf morgen zu einem homogenen Nationalstaat zu machen. Trotz der Öffnung zum Westen, von der sich die meisten die Anbindung an Wohlstand und Teilhabe an den – vermeintlichen – Segnungen des globalen Kapitalismus erhoffte, war die militärische und wirtschaftliche Umorientierung nach Westen unter ukrainischen Politikern und ihren oligarchischen Schutzherren in den Jahren 1991 bis 2014 umstritten. Dies schlug sich auch im regelmäßigen Austausch des politischen Personals nieder.

Die Kooperation mit der postsowjetischen Welt war eine Realität, die zur Öffnung zum Westen nicht im Widerspruch stehen musste. Seit dem Regimewechsel 2014 darf die Frage nach einer in beide Richtungen blickenden internationalen Ausrichtung der Ukraine nicht mehr gestellt werden, die Führung hat sich militärisch, (geo-)politisch, wirtschaftlich und kulturell auf Gedeih und Verderb fest den Erwartungen des Westens untergeordnet und eine Politik der Abgrenzung gegenüber Russland und der russischen Kultur in Angriff genommen. Sie hat damit ein Zerreißen des Landes in Kauf genommen, wie die Zeitschrift der Kommunistischen Partei der Ukraine bereits 2003 in einer politischen Karikatur voraussah. Diese weitsichtige Prognose sprang der Autorin auf einer Odessa-Reise ins Auge.

Nach 1991 zunehmender Druck durch Ukrainisierung

Auch in der Nationalitäten- und Kulturpolitik wechselten einander Phasen der ukrainisch-russischen Koexistenz, Phasen der Ukrainisierung und Phasen des Ausgleichs zwischen den Kulturen ab. Eine Unterdrückung des Russischen erschien trotz der Verankerung des Ukrainischen als Staatssprache weder bei der politischen Führung noch bei der Bevölkerungsmehrheit wünschenswert bzw. machbar.

Generell konnte bei Wahlergebnissen, Meinungsumfragen und Zensusdaten beobachtet werden, das sich die politische Ausrichtung klar in die demographische Verteilung russischer und ukrainischer Bevölkerungsmehrheiten einfügte. Das heißt, es gab eine Dominanz des Ukrainischen und der Westorientierung im Westen und eine Dominanz des Russischen und der Russland-Orientierung im Osten, Südosten sowie in einer Überlappungszone in der Zentral- und Nordostukraine. Laut Meinungsumfragen sprach sich entsprechend dieser Unterschiede 2012 rund die Hälfte der Befragten für die Einführung des Russischen als zweite Staatssprache aus. Die Befürworter deckten sich weitgehend mit jenen Regionen, die heute von Russland besetzt und annektiert wurden.

Die Transformation verschrieb sich zunehmend den Zielen der Ukrainisierung und Westorientierung. So verständlich die Förderung des Ukrainischen als Staatssprache im neuen Staat war, so sehr setzte das Selbstverständnis des Staates als Nationalstaat der Ukrainer die russischsprachige Bevölkerung einem besonderen Druck aus.

Nationalistische Kirchenpolitik

Verschärft wurde der Ukrainisierungsdruck durch die Kirchenpolitik. Historisch herrschte in den ehemaligen Gebieten unter polnischer bzw. habsburgischer Herrschaft bei Ukrainern die griechisch-katholisch Variante des Christentums vor, das heißt eine orthodoxe Glaubenspraxis, die den Papst in Rom als Oberhaupt anerkannte, auch als Unierte bezeichnet. Unter dem Kommunismus verboten, formierte sich die Unierte Kirche mit weströmischer Unterstützung nach 1991 neu und reaktivierte eine bereits vergessen geglaubte Phantomgrenze, die in handgreiflichen Auseinandersetzungen um die Gotteshäuser kulminierte.

Aber auch die orthodoxen Ukrainer, ob russisch- oder ukrainisch-sprachig, die in den zentralen und östlichen Teilen der Ukraine lebten und dem Moskauer Patriarchat angehörten, gerieten mit der Nationalstaatsgründung unter Druck. Im ostkirchlichen Staatskirchenkonzept orientiert sich die Kirchenorganisation grundsätzlich am Staat: es war also nur folgerichtig, dass in der unabhängigen Ukraine eine autokephale ukrainische Kirche mit einem Kiewer Patriarchen entstand. In den Auseinandersetzungen mit der gesamtrussischen Kirche des Moskauer Patriarchats wurde die Ukrainische Nationalkirche von der Regierung Juschtschenko (2005 bis 2010) unterstützt, anstelle des Kirchenslawischen verwendet sie Ukrainisch als Liturgiesprache.

2018 wurde sie vom Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel, der orthodoxen Dachorganisation, anerkannt. Die neue Orthodoxe Kirche der Ukraine fristet jedoch vor allem im Osten und Süden des Landes ein Schattendasein. Die Gläubigen, die seit 1990 wieder zur offenen Religionsausübung zurückgekehrt sind, fühlten sich weiterhin der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats zugehörig. Damit wich das Territorium des Glaubens jedoch vom Territorium des Staates ab. In dem Maße, wie Moskau zum Feind aufgebaut wurde, wurden die Gläubigen und mehr noch die Geistlichen der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats zur 5. Kolonne Russlands stilisiert. Es nutzte ihnen nichts, dass sie auf einer Kirchenversammlung im Mai 2022 den Krieg verurteilten, die Regierungen zu Verhandlungen aufforderten und auf Distanz zum Moskauer Patriarchen gingen, der sich offen auf die russische Seite gestellt hatte. Seit 2023 werden ukrainisch-orthodoxe Priester verhaftet und Kirchengüter beschlagnahmt, allen voran das Kiewer Höhlenkloster, eines der ältesten Bauwerke der orthodoxen Welt.

Wellenartige Verdrängung der Russischen Sprache

Der Nationalitätenkonflikt spiegelt sich auch in der Frage des Sprachgebrauchs im öffentlichen Leben, konkret ob Russisch im äußeren Amtsverkehr und bei Gericht zugelassen ist. Er setzt sich in der Schulpolitik und in der Frage fort, unter welchen Bedingungen Schulunterricht in russischer Sprache erfolgen darf.

Russisch wurde programmatisch und rechtlich in mehreren Wellen aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Das Ziel wird auch als „Reversing Language Shift“ bezeichnet. Das bedeutet die Durchsetzung der Titularsprache, die Unterdrückung von Zweitsprachen, Mischsprachen und Mehrsprachigkeit. Unter der Regierung Janukowitsch (2010 bis 2014) wurde dieser Trend mit einem neuen Sprachengesetz im Jahr 2012 zwischenzeitlich gebremst. Das Gesetz ließ in Regionen mit mindestens 10 Prozent ethnischer Minderheitsbevölkerung neben dem Ukrainischen auch die Sprache der Minderheit als Amtssprache zu. In 13 von 27 Verwaltungseinheiten wurde damals Russisch als Regionalsprache verankert. Das Gesetz wurde 2014 im Post-Maidan-Parlament aufgehoben und später vom Verfassungsgericht außer Kraft gesetzt.

Russisch ist seit 2014 mit Bann und Verachtung belegt. Das neue Sprachgesetz vom 25. April 2019 verschrieb sich der „Sicherstellung der Funktion des Ukrainischen als Staatssprache“. Es gibt klare Regeln für alle Bereiche des öffentlichen Lebens wie Verwaltung, Justiz, Theater, Kino, TV, Verlagswesen, öffentliche Unternehmen vor, Ukrainisch zu sprechen, aber auch als Antwortpflicht etwa in Geschäften, Restaurants und Dienstleistungsbetrieben. Auch die russischsprachige Presse fiel der Ukrainisierung zum Opfer. Ausgenommen davon sind autochthone Minderheiten, zu denen paradoxerweise Russischsprachige nicht gezählt werden, sowie Englisch und EU-Amtssprachen. Russisch wird damit auf die private Kommunikation beschränkt. Russische Literatur ist fast vollkommen verboten, selbst aus wissenschaftlichen Texten sind russischsprachige Quellen bzw. Autoren verbannt.

Einen weiteren Reversing-Language-Schub brachte das 2017 erlassene Gesetz über die Bildung. Es sah in Schulen autochthoner Völker und nationaler Minderheiten eine sukzessive Erhöhung des Unterrichts in ukrainischer Sprache, der sogenannten „Mova“, am Lehrplan vor. Auf den Diskriminierungsvorwurf seitens der Venedig-Kommission des Europarates reagierte die ukrainische Regierung nicht. 2018 gab es noch 622 Schulen im Land, in denen Russisch die Hauptunterrichtssprache war. Seit dem Schuljahr 2020 ist der muttersprachliche Unterricht für russischsprachige SchülerInnen überhaupt Vergangenheit, sie haben lediglich die Möglichkeit, das Fach „Muttersprache“ zu belegen. SchülerInnen der abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk waren von dieser Regelung selbstverständlich nicht betroffen. Andere Minderheiten erhielten einen Aufschub bis 2024.

Sprachenombudmann Taras Kremin zeigt in seinem Jahresbericht auf, dass es im Schuljahr 2022/23 praktisch keine Einrichtungen, Klassen oder Schüler gab, in denen Russisch als Schulfach unterrichtet wurde, auch nicht in den Regionen Dnipro, Charkiw und Odessa. „Es ist anzumerken“, heißt es in dem Bericht, „dass dieser Prozess natürlich auf Wunsch der Eltern stattfindet und die allgemeinen Prozesse zur Stärkung der nationalen und staatsbürgerlichen Identität der Ukrainer widerspiegelt.“

Der neue ukrainische Bildungsminister Oksen Lisovoy hat sich gerade erst dagegen ausgesprochen, dass es Schulen gibt, in denen [einzelne Fächer] auf Russisch unterrichtet werden. „Wir kämpfen jetzt für ein Wertesystem, das sich radikal vom Wertesystem des russischen Reiches unterscheidet. Wir gehen definitiv einen anderen Weg als die ‚russische Welt‘. Warum bereiten wir dann die Kinder auf den Gebrauch der russischen Sprache vor?“, - sagte er.

Mit der Internationalisierung des Krieges 2022 wurden sämtliche Parteien, die die Interessen der Russischsprachigen vertraten, verboten. Damit verschiebt sich die Grenze zwischen dem Russischen und dem Ukrainischen zwangsläufig, sodass der Gebrauch des Russischen abnimmt. Für Binnenflüchtlinge, die nicht oder schlecht Ukrainisch sprechen, werden in den ukrainischsprachigen Hochburgen im Westen Sprachkurse angeboten. In Wien, wo Tausende UkrainerInnen Zuflucht gefunden haben, hört man jedoch viel Russisch und wenig Ukrainisch. Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass für UkrainerInnen, die des Ukrainischen nicht mächtig sind, im Ausland die Priorität des Fremdsprachenerwerbs in der Sprache des Zufluchtslandes liegt.

Militärisch forcierte Westorientierung

Die zweite große Transformationsrichtung zielt auf den Abbruch der Integration mit der Russländischen Föderation und anderen Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion und die Hinwendung nach Westen. Die Westorientierung hat eine wirtschaftliche und eine militärische Seite. Während die militärische Anbindung unter der Ägide von USA und NATO erfolgt, waren in der Europäischen Union vor allem wirtschaftliche Interessen an der Nutzung ukrainischer Ressourcen wirksam. Im Zuge der kriegerischen Zuspitzung des Konflikts als geopolitische Auseinandersetzung zwischen dem kollektiven Westen und Russland wurde auch die Europäische Union in die Waffenhilfe hineingezogen.

Die Militarisierung der internationalen Beziehungen macht die Unterscheidung zwischen der wirtschaftlichen und der militärischen Ebene zunehmend obsolet: Europäische Kommission und Mitgliedsstaaten wurden zu wichtigen Lieferanten von Waffen, logistischer Unterstützung und Soldaten-Ausbildung sowie zu Treibern des Sanktions- und Embargo-Regimes – obwohl beides die EU-Staatshaushalte sowie das Russland-Geschäft enorm belastet. Hier kommen innerwestliche Interessengegensätze ins Spiel: Unter den Bedingungen des militärischen Primats kann die USA ihre hegemoniale Schwäche durch ihre Führungsrolle in der NATO kompensieren und die europäischen NATO-Partner entgegen deren ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen in Geiselhaft nehmen. Möglich wird dies durch ein Filtersystem, in dem US-beherrschte globale Thinktanks und Stiftungen die Auswahl des politischen Personals bestimmen, das die westliche Komplizenschaft trägt.

Auch die USA verfolgen mit der Ukraine-„Solidarität“ ökonomische Ziele. Dazu gehört die Ankurbelung der Nachfrage nach Rüstungsgütern, in denen US-Konzerne nach wie vor tonangebend sind. Die USA nutzten die Gelegenheit des Krieges aber auch zur Skandalisierung der europäischen Gas- und Ölimporte aus Russland, um ihr eigenes, unter ungleich umweltschädlicheren Bedingungen gefördertes und zugleich teureres Fracking-Gas auf den europäischen Markt zu bringen. Um den europäischen Energiekunden diesen für sie umweltpolitisch nachteiligen und kostentreibenden Coup schmackhaft zu machen, wird diese Umorientierung als Überwindung von Importabhängigkeit gepriesen und mit der angestrebten Abkehr von der fossilen Energie überhaupt in Verbindung gebracht.

Auch hier wird die Überzeugungsarbeit durch europäische Politiker selbst erledigt. Ökologisch besorgte Bürger werden durch das Heraufbeschwören einer das Überleben der Menschheit gefährdenden Klimakrise ins Boot für die Russland-Sanktionen und die Hilfspakete für die Kriegs- und Staatsführungskapazität der Ukraine geholt. Die Ukraine wird zum Frontstaat der Verteidigung „westlicher Werte“ hochstilisiert.

1991: Auflösung der Sowjetunion ohne Blick auf zukünftige Konflikte

Rückblickend betrachtet, war die Ukraine aufgrund der unterschiedlichen Traditionen und historischen Einbindungen in sozialer und regionaler Hinsicht entlang ökonomischer und kultureller Grenzen gespalten. Diese Trennlinien lebten in der Sowjetzeit unterschwellig fort, auch wenn diese neue Probleme und Interessengegensätze zum Vorschein brachte. Die Auflösung der Sowjetunion, die von den Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine am 9. Dezember 1991 beschlossen wurde, stellte die Nachfolge-Regierungen vor schier unlösbare Probleme. Die drei Präsidenten hatten die Entscheidung zur Auflösung der Union ohne Voraussicht auf mögliche Konsequenzen getroffen. Dabei war absehbar, dass die Grenzen der Sowjetrepubliken, die in der Union sehr durchlässig waren und das Nebeneinander und den Austausch zwischen den vielfältigen Bevölkerungsgruppen nicht behinderten, als Staatsgrenzen großen Druck aufbauen würden.

Unterzeichnung der Vereinbarung zur Auflösung der Sowjetunion 1991 | Bild: RIA Novosti

Die am eigenen Machterhalt orientierten Präsidenten und die mit ihnen verbundenen Oligarchen hatten nicht daran gedacht, dass der Zerfall des komplex zusammengesetzten, multiethnischen Gebildes komplizierte Rechts-, Kompetenz- und Aufteilungskonflikte nach sich ziehen würde. Bei den alten westlichen Imperien lasten die kolonialen Schatten immer noch über den Konflikten der Nachfolgestaaten. Eilig angesetzte Referenden am Ende der Sowjetunion und nach Ausrufung der ukrainischen Unabhängigkeit mit ihren – aufgrund der faktischen Macht der Verhältnisse – hohen Zustimmungsquoten konnten dies auch hier nicht verhindern. Die rechtlich abgestuften Autonomien im Unionsstaat verloren mit der Vereinheitlichung der Bürgerrechte im Nationalstaat ihre Bedeutung als Vermittlungsinstanz für kulturelle Vielfalt.

Die Aufteilung einer implodierenden Union in Nachfolgestaaten barg durchaus positive Potentiale. Die Unabhängigkeit wurde nicht nur von eingefleischten Nationalisten als Chance begriffen. Im Fall der Ukraine kann man nach fast zehn Jahren Bürgerkrieg und eineinhalb Jahren der Eskalation als internationaler Krieg mit direkten und indirekten Akteuren allerdings feststellen, dass diese Chance verspielt ist.

Nationalismus statt Vielfalt, Grenze statt Brücke

Die leidvolle Geschichte der von wechselnden Fremdherrschaften geprägten Region, deren Bemühungen um Autonomie und Eigenstaatlichkeit stets von außen instrumentalisiert wurden, hätte den Regierenden nahelegen müssen, die Heterogenität des Landes als positives Erbe zu begreifen. Eine Ukraine, in der Tradition von Grenzland und Brücke, kann als selbständiger Staat nur bestehen, wenn er die innere Vielfalt ebenso anerkennt wir die Vielfalt der äußeren Beziehungen. Die geopolitische Anspannung und Aufladung der Region, die sich aus der Lage zwischen übermächtigen, tendenziell rivalisierenden Nachbarn und Hegemonialmächten ergibt, erfordert ein System kollektiver Sicherheit, das alle Seiten einbezieht. Nur in dessen Schutz kann ein ukrainischer Staat Bestand haben.

In wirtschaftlicher Hinsicht kann die Brücken- und Vermittlerfunktion auch ökonomisch Chancen eröffnen. Nachdem die Brücken abgebrochen und die Türen zugeschlagen wurden – als letzte die Missachtung der Vereinbarung von Minsk vom Februar 2015 bis hin zur Friedenslösung von Istanbul im März 2022 nach dem russischen Angriff – , wird nun die Homogenisierung und Blockintegration unter nationalistischen Vorzeichen verfolgt. Diese folgt einem exklusiven Muster der ethnischen und politischen Homogenisierung und läuft folgerichtig auf die ethnische Frontstellung zwischen Ukrainern und Russen hinaus. Der Kampf um die Grenze der nationalen Territorien ist voll im Gange. Wer auf seiner Seite nicht zum Staatsvolk gehört, muss sich assimilieren oder fliehen, sofern er oder sie die Schlacht überlebt. Unter diesen Bedingungen gibt es keinen Weg zurück in die Multikulturalität.

Ein Waffenstillstand mit einer nachfolgenden Friedenslösung, die die Grenzen unter Berücksichtigung des Bevölkerungswillens und der Einbeziehung internationaler Friedensinstitutionen festlegt und langfristig überwacht, wird die vollzogene Ethnisierung der Grenzen nicht rückgängig machen können. Die Internationalisierung der Interessen zieht auch eine Internationalisierung der Bemühungen um Waffenstillstand nach sich.
Die beiden, durch den Krieg als einander ausschließende Identitäten geformten Nationalitäten werden nur mittels Trennung bestehen können. Die Frage ist, wann diese Trennung durch garantierte Grenzen anstelle von Soldaten beider Seiten verschleißende Kampfhandlungen an der Kriegsfront erfolgen kann.

Über die Autorin: Andrea Komlosy, Jahrgang 1957, arbeitet als Professorin i.R. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Zuletzt erschienen von ihr die Bücher „Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive“, „Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf“, „Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft“ sowie der Beitrag „Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917 – 1991)“ im Sammelband „Kriegsfolgen“.

Anmerkung

(1) Die Krim stellt einen Sonderfall dar. Russland eroberte die Halbinsel sowie das restliche Herrschaftsgebiet der Krimtataren im 18. Jahrhundert. Die Krim wurde später durch die multinationale christlich-orthodoxe Besiedlung zum Inbegriff russländischer Reichskultur. Ob die viel zitierte Schenkung an die Ukrainische Sowjetrepublik 1954 tatsächlich eine staatsrechtliche Bedeutung hatte, ist umstritten; Sewastopol als sowjetischer Marinestützpunkt war davon jedenfalls ausgenommen. Am 20.1.1991, also noch vor der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine, sprach sich die Bevölkerung, die nach der Aussiedlung der Krimtataren fast zur Gänze aus ethnischen Russen bestand, für die Eigenständigkeit der Krim als Autonome Republik im Staatenbund der UdSSR aus. Im Referendum zur Unabhängigkeit der Ukraine im Dezember 1991 stimmten dann 54 % der Krim-Bewohner für diese. Sämtliche Vorstöße des Krim-Parlaments, sich in der Folge von der Ukraine zu lösen, wurden von Kiew zurückgewiesen. Den Ausschlag für die Loslösung und den Anschluss an die Russländische Föderation gab die mit dem Regimewechsel verbundene politische Neuausrichtung der Ukraine im Februar 2014 durch die Regionalverwaltung, die im März 2014 durch ein Referendum bestätigt wurde. Zwei Tage später vollzog Russland den Anschluss.

Literatur

  • Hofbauer Hannes (2016): Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung, Wien.
  • Kappeler Andreas (2019): Kleine Geschichte der Ukraine, München.
  • Klutschewsky Alexej (2022): On the preparation and sanctification of the Holy Chrism in Eastern Orthodox Churches in Modern Times
  • Komlosy Andrea (2023): Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917-1991), in: Hofbauer Hannes/Kraft Stefan Hg. (2022): Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert, Wien.
  • Komlosy Andrea (2022): Eurasien in Herrschafts- und Entwicklungs-Konzepten, in: Zeitschrift für Weltgeschichte; Volume 23, Nummer 1
  • Komlosy Andrea (2018): Grenzen. Wirtschaftliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf, Wien.
  • Miller Alexej (2003): The Ukrainian Question. The Ukrainian Question and Nationalism in the 19th Century, Budapest.
  • Nolte Hans-Heinrich (2017): Kurze Geschichte der Imperien, Wien-Köln-Weimar.
    Laufende Medienberichterstattung

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Diskussion

23 Kommentare
HANS-HEINRICH NOLTE, 28. September 2023, 10:35 UHR

Den Essay „Die Grenzen des Grenzlandes“ von Andrea Komlosy habe ich mit viel Gewinn gelesen, und er hilft, Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Beurteilung des Ukrainekriegs deutlich zu machen.

Um mit den Unterschieden anzufangen: Die These im zweiten Absatz, aus der „Grenzüberschreitung bei der Annexion“ eine generelle Absicht der russischen Armee abzuleiten, die gesamte Ukraine geschweige denn andere sowjetische Nachfolgestaaten zu erobern, entbehrt dennoch jeder Evidenz“ ist natürlich richtig, aber doch nur, weil es nicht um die Armee geht, sondern die politische Führung. Vladimir Putin hat in seiner Begründung der Invasion am 21.2.2022 die Ukraine zum Teil der russischen Geschichte, des russischen „geistigen Raums“ erklärt und behauptet, „Die heutige Ukraine wurde voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen“ (Übersetzung der Rede in OSTEUROPA 27.1-2, S.114 – 135) also Russland zum Subjekt der ukrainischen Nationalbewegung gemacht. Und Moskau unterstützt separatistische Bewegungen nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Moldau und Georgien. Abchasen und Osseten sind in keinem Fall Russen, man kann diese Expansion gegen frühere Sowjetrepubliken also nicht national nennen – sie ist imperial.

Den Thesen zur ukrainischen Nationalhistoriographie kann ich weithin folgen. Z.B. können die Kosaken in der Tat nicht insgesamt als Vorgeschichte des heutigen Nationalstaats in Anspruch genommen werden – auch wenn der von Komlosy zitierte Kappeler gezeigt hat, dass im Poltava-Hetmanat früh ukrainische Literatur und ukrainisches Bewusstsein entstand. Weiter hat entgegen den Hoffnungen z.B. des Schweizers von Werth die Kiewer Regierung seit 2014 nicht die sprachliche und kulturelle Vielfalt innerhalb des Territoriums von 1991 zum Ausgang für eine tolerante Politik genommen, sondern eine am französischen Zentralismus orientierte Politik gegen russische Sprache und Kultur betrieben. Da Andrea Komlosy aber keine ukrainische Historiographie zitiert, sind diese Abschnitte etwas in den Wind geschrieben – gegen welche ukrainische Kolleginnen und Kollegen wendet sie sich genau?

Ob im Jahr 2023 der Leninsche Imperialismusbegriff zur Kennzeichnung des amerikanischen Expansionismus viel beiträgt, müsste man dreißig Jahre nachdem die ehemaligen Kommunisten Jelzin, Krawtschuk u.a. die UdSSR aufgehoben haben, welche diesen Imperialismusbegriff voraussetzte, zumindest hinterfragen. Es gibt – wie Andrea Komlosy gut weiß – deutlich differenziertere Analyseinstrumente, etwa das Weltsystemkonzept, das z.B. erlaubt, Interessen von anderen sozialen Gruppen als dem Kapital und erkenntnistheoretische Fehler in den Köpfen aller Akteure präziser einzuordnen. Auch über die Rolle der Nationen im System gibt es von Deutsch und Gellner bis Anderson und Boatca viel erklärende Literatur, die bloße Distanzierung vom Nationalismus erklärt den Anstieg von dessen politischer Wirksamkeit nicht.

Aber ob national oder imperial motiviert: aus russischer Sicht ist der Vorwurf gegen die Moskauer Führung die Überforderung des Moskauer Potentials durch den Angriff auf die Ukraine. Diese Überforderung hat im Innern zu Spannungen geführt , wie der Prigoschin-Fall deutlich macht, hat russischen Einfluss im postsowjetischen Raum gemindert, was etwa an der aserbaidschanischen Besetzung von Berg Karabach deutlich wird, und hat Russlands Anspruch auf Mitführerschaft in der antiwestlichen Bewegung geschwächt – konkret seine Rolle in der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit.

Nicht zuletzt hat Russlands Griff zu den Waffen unter Putin die globale Friedensbewegung, die sich auf Gorbatschow berufen konnte, ins Abseits manövriert. Vielleicht können hegemoniale Mächte wie die USA oder China sich das leisten, aber eine Großmacht der 2. Reihe, wie Russland das trotz der Atomwaffen ist (Daten in H.-H. Nolte, R. Wernstedt Hg.: Russlandbilder – Deutschlandbilder, Gleichen 2018, S, 127 – 132), ist auf die Wirksamkeit internationalen Rechts im Frieden angewiesen. Kann man den schweren Fehler der Moskauer Führung ohne Rekurs auf die Tradition der toten Geschlechter erklären, die wie ein „Alp auf dem Gehirne der Lebenden lastet“ (um an das berühmte Zitat zu erinnern) ?

Ganz zustimmen kann man Andrea Komlosy dann wieder bei der Sorge, wie eigentlich Frieden erreicht werden kann. In der Tat: kann man sich auf stabile Grenzen einigen? Bleibt es bei der ukrainischen Forderung nach den „Grenzen von 1991“? Oder der russischen Idee, dass die Ukraine in jedem Fall zu Russland gehört, in welcher Form auch immer? Ist ein Kompromiss möglich?

Literatur:
Andrea Komlosy, Klemens Kaps Hg.: Immanuel Wallerstein und die Rezeption der Weltsystem-Analyse im deutschen Sprachraum, in ZEITSCHRIFT FÜR WELTGESCHICHTE 22.1/2
Hans-Heinrich Nolte Hg.: Eurasien zwischen neuem Westen und altem Osten, in ZEITSCHRIFT FÜR WELTGESCHICHTE 23.1 (dort u.a. Yasar Aydin zur Eurasienpolitik der Türkei und Armenien).

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

ANDREA KOMLOSY, 29. September 2023, 16:10 UHR

Ich fühle mich selbstverständlich geehrt, wenn der Autor des Reclam-Klassikers „Geschichte Russlands“ auf meinen Kommentar repliziert. Wir kennen einander durch gemeinsame Globalgeschichte-Aktivitäten, bei denen uns die Bezugnahme auf die Weltsystem-Analyse verbindet. In Noltes Kommentar möchte ich auf die folgenden Punkte eingehen.

(1) Dass die russländische Führung, konkret Putin, die Ukraine als Teil der russischen Geschichte und Kultur betrachtet, lässt keineswegs darauf schließen, dass er sie mit Russland vereinen will. Wieso hätte Moskau sonst die Ukraine als Staat anerkannt und auch dann, als die Bevölkerung im Donbass und auf der Krim 2014 den Staatsvertrag aufgrund des verfassungswidrigen Regimewechsels für gebrochen hielt, mit den Minsk-Abkommen weiterhin auf eine Lösung innerhalb der bestehenden Grenzen der Ukraine gesetzt hatte? Die Entscheidung im Februar 2022 für einen militärisch herbeigeführten Regimewechsel in Kiew (gescheitert), die Anerkennung, Besetzung und schließlich die von den Separatisten geforderte (über die Frontlinien hinausgehende) Eingliederung in die Russländische Föderation, war eine Folge der Weigerung der Minsk-Partner, die vereinbarte Autonomie umzusetzen. Dazu kam die Weigerung der westlichen Mächte, insbesondere der NATO und der USA, die von Russland angesichts des geplanten NATO-Beitritts der Ukraine erhobenen Forderungen nach einer internationalen Sicherheitsgarantie ernst zu nehmen.

Ich verurteile die militärische Antwort Russlands, zumal sie die Chancen auf friedliche Konfliktbeilegung untergräbt. Der Angriff vom 22. Februar 2022 lässt sich jedoch keineswegs auf Putins Analyse der historischen Verflochtenheit der russischen und der ukrainischen Kultur gründen. Fest steht allerdings schon jetzt, trotz des offenen Ausgangs der Kämpfe, dass diese Gemeinsamkeit durch den Krieg unwiederbringlich zerstört ist. Der Angriff hat die Bemühungen der ukrainischen Regierung um Ukrainisierung der multikulturellen Gesellschaft, die mit der Unabhängigkeit eingesetzt haben und seit dem Regimewechsel 2014 verschärft wurden, auf die Spitze getrieben und alles Russische zum Feind erklärt und aus dem öffentlichen Leben verbannt.

(2) Was Nolte an Putins Einschätzung des bolschewistischen Beitrages zur ukrainischen Nationsbildung stört, erschließt sich mir nicht. Sie bringt Putins Antikommunismus zum Ausdruck, polemisch in der Klassifizierung als „Wladimir Lenin-Ukraine“ in der Rede vom 21.2.2022. Ansonsten konstatiert Putin, was jede Geschichte der Ukraine einräumt, dass die frühe sowjetische Nationalitätenpolitik mit der Korenisazija die Entwicklung und Verankerung der ukrainischen Sprache und Identität in der Ukrainischen Sowjetrepublik befördert hat. Die Bildung einer ukrainischen Nation innerhalb des Unionsstaates war eine Absage an die vor der Revolution im Russländischen Reich vorherrschende allrussische Idee einer groß-, klein- und weißrussischen Einheit, wie Putin sie nostalgisch herbeisehnen mag.

Eine Wiederherstellung steht jedoch nicht auf der Tagesordnung. Die ukrainische und die russländische Seite arbeiten nun gleichermaßen an der Herstellung homogener Sprachgemeinschaften. Für die russischsprachigen Gebiete im Osten der Ukraine kann die Zukunft unter diesen Bedingungen nur in der Russländischen Föderation liegen. Das Beharren der ukrainischen Führung auf einer Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen, wie sie auch von den meisten westlichen Politikern übernommen wird, ignoriert den russisch-ukrainischen Kulturbruch, den sie selbst herbeigeführt hat und die Trennung durch ihre Sprach- und Schulpolitik täglich vollzieht. Ob die Millionen von alteingesessenen Ukrainern auf russländischem Staatsgebiet sowie die dorthin Geflüchteten aus der Ukraine mit ihren Mehrfachidentitäten diese Sprachenvielfalt in der Russländischen Föderation in Zukunft ausleben werden können, steht auf einem anderen Blatt.

(3) Dass Nolte die Analyse-Kategorie des Imperialismus auf Lenin und die Existenz der Sowjetunion reduziert, erstaunt mich ebenso wie seine Kategorisierung des russländischen Angriffs als „imperial“. In seiner „Kleine Geschichte der Imperien“ folgt er einer anderen eigenen Begriffsdefinition, die „imperial“ u.a. mit einer monarchistischen Regierungsform verbindet. Ich halte den Begriff des „Klassischen Imperialismus“, der am Ende des 19. Jahrhunderts sowohl von bürgerlichen und sozialdemokratischen als auch von kommunistischen Theoretikern entwickelt wurde, durchaus für vereinbar mit der Weltsystem-Analyse. Es ist in erster Linie ein ökonomischer Begriff, der krisenhafte Blockaden der Kapitalakkumulation durch Kapitalexport in Kolonien und abhängige Gebiete als Motiv für die expansive Bewegung des Kapitals begreift. Begleitet war die ökonomische Expansion durch geopolitische Interessensicherung und imperiale bzw. nationalistische Rhetorik zur Mobilisierung der Bevölkerung.

Vergleichbare Strategien sind auch heute seitens der westlichen Großmächte in Gange, nicht zuletzt gegenüber Russland, das zwar militärisch eine ernst zu nehmende „Großmacht der 2. Reihe mit Atomwaffen“ (Nolte) ist, ökonomisch aber dem Westen sowie dem aufsteigenden China nachhinkt und zu einem vergleichbaren ökonomischen Expansionismus aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwächen nicht in der Lage ist. Seine semiperiphere Position im Weltsystem ließ die russländischen Führungen stets auf nachholende Entwicklung sowie auf militärische Kraft setzen, um der Abhängigkeit von der ökonomischen Penetration (Imperialismus) durch westliche Zentren zu begegnen. Das macht den „konservativen Antiimperialismus“ (Stefan Kraft in: Kriegsfolgen) zu einer durchaus gefährlichen Drohung; dieser ist jedoch ohne den Imperialismus nicht zu begreifen.

In der Phase des hegemonialen Niedergangs der USA lässt sich eine Gefährdungskulisse für den Weltfrieden auch für die USA konstatieren. Sie setzt – im Boot mit Großbritannien und der Europäischen Union – auf die Ukraine als Verbündete und Vollstreckerin ihrer defensiven Vorwärtsdoktrin, um den Anspruch auf globale Führung gegenüber einer sich formierenden Allianz aus Ländern des Globalen Südens aufrechterhalten zu können. Ob Russland seine Position in einer solchen Allianz mit dem Angriff auf die Ukraine geschwächt hat, wie Nolte vermutet, darf bezweifelt werden. Jedenfalls hat die westliche Sanktionspolitik gegenüber Russland den antiwestlichen, antiimperialistischen Schulterschluss verstärkt.

NB: Nolte beklagt das Fehlen eines wissenschaftlichen Referenzapparats in meinem Beitrag. Das kann ich nachvollziehen. Ich verstehe Multipolar jedoch als ein Debattenforum, das über wissenschaftliche Kreise hinausgeht.

HELENE BELLIS, 29. September 2023, 16:45 UHR

Sehr geehrte Frau Komlosy,

vielen Dank für Ihre Replik auf den Kommentar von Herrn Nolte, die – zumindest für mich – Ihre eigenen Ausführungen noch einmal verdeutlicht hat. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage zu dieser Ihrer folgenden Bewertung:

»Ich verurteile die militärische Antwort Russlands, zumal sie die Chancen auf friedliche Konfliktbeilegung untergräbt.«

Und zwar lautet meine Frage, wie Sie glauben, daß sich die Lage in der Ukraine bzw. im Donbass entwickelt hätte, wenn Putin im Februar 2022 nicht eingegriffen hätte bzw. hier nicht militärisch vorgegangen wäre (ob man das nun Kriegsbeginn oder Kriegseintritt nennt, sei mal dahingestellt)? Wäre zum damaligen Zeitpunkt eine Chance auf friedliche Konfliktbeilegung überhaupt (noch) möglich gewesen, oder ist das eher etwas, von dem man vielleicht nur aus der jetzigen Sicht so sprechen kann?

Es ist mir klar, daß es hier nur um Hypothesen gehen kann, aber wenn jemand so vehement argumentiert, dann wünsche ich mir auch sinnvolle Folgeargumente für das, was im Wunschfalle hätte sein können. Oder eben auch nicht. Da würde mich Ihre Einschätzung der Situation doch sehr interessieren.

JOCHEN HOFER, 29. September 2023, 23:15 UHR

Danke Frau Bellis! Ihre Frage ist die relevante Frage schlechthin. Die bildungsbürgerlichen Analysen aus dem Spiegelkabinett kann doch niemand mehr lesen. Der „Angriff“ und die NATO-Reaktion verweisen auf die eine, die reine Machtfrage. Das diplomatische Lügengebäude ist offenbar geworden. Der Krieg welcher klassisch militärisch in der Ukraine, ansonsten global auf verschiedenen Ebenen ausgetragen wird, verweist die Phrasendrescherei in die historische Ecke. Wer darf die Spielregeln ändern ? Das ist keine moralische Frage! Vor allem deshalb, weil die Spielregeln ja nie wirklich für alle Spielteilnehmer gegolten hat. So wünsche ich uns allen viel Freude beim Verurteilen der jeweils anderen. Ernst nehmen kann man das natürlich nicht !

ANDREA KOMLOSY, 30. September 2023, 13:55 UHR

Sehr geehrte Frau Bellis,

es gibt viele Gründe, warum Krieg keine Lösung sein kann, auch bevor ein solcher begonnen wird. Bedenkt man, dass von Anbeginn nicht nur die Ukraine, sondern das militärische Potenzial von NATO und USA (mit der Ukraine) gegen Russland standen, war die russländische Offensive gegen die Ukraine nicht friedensfördernd. Sie verschlechtert Russlands Position, denn Russland hat weder das ökonomische noch das militärische Potenzial, um einen Krieg gegen die NATO zu gewinnen – und selbst wenn, dann wäre es um den Preis der globalen Eskalation und der Selbstvernichtung. Russland muss auf Diplomatie, Allianzen und Bündnispolitik für eine internationale Konfliktlösung setzen. Zugegeben leichter gesagt als getan, aber wie sich zeigt, war der Angriff eben nicht die beste Verteidigung.

Als unbeteiligte Beobachterin kann ich den Angriff vom Februar 2022 ohnehin nur ex-post betrachten. Das entspricht auch meiner Profession als Historikerin. Retrospektiv muss ich konstatieren, dass die russische Führung in Bezug auf die Ukraine das Gegenteil dessen erreicht hat, was sie mit dem Schutz der Russischsprachigen und der Neutralisierung der Ukraine bewirken wollte.

JOCHEN HOFER, 30. September 2023, 20:05 UHR

Werte Frau Komlosy !
Die ganze Geschichte läuft ja noch und zwar global. Im Herbst 2023 als Historikerin schon beurteilen zu können, ob Russlands Handlungsweise zielführend/erfolgreich ist/sein wird… Gratulation! Die Feststellung, dass „die russländische Offensive gegen die Ukraine nicht friedensfördernd“ war/ist, lässt mich staunend zurück. Das wichtigste zum Schluss: Sie haben die Frage von Frau Bellis nicht beantwortet, dafür aber die Aussagelosigkeit erneut kultiviert. PS: Selbstverständlich ist Krieg eine Lösung !!

MICH LAUST DER AFFE, 1. Oktober 2023, 00:00 UHR

Sehr geehrte Frau Komlosy,

„Bedenkt man, dass von Anbeginn nicht nur die Ukraine, sondern das militärische Potenzial von NATO und USA (mit der Ukraine) gegen Russland standen, war die russländische Offensive gegen die Ukraine nicht friedensfördernd.“

Es kommt wohl immer darauf an, welchen Zeitpunkt Historiker als Ausgangspunkt für ihre Analyse wählen. Ich bin kein Historiker. Aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass man bei dieser Beurteilung etwas früher ansetzen sollte. Und dann käme man zu folgender Schlussfolgerung: Der Aufbau des militärischen Potenzials von NATO und USA (mit der Ukraine) gegen Russland war nicht nur nicht friedensfördernd. Er verstieß auch gegen die bei der Annexion der DDR gemachten Versprechen, die NATO keinen Inch nach Osten auszudehnen und gegen ein internationales, (von der UNO abgesegnetes?) Vertragswerk (dessen Name mir grade nicht einfällt, NATO-Russland-Grundakte?), das die Aufrüstung auf Kosten der Sicherheit dritter untersagt.

"Sie verschlechtert Russlands Position, denn Russland hat weder das ökonomische noch das militärische Potenzial, um einen Krieg gegen die NATO zu gewinnen – und selbst wenn, dann wäre es um den Preis der globalen Eskalation und der Selbstvernichtung.“

Die aktuelle Entwicklung spricht für das Gegenteil. Ökonomisch hat sich die Situation Europas gegenüber Russland extrem verschlechtert. Und wenn man davon ausgeht, dass nicht alles, was der Westen der Ukraine an Waffen geliefert ha,t schon schrottreif war, dann scheint mir Russland auch in der Materialschlacht die Nase vorne zu haben. Auch die NATO könnte einen Krieg gegen Russland nur um den Preis einer nuklearen Eskalation (zu) gewinnen (versuchen). Ein Krieg muss nicht notwendigerweise mit dem Sieg einer Seite enden.

„Russland muss auf Diplomatie, Allianzen und Bündnispolitik für eine internationale Konfliktlösung setzen.”

Mit Verhandlungs“partnern“, die nach eigenem Bekunden nicht bereit sind, völkerrechtliche Vereinbarungen einzuhalten, läuft Diplomatie ins Leere, wie die Bemühungen Putins der letzten beiden Jahrzehnte gezeigt haben. Die USA haben ihre diesbezügliche kriminelle Hinterhältigkeit seit mindestens einem Jahrhundert ein ums andere Mal demonstriert. Dass die Europäer im Umgang mit Russland keinen Deut besser sind, haben Merkel, Poroschenko und Hollande bezüglich ihrer Bereitwilligkeit, das Minsker Abkommen umzusetzen, zu Protokoll gegeben.

„Zugegeben leichter gesagt als getan, aber wie sich zeigt, war der Angriff eben nicht die beste Verteidigung.“

Um dies zu beurteilen, muss man zumindest die Gegenrechnung aufmachen: in Russland hat noch kein Regimewechsel stattgefunden. In den russisch-sprachigen ehemaligen Gebieten der Ukraine kam es noch nicht zu einem flächendeckenden Genozid. Ich wage zu bezweifeln, dass dies auch so wäre, wenn die präventive militärische Sonderaktion Russlands unterblieben wäre. Die Hochrüstung der Ukraine wäre auch ohne Krieg weitergegangen, aber die gelieferten Waffen wären jetzt nicht zum Großteil vernichtet.

„Retrospektiv muss ich konstatieren, dass die russische Führung in Bezug auf die Ukraine das Gegenteil dessen erreicht hat, was sie mit dem Schutz der Russischsprachigen und der Neutralisierung der Ukraine bewirken wollte.“

Mit dieser Retrospektive sind sie meines Erachtens viel zu früh dran. Da ist noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Wenn man sich die Aufbauleistung in den befreiten Gebieten ansieht, dann ist sehr wohl viel für den Schutz der Russischsprachigen getan worden. In großen Teilen dieser Gebiete kann man seit der Befreiung vom faschistischen Regime in Kiew zumindest wieder menschenwürdig leben. Ich kann mir gut vorstellen, dass ohne die präventive militärische Sonderaktion die Ukraine schon NATO-Mitglied wäre. An der Neutralität der Ukraine hat sich jedenfalls durch die präventive militärische Sonderaktion nichts geändert. Die Russophobie wurde dort schon seit Jahrzehnten ganz gezielt gefördert. Die Ukraine war vor der präventiven militärischen Sonderaktion auch nicht neutraler als jetzt.

ANDREA KOMLOSY, 4. Oktober 2023, 13:00 UHR

Sehr geehrter „Mich laust der Affe“

(1) Ein zentraler Unterschied in unserer Einschätzung besteht in der Frage, ob die russländische Führung denn eine Alternative zur militärischen Intervention am 22.2.2022 hatte. Ihre Position der Alternativlosigkeit wird von vielen meiner Bekannten geteilt – selbst von denen, die sich nicht als pro-russisch sehen. Sie bringen die Vorgeschichte der NATO-Erweiterung und der EU-Osterweiterung und Assoziierungspolitik ins Spiel, als gegen Russland gerichtete imperialistische Akte; weiters den seit 2014 schwelenden Bürgerkrieg zwischen der Post-Maidan-Regierung und den Separatisten im Donbass und auf der Krim, die die Aufkündigung ihrer Minderheitenrechte nicht hinnehmen wollten. Ich kenne diese Vorgeschichte und halte sie für eminent wichtig, um den Konflikt zu verstehen. Ich schließe daraus aber nicht, dass Russland keine Alternative hatte und der Angriff daher gerechtfertigt war, geschweige denn für Russland und die Russischsprachigen erfolgreich verläuft.

Die Gegenposition, die ich mit vielen anderen Bekannten teile, ist meine Verweigerung, mich in die Großmachtlogik Russlands zu versetzen, auf dem von angloamerikanischen Großmachtstrategen zum „Schachbrett“ (Brzezínski) definierten eurasischen Herzland einen militärischen Gegenzug zu setzen. Diese Militarisierung und die damit verbundene Rechtfertigungs- und Burgfriedenspolitik schadet der russländischen Gesellschaft. Der Vormarsch zerstört nicht nur ukrainische Kernregionen, sondern auch die eroberten und annektierten Gebiete im Osten und Südosten. Dass dort, so der Kommentator, die „Menschen nach der Befreiung vom faschistischen Regime in Kiew wieder menschenwürdig leben“, muss bezweifelt werden. Zu dieser Aussage komme ich nicht (nur) aus Pazifismus, sondern weil die globalen Kräfteverhältnisse Russland friedliche Verhandlungslösungen gebieten.

(2) Die unterschiedlichen Positionen basieren auf miteinander verwobenen, geopolitischen und gesellschaftspolitischen Einschätzungen. Als militärische Laien kann keine Seite zu einer abschließenden Schlussfolgerung kommen, schon gar nicht zu Beginn oder inmitten des Krieges; hierin gebe ich dem Kommentator recht. Die Frage nach einem möglichen Ausgang des Krieges hängt eng mit der Beurteilung der militärischen und ökonomischen Stärke zusammen, sowohl der westlichen Partner, der Ukraine als auch Russlands und seiner Verbündeten. Auch Menschen, die die NATO- und EU-Erweiterungsstrategien, die Aufrüstung der Ukraine, ihre Funktionalisierung als billiges Agrarland, verlängerte Werkbank, Migrationsquelle, Leihgebärmutter und geostrategisches Aufmarschgebiet des Westens kritisieren, kommen hier zu unterschiedlichen Schlüssen. Das verwundert nicht, denn selbst unter Militärs und Kriegskundigen scheiden sich die Geister in solche, die die – vom Westen unterstützte – ukrainische Fähigkeit zur Verteidigung und Rückeroberung ihres ehemaligen Staatsgebiets anerkennen, und solche, für die die langfristige Überlegenheit Russlands (zumindest gegen die ukrainischen Streitkräfte) keine Frage ist.

Entlang derselben Linie scheidet sich die Einschätzung der ökonomischen Stärke Russlands, den westlichen Sanktionen durch die Mobilisierung der eigenen Kräfte sowie durch Umgehungsstrategien mithilfe von Drittstaaten zu trotzen. Auch hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Russlands Tradition als semiperipherer Rohstoffexporteur, das vergleichsweise niedrige Niveau der Produktivkräfte, der Technologie und der Innovation lässt sich durch durchaus beachtliche Erfolge der Importsubstitution und der Importumlenkung nicht einfach weg reden; zudem geht Rüstungsproduktion auf Kosten ziviler Versorgung und des Lebensstandards der Bevölkerung.

Ich möchte abschließend die zentrale Schlussfolgerung meines Multipolar-Beitrages hervorheben. Die scharfe Grenze zwischen Russen und Ukrainern teilt die Menschen eines kulturellen Überlappungsraums in zwei einander feindlich gesinnte, unversöhnliche Nationalitäten. Diese Grenze wurde nicht nur durch die Russisch- und Russen feindliche Sprach- und Schulpolitik der ukrainischen Regierung gezogen, sondern durch den russischen Einmarsch vollendet.

PAUL SCHREYER, 5. Oktober 2023, 10:25 UHR

„Ich kenne diese Vorgeschichte [des Krieges in der Ukraine] und halte sie für eminent wichtig, um den Konflikt zu verstehen. Ich schließe daraus aber nicht, dass Russland keine Alternative hatte und der Angriff daher gerechtfertigt war (…).“

Vielleicht kann man an dieser Stelle noch den Gedanken einfügen, dass eine angenommene Alternativlosigkeit zur kriegerischen Lösung nicht automatisch bedeutet, dass der russische Angriff auch „gerechtfertigt“ war. Recht kann ein Angriffskrieg naturgemäß kaum sein. Er kann aber – so ließe sich zumindest argumentieren – zur unentrinnbaren Notwendigkeit werden, wo andere Auswege (Verhandlungslösung, diplomatischer Kompromiss) systematisch und absichtsvoll versperrt wurden. Das „rechtfertigt“ ihn nicht, gibt ihm also keine moralische Rückendeckung, anerkennt aber eben die Unentrinnbarkeit.

Wer dagegen hält (Komlosy: „meine Verweigerung, mich in die Großmachtlogik Russlands zu versetzen, (…) einen militärischen Gegenzug zu setzen“) steht, so meine ich, auch in der Pflicht, die Folgen des hypothetischen, gewünschten friedlichen Verhaltens Russlands im Jahr 2022 zu bedenken und zu benennen. Was wäre passiert, hätte Russland nicht kriegerisch gehandelt? Die Beurteilung dieser Frage wird, das ist klar, um so schwieriger und hypothetischer, je mehr Zeit vergeht. Ich habe bislang aber kaum überzeugende Argumente gesehen, die zeigen, wie Russlands Sicherheit ohne Angriff – bei fortwährender Verweigerung eines diplomatischen Kompromisses seitens USA / NATO – hätte gewährleistet werden können. Eine „Verweigerung, sich in die Großmachtlogik Russlands zu versetzen“ könnte – Konjunktiv – unter diesen Umständen zu einer moralischen Bequemlichkeit werden.

HELENE BELLIS, 5. Oktober 2023, 14:05 UHR

Vielen Dank, Herr Schreyer, für Ihre Ausführungen, durch welche sich der Kreis – zurück zu meiner anfänglichen Frage an Frau Komlosy – schließt.

Weiterhin haben Sie noch ein Argument gebracht, das mir bei der Autorin fehlte, als sie schrieb:

»Retrospektiv muss ich konstatieren, dass die russische Führung in Bezug auf die Ukraine das Gegenteil dessen erreicht hat, was sie mit dem Schutz der Russischsprachigen und der Neutralisierung der Ukraine bewirken wollte.«

und zwar das folgende:

»Ich habe bislang aber kaum überzeugende Argumente gesehen, die zeigen, wie Russlands Sicherheit ohne Angriff – bei fortwährender Verweigerung eines diplomatischen Kompromisses seitens USA / NATO – hätte gewährleistet werden können.«

Ganz gewiß nämlich ist die Sicherheit Rußlands bzw. die Sicherung seiner Grenzen etwas, das Putin sehr wichtig ist, und wofür er zweifellos (spätestens als allerletztes Argument, bevorzugt aber natürlich eher und somit noch rechtzeitig) jederzeit militärisch eingreifen würde. Und daß diese Sicherheit seines Landes in letzter Zeit bedroht war und es wohl auch noch weiterhin ist, dürfte wohl ganz allgemein außer Frage stehen. Wer aber würde ihm aus der Verteidigung der Grenzen seines Landes einen Strick drehen wollen?

MICH LAUST DER AFFE, 5. Oktober 2023, 16:35 UHR

„Ich schließe daraus aber nicht, dass Russland keine Alternative hatte und der Angriff daher gerechtfertigt war, …”

Ich bin bedingungsloser Pazifist. Schon seit ich denken kann. Ich kann damit für mich die Anerkennung der Notwendigkeit eines präventiven Angriffskrieges vereinbaren, wenn die Alternative – weiteres Zuwarten bis der Gegner soweit aufgerüstet hat, dass er zu einem vernichtenden Erstschlag in der Lage ist – zur Auslöschung der eigenen Existenz führen würde. Auch Pazifisten haben in der Ausnahmesituation, dass ihre Vernichtung absehbar ist, das Recht, sich mit Gewalt dagegen zur Wehr zu setzen.

Dass die USA vor keinem Verbrechen, keinem Völkerrechtsbruch, keiner unmenschlichen Grausamkeit zurückschrecken, wenn es darum geht, ihre vermeintlichen Interessen durchzusetzen, haben sie ein ums andere Mal demonstriert. Irak, Libyen, Syrien stellten niemals eine Bedrohung für die USA dar. Und wurden deswegen gnadenlos in die Steinzeit zurückgebombt. Das Einzige was die USA dazu bringen kann, sinnloses Morden zu beenden, ist die drohende militärische Niederlage. Siehe Vietnam, siehe Afghanistan. Diese Lektion hat Russland gelernt und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus gezogen, bevor es zu spät war.

Herr Schreyer drückt es so aus:

„Das ‚rechtfertigt‘ ihn [den Angriffskrieg] nicht, gibt ihm also keine moralische Rückendeckung, anerkennt aber eben die Unentrinnbarkeit.“

Das ist schon mal ein schöner und für mich nachvollziehbarer Gedankengang. Ich kann mich dem aber nicht vollständig anschließen. Die Unentrinnbarkeit einer Aktion impliziert für mich, dass die Aktion moralisch gerechtfertigt ist.

„… geschweige denn für Russland und die Russischsprachigen erfolgreich verläuft.“

Diese Beurteilung müssen wir den Historikern überlassen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

„Die Gegenposition, die ich mit vielen anderen Bekannten teile, ist meine Verweigerung, mich in die Großmachtlogik Russlands zu versetzen,“

Ich kann nicht nachvollziehen, was das Bemühen, die eigene Haut vor der Vernichtung durch einen skrupellosen Gegner zu retten, mit Großmachtlogik zu tun haben soll. Das ist das westliche Narrativ, das – entgegen jeglicher Evidenz – den Russen im allgemeinen und Putin im speziellen angedichtet wird.

„Der Vormarsch zerstört nicht nur ukrainische Kernregionen, sondern auch die eroberten und annektierten Gebiete im Osten und Südosten.“

Erstens muss man Russland zugutehalten, dass sie bei ihren mit Präzisionswaffen durchgeführten Operationen, so gut das möglich ist, versuchen, Zivilisten vor Kollateralschäden zu bewahren. Man vergleiche hiermit die gegen Zivilisten rücksichtslosen Flächenbombardierungen bei den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der USA. Zweitens wurden von Russland bisher auch keine völkerrechtlich geächteten Waffen eingesetzt. Im Gegensatz zu den Waffenlieferanten der Ukraine. Und drittens sind Teile der eroberten Gebiete inzwischen nicht nur in besserem Zustand als nach den Kriegshandlungen, sondern sogar im besten Zustand seit der Unabhängigkeit der Ukraine vor über 30 Jahren.

„Diese Grenze wurde nicht nur durch die Russisch- und Russen feindliche Sprach- und Schulpolitik der ukrainischen Regierung gezogen, sondern durch den russischen Einmarsch vollendet.“

Auch hier ist meiner Meinung nach noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Die Ukraine hatte nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit das Potential als Brücke zwischen Ost und West (Putins Vision eines Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok) zu einer der prosperierendsten Regionen Eurasiens zu werden. Stattdessen wurde sie von ihren westlichen „Freunden“ dazu gezwungen, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden und historisch gewachsene, lebensnotwendige wirtschaftliche Kooperationen zu beenden. Das Ergebnis ist, dass die Ukraine sich heute im Wettbewerb um das erbärmlichste Armenhaus Eurasiens befindet. Zu den härtesten Konkurrenten in diesem Wettbewerb gehören, die ebenfalls vom Westen umgarnten Moldawien, Georgien und Armenien. Man möchte diesen Ländern nur wünschen, dass sie rechtzeitig aufstehen und sich ihrer korrupten Eliten entledigen, bevor es zu spät ist.

Unter Mithilfe der inkompetenten europäischen „Eliten“ könnte es auch gut noch so weit kommen, dass mit Aufnahme der Ukraine die ganze EU selbst noch in dieses Wettrennen einsteigt. Die russischen Wiederaufbauleistungen in den befreiten Gebieten und der vergleichsweise rücksichtsvolle Umgang mit der Zivilbevölkerung haben für mich jedenfalls das Potential, die ukrainisch-russische Grenzziehung der letzten Jahrzehnte wieder zu beseitigen, wenn die ukrainische Bevölkerung vom westlichen Traum erwacht und realisiert, wie sehr sie von ihren westlichen „Freunden“ missbraucht und geopfert wurden. Ich bedanke mich jedenfalls herzlich bei Ihnen, Frau Komlosy, für ihre ausführliche Antwort. Nicht jedoch, ohne mich der Auffassung von Herrn Schreyer anzuschließen:

„Wer dagegen hält … steht, so meine ich, auch in der Pflicht, die Folgen des hypothetischen, gewünschten friedlichen Verhaltens Russlands im Jahr 2022 zu bedenken und zu benennen. Was wäre passiert, hätte Russland nicht kriegerisch gehandelt?“

Diese Antwort sind Sie uns bisher noch schuldig geblieben.

HANS-HEINRICH NOLTE, 6. Oktober 2023, 11:50 UHR

Ich freue mich, dass der Aufsatz von Andrea Komlosy eine Diskussion hervorgerufen hat. Das Thema ist es wert – falls die Ukraine Mitglied von EU und NATO wird, gehen diese Osterweiterungen weit über jene Linien hinaus, welche S. Huntington vor 30 Jahren zu Ostgrenzen der westlichen Kultur erklärt hat. Das ist vielleicht keine „Zeitenwende“ aber doch ein tiefer Einschnitt in der Geschichte Europas und Asiens.

Vor einer weiter gehenden Diskussion möchte ich der Autorin bei einem Einwand recht geben – ich habe (im Versuch, die Vielfalt und die Änderungen der Realität genauer zu erfassen) meinen Imperiumsbegriff (N. Hg.: Imperien, Schwalbach 2008) geändert und in die historische Abfolge der Formen ein „Imperium 4. Ordnung“ eingefügt („Kurze Geschichte der Imperien“ S. 452 -465 als „Imperium als Karikatur“ bezeichnet). In dem Aufsatz „Konkurrierende Imitation als Erklärungsansatz zur Politik Russlands“ (in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 134 , Juni 2023, S. 102 – 116) habe ich S.112 mit Bezug auf USA und China so skizziert: „der benannte Staat will kein Imperium sein, wird aber von seinen Gegnern mit nachvollziehbaren Gründen so genannt“ und bin dann auf Habitus und Denktraditionen im heutigen Russland eingegangen, konkret auf das Geschichtsbild von Russland als „großem Bruder“ in der UdSSR.

Falls die Leserinnen und Leser mir folgen, möchte ich das mit einem Hinweis auf den historischen Kontext ergänzen: Die auf Russland bezogene verengende Zuspitzung des seit den 30er Jahren in der UdSSR offiziellen Geschichtsbilds „Sowjetpatriotismus“ wurde in Reaktion auf den deutschen Überfall durchgesetzt (Nolte: Ot sovetskogo patriotizma k rossijskomu nacionalizmu. in: M. Korchagina u.a. Hg. Germanija i Rossija v sud’be istorika… Festschrift Jakov Samojlovich Drabkin, Moskva 2008, S. 171 – 182).

Der deutsche Vormarsch und nicht zuletzt die deutsche Eroberung der Ukraine 1941 gehören zu den Gründen für diese Zuspitzung: der Krieg war eine feindliche Verflechtung, die zur Wiederbelebung des russischen Nationalismus führte. Der wurde mit dem sowjetischen Sieg vor Moskau, durch den – zusammen mit dem amerikanischen Sieg bei Midway – der 2. Weltkrieg entschieden wurde, ideologisch zementiert. Diese nationalrussische Zuspitzung des Sowjetpatriotismus hat auch Vladimir Putin in der Schule gelernt, und M.E. ist dieses Geschichtsbild eines der Gründe für den Fehler, den Russland 2022 mit dem Angriff auf die Ukraine gemacht hat. Der globale Prozess der Nationenbildung, der regional 1991 gegen die UdSSR durchgesetzt wurde, hatte die Machtverhältnisse grundlegend geändert.

„Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Geschichte ist zum Verständnis der Gegenwart unabdingbar, um Kontinuitäten, aber eben auch Veränderungen zu bestimmen. Die sowjetischen Eliten haben sich seit den siebziger Jahren intensiv um Anpassungen an neue Bedingungen bemüht, und es gibt keinen Grund für Hochmut von uns Westlern, die wir ja wahrscheinlich (oder doch möglicherweise) fundamentalere Veränderungen unserer Wirtschafts- und Sozial-Struktur angesichts von Klimawandel, wachsender sozialer Differenzierung und globaler Migration nicht zustande bringen. Aber der russische Griff zu den Waffen trieb die Remilitarisierung des Internationalen Systems voran und erschwert die notwendigen globalen Entscheidungen.

MICH LAUST DER AFFE, 6. Oktober 2023, 15:00 UHR

„Aber der russische Griff zu den Waffen trieb die Remilitarisierung des Internationalen Systems voran und erschwert die notwendigen globalen Entscheidungen.“

Mit Verlaub: das ist ein klassisches Beispiel für die Vertauschung von Ursache und Wirkung, mit der sich der Westen an seine vermeintliche Überlegenheit gegenüber dem vermeintlich unterentwickelten Rest der Welt zu klammern versucht. Meines Erachtens stehen sich aktuell nicht ein entwickelter und ein unterentwickelter Teil der Welt gegenüber, sondern ein hoffnungslos dekadenter und ein sich von dessen Zumutungen befreiender. Die Dekadenz besiegt sich selbst, wie wir an den selbstzerstörerischen Maßnahmen des „Wertewestens“ sehen können. Der Rest der Welt muss sich wie ein guter Judoka in Geduld üben und hoffen, dass auch im dekadenten Teil der Welt die Vernunft noch eine Chance bekommt.

RIPPLE, 6. Oktober 2023, 16:20 UHR

Hats off to "Mich Laust Der Affe". Ihre Beiträge in dieser Diskussion hier fühlen sich für mich an wie eine dringend notwendige Sauerstoffkur für den Verstand. Es ist eher selten, dass ich jemandem so rückstandslos zustimmen kann. DANKE!

MICH LAUST DER AFFE, 7. Oktober 2023, 10:05 UHR

Vielen Dank, Ripple, für Ihre anerkennenden Worte. Ich kann mich erinnern, dass es mir mit Ihren sehr geistreichen und brillant formulierten Kommentaren ähnlich ging, als ich hier noch ein stummer Mitleser war. Leider habe ich schon lange nichts mehr von Ihnen gelesen. Wäre schön, wenn Sie uns auch wieder öfter mal an Ihren Einschätzungen teilhaben lassen.

ANDREA KOMLOSY, 9. Oktober 2023, 13:10 UHR

Im ersten Punkt gebe ich Paul Schreyer Recht: Die Einschätzung des russischen Angriffs auf die Ukraine als alternativlos muss nicht unbedingt dessen Rechtfertigung bedeuten, und seine Einschätzung als „unentrinnbare Notwendigkeit“ diesem keine moralische Rückendeckung geben. Ich respektive diese Position, teile sie aber nicht, da ich mich nicht der Großmachtlogik Russlands unterordnen will.

Dass die Ablehnung des Angriffs die Pflicht beinhalten würde, die Folgen einer militärischen Zurückhaltung Russlands in ihren Auswirkungen abzuschätzen, ist ein hehrer Anspruch, dem allerdings niemand Genüge tun kann. Es würde mehrerer Szenarios bedürfen, je nachdem welche Vorgeschichten und Einflussfaktoren berücksichtigt würden. Was gegenüber einer kontrafaktischen Folgenabschätzung naheliegender ist, ist der Blick auf die Folgen des Angriffs. Hier lässt sich eine lange Reihe von Punkten anführen, die zeigen, dass die von Russland verfolgten Kriegsziele in Bezug auf die Ukraine verfehlt wurden: Die Ukraine hat sich der NATO, der Europäischen Union, der Aufrüstung zu deren Ostflanke in militärischer Hinsicht und verlängerter Werkbank in wirtschaftlicher Hinsicht verschrieben, eine Versöhnung zwischen Russisch- und Ukrainischsprachigen ist verwirkt, die ukrainische Identität basiert auf der Abgrenzung zur – bis zur Verachtung der – russischen Kultur. Auch das internationale Umfeld ist von Rüstungsbegrenzung und wirtschaftlicher Kooperation in Richtung Militarisierung, aggressive Geopolitik und neue Blockbildung gekippt. Diese – unbeabsichtigten – Folgen zur Kenntnis zu nehmen, relativiert die „unentrinnbare Notwendigkeit“ des Angriffs. Was hat er genützt, wenn die Folgen so aussehen?

Zum Schluss muss ich den Vorwurf der „moralischen Bequemlichkeit“ zurückweisen. Wir diskutieren hier dank MULTIPOLAR alle im geschützten Umfeld einer offenen Diskussionskultur. Das ist selbstverständlich bequem im Vergleich mit den Zensurbedingungen in kriegführenden Staaten. Dass es einer bequemer als der andere hat, ist jedoch ein Fehlschluss. In diesem geschützten Umfeld muss man Einschätzungsunterschiede aushalten, ohne sie gleich als „moralisch bequem“ zu bezeichnen.

MICH LAUST DER AFFE, 9. Oktober 2023, 15:35 UHR

„Die Ukraine hat sich der NATO, der Europäischen Union, der Aufrüstung zu deren Ostflanke in militärischer Hinsicht und verlängerter Werkbank in wirtschaftlicher Hinsicht verschrieben, eine Versöhnung zwischen Russisch- und Ukrainischsprachigen ist verwirkt, die ukrainische Identität basiert auf der Abgrenzung zur – bis zur Verachtung der – russischen Kultur. “

Diese Beschreibung der Wirklichkeit passt exakt auf die aktuelle Situation. Aber auch auf die Situation, die vor Februar 2022 aktuell war. Man denke an den Massenmord im Gewerkschaftshaus von Odessa unmittelbar nach dem Maidanputsch. Man denke an den von den russophoben Nazis in der Ukraine angezettelten Bürgerkrieg gegen die damaligen russischsprachigen Regionen der Ukraine. Man denke an Selenskyjs Auftritt auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“ mit seiner Forderung nach der Atombombe für die Ukraine. Das alles passt perfekt zur Beschreibung der aktuellen Haltung der Ukraine gegenüber Russland, so wie es auch zur Beschreibung der Haltung der Ukraine vor der militärischen Sonderoperation passt. Es hat sich also diesbezüglich durch die militärische Sonderaktion nichts geändert. Außer dass die russischsprachige Bevölkerung besser geschützt ist als vorher und wieder berechtigte Hoffnung auf ein menschenwürdiges Dasein haben darf.

„Auch das internationale Umfeld ist von Rüstungsbegrenzung und wirtschaftlicher Kooperation in Richtung Militarisierung, aggressive Geopolitik und neue Blockbildung gekippt.“

Die Bekenntnisse zur geplanten Aufrüstung der Ukraine, während man so tat, als ob man sich an völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen halten würde (Minsk I und Minsk II) von Merkel, Hollande und Poroschenko, bezeugen aus erster Quelle, dass da überhaupt nichts gekippt ist. Das war so geplant. Ganz zu schweigen von den USA, deren Geopolitik seit dem 1. Weltkrieg aggressiv ist und seit dem Zusammenbruch der UdSSR immer aggressiver wurde. Natürlich stört dabei jetzt die militärische Sonderaktion Russlands. Insbesondere deswegen, weil ein Großteil der gelieferten Waffen pulverisiert und die ukrainischen Streitkräfte bald komplett vernichtet sein werden.

„Was hat er genützt, wenn die Folgen so aussehen?“

Was Sie als Folgen bezeichnen, kann ich nicht als solche erkennen. Das war alles schon vorher so aufgestellt und hat sich seither zum extremen Nachteil vor allem der Ukraine geändert.

PAUL SOLDAN, 9. Oktober 2023, 20:10 UHR

Eine weiteres, zumindest in Erwägung zu ziehendes Szenario wäre auch, dass dieser Krieg genau das gewünschte Ergebnis der US-Politik darstellt. Bekanntermaßen ist es seit über 100 Jahren angelsächsische Strategie, deutsches Know-how und russische Rohstoffe voneinander zu trennen. Mit der NATO-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands und der Annäherung der Ukraine an die EU/NATO - und damit auch an die USA -, inklusive einer potenziellen Stationierung von Atomwaffen in unmittelbarer Nähe Moskaus ist zumindest nicht auszuschließen, dass Russland genau zu diesem militärischen Eingreifen gezwungen werden sollte.

Offenkundig war es nicht im Sinne des Westens, Russland als gleichberechtigt anerkennenden Partner zu dulden, wodurch sämtliche Annäherungsversuche Moskaus letztendlich fehlschlugen. Dies zeigt die aggressive Rhetorik und Feindbildgenese des Westens.

Am Ende ist es nicht zu beantworten, was geschehen wäre, wenn Russland nicht in die Ukraine einmarschiert wäre. Möglicherweise hätte der Westen weiter provoziert, ohne tatsächlich militärisch aktiv zu werden, möglicherweise auch nicht. Für Moskau wäre es aber immer riskanter geworden, weiter abzuwarten. Durch den Krieg hat man nun erreicht, Deutschland auf Jahre, wenn nicht gar auf Jahrzehnte, von Russland zu trennen, ebenso wie die Ukraine. Mit Nord Stream wurde die deutsche Industrie zusätzlich massiv geschwächt, das Regierungshandeln tut sein Übriges dazu. Unter Umständen wird diese Schwächung so nachhaltig sein, dass in einigen Jahren für ein deindustrialisiertes Deutschland die russischen Rohstoffe, sollte vielleicht irgendwann wieder eine Annäherung der beiden Länder möglich sein, nicht mehr von weltwirtschaftlicher Relevanz sind. Genau im Sinne der US-Politik ...

ZOLTÁN TEFNER, 9. Oktober 2023, 20:25 UHR

Die Widersprüche sind so umfassend und tiefgreifend, dass man den Eindruck hat, man kommt niemals raus. Zwei Kulminationspunkte scheinen zur Zeit hervor:

(1) Die Demokraten verlieren die US-Wahl 2024

(2) In Brüssel ändert sich die heutige Garnitur – natürlich nimmt man in Acht, dass Brüssel der Politik der Demokraten in den USA unterstellt ist. Im Artikel dazu: der Krieg läuft nicht zwischen der Ukraine und Russland, sondern zwischen den USA und Russland, im Sinne der Herzlandorientierung.

„Um den Krieg in und um die Ukraine in seiner inneren Dynamik zu verstehen, reicht der Rekurs auf imperialistische Durchdringung, Geopolitik und militärische Logik nicht aus. Ökonomische, soziale und kulturelle Grenzen existieren auch auf kleinräumiger Ebene und verbinden sich mit den größeren, überregionalen Interessen und Einflussfaktoren. Als Grenzen im weiteren Sinn werden hier die Wohlstandsgrenze sowie die Sprach- und Konfessionsgrenze als zentrale Kulturgrenze herangezogen.”

Zum Problem der inneren Grenzen, sozial, kulturell, wirtschaftlich: Sie sind zahlreich. Wenn man das Kernwesen verstehen will, muss man wissen, dass die Ukraine sich – unter anderen kleineren Zentren und Peripherien – in insgesamt 5 (!) mehr oder weniger einheitliche Territorien unterteilt. Das sind:

(1) Zentralregion, die eigentliche ehemalige historische Kiewer Rus, mit dem Kosakentum beiderseitig des Dnjeprs. Hier gedeiht der nationale Stolz relativ stark. Die Leute sprechen ukrainisch.

(2) Krim. Siehe die heutige Lage. Sonst emblematischer Standort der russischen Nationalgeschichte, also keine Ukraine, nur ein administrativer Trick von Breschnjew.

(3) Donbass: war niemals ukrainisch, 1920 wurden Landstriche von zwei ehemaligen Gouvernements willkürlich der Ukraine zugeschlagen. Ethnisch russisch.

(4) Ost- und Westgalizien: polnisch. Sprachlich und historisch in leidenschaftlicher Tiefe einst getrennt und heute immer noch. Aber sowohl ökonomisch als auch zivilisatorisch kohärent.

(5) Karpato-Ukraine oder ungarisch „ruszinszkó”, oder „Kárpátalja”. 1000 Jahre ungarisch geprägt, was die politische Identität anbetrifft.

2015 versuchte ich in meiner Funktion als Professor für Wirtschaftsgeschichte und internationale Beziehungen ein Ukrainisches Forschungszentrum an der Corvinus Universität in Budapest zu Stande zu bringen. Das Ziel war es, für den Fall, dass die Ukraine sich infolge der inneren Konflikte von sich selbst, ohne die Einmischung von außen, auflösen würde, über brauchbare, wissenschaftlich begründete, benutzbare Informationen über verschiedene mögliche Szenarios zu verfügen.

– Zentralukraine bleibt ukrainisch, also ein Ministaat

– Krim russisch

– Donbass russisch

– Galizien (siehe Westgalizische Volksrepublik, 1918) polnisch, Hauptort Lemberg

– Kárpátalja ungarisch

Aus ungarischer Perspektive ist das Letzte kritisch: Ungarn könnte damit ganz einfach nichts anfangen. Die Universitätsleitung war an einem Ukraine-Zentrums nicht interessiert. Der Tenor: „Um Gotteswillen, seid ihr verrückt? Alles vergessen.” Damals wusste noch niemand, dass die Russen die Ukraine überfallen würden. Die wissenschaftliche Ukraine-Expertise hätte dazu dienen können, den ungarischen Entscheidungsträgern über die Schwierigkeiten im Falle dieser Katastrophe hinwegzuhelfen. Wegen der vielen „Grenzen” ist jedenfalls zu erwarten, dass diese Selbstliquidierung erfolgen wird. Gott rette uns davor.

„Die beiden, durch den Krieg als einander ausschließende Identitäten geformten Nationalitäten werden nur mittels Trennung bestehen können. Die Frage ist, wann diese Trennung durch garantierte Grenzen anstelle von Soldaten beider Seiten verschleißende Kampfhandlungen an der Kriegsfront erfolgen kann.”

Ein Traum, Idealismus. Ähnelt dem Friedensprojekt von Wilson.

MICH LAUST DER AFFE, 9. Oktober 2023, 22:40 UHR

Sehr geehrter Herr Soldan,

„Eine weiteres, zumindest in Erwägung zu ziehendes Szenario wäre auch, dass dieser Krieg genau das gewünschte Ergebnis der US-Politik darstellt. Bekanntermaßen ist es seit über 100 Jahren angelsächsische Strategie, deutsches Know-how und russische Rohstoffe voneinander zu trennen.”

Das ist für mich kein weiteres Szenario, sondern exakt das Drehbuch dessen was gerade stattfindet. Wenn man als Historiker das nicht erkennt, hat man seine Hausaufgaben nicht gemacht, da man sich nicht die Mühe gemacht hat über den Tellerrand der westlichen Propaganda hinauszublicken. Die westliche Propaganda ist im historischen Kontext vollkommen inkohärent, während das beschriebene Szenario sich exakt mit den aktuellen Ereignissen deckt.

„Am Ende ist es nicht zu beantworten, was geschehen wäre, wenn Russland nicht in die Ukraine einmarschiert wäre. Möglicherweise hätte der Westen weiter provoziert, ohne tatsächlich militärisch aktiv zu werden, möglicherweise auch nicht.“

Da alles exakt nach dem Drehbuch des gewünschten Ergebnisses der US-Politik abgelaufen ist, halte ich die Option „möglicherweise auch nicht“ für reines Wunschdenken friedliebender Menschen. Natürlich hätten die USA (und ihre Vasallen) das Ausbleiben russischer Gegenwehr als Schwäche interpretiert und unbeirrt weiter provoziert. Das wäre – rein wirtschaftlich / monetär – viel billiger gewesen als die Aktionen, die von den USA aufgrund der militärischen Sonderaktion als notwendig erachtet wurden und hauptsächlich zum Schaden der verbündeten Vasallen (und mit Hilfe deren entweder vollkommen verblödeter und/oder korrupter Politiker) gewirkt haben.

„Unter Umständen wird diese Schwächung so nachhaltig sein, dass in einigen Jahren für ein deindustrialisiertes Deutschland die russischen Rohstoffe, sollte vielleicht irgendwann wieder eine Annäherung der beiden Länder möglich sein, nicht mehr von weltwirtschaftlicher Relevanz sind. Genau im Sinne der US-Politik ...”

Die militärische Sonderaktion Russlands hat – im Gegensatz zu der von Frau Komlosy vermuteten Wirkung – das Potential, exakt dieses gewünschte Ergebnis der US-Politik zu verhindern. Wenn die USA es nicht schaffen sollten Deutschland wirtschaftlich zu ruinieren, besteht zumindest theoretisch noch die vage Möglichkeit, dass sich in Deutschland die Vernunft durchsetzt und man endlich beginnt, im ureigensten Interesse mit Russland zu kooperieren. Hoffentlich bevor es zu spät ist.

MICH LAUST DER AFFE, 9. Oktober 2023, 23:00 UHR

Sehr geehrter Herr Tefner,

„Wegen der vielen „Grenzen” ist jedenfalls zu erwarten, dass diese Selbstliquidierung erfolgen wird. Gott rette uns davor.”

Ich kann nur hoffen, dass Gott uns davor bewahre, dass diese dringend erforderliche Selbstliquidierung der künstlich erschaffenen Identität Ukraine (=Grenzland) nicht stattfindet. Denn solange diese Selbstliquidierung nicht stattfindet, bleibt dies ein Stachel, der ein friedliches Leben von Lissabon bis Wladiwostok verhindern wird. Ganz im Sinne des angelsächsisch/amerikanischen Drehbuchs, das uns schon zwei Weltkriege beschert hat. Möge Gott uns davor retten, dass es diesen Kräften gelingt Europa in ein drittes solches Desaster zu stürzen.

Vor dem von den USA finanzierten Maidanputsch wäre es aufgrund der klugen politischen Absichten Janukowitschs denkbar gewesen, dass die Ukraine als Vielvölkerstaat in der Mitte Eurasiens prosperieren könnte. Diese Chance ist leider dank der angelsächsisch/amerikanischen Langzeitstrategie verwirkt worden. Unter Mithilfe der Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands, die noch am Vorabend des gewaltsamen Putsches „Schutzmacht“ simulierten. Der damalige deutsche Außenminister ist gerade zum Rapport in die USA zitiert worden. Gott rette uns davor, dass das daraus resultierende Schicksal der Ukraine auch das Schicksal Europas wird.

PAUL SCHREYER, 10. Oktober 2023, 10:35 UHR

@Andrea Komlosy

Im ersten Punkt gebe ich Paul Schreyer Recht: Die Einschätzung des russischen Angriffs auf die Ukraine als alternativlos muss nicht unbedingt dessen Rechtfertigung bedeuten, und seine Einschätzung als „unentrinnbare Notwendigkeit“ diesem keine moralische Rückendeckung geben. Ich respektive diese Position, teile sie aber nicht, da ich mich nicht der Großmachtlogik Russlands unterordnen will.

Unterstellt, dass es Russland bei diesem Krieg um die Wahrung seiner Sicherheit geht, erscheint der Begriff „Großmachtlogik“ unpassend. Zu fragen wäre dann, warum (und wie lange) Russland eine existenzielle Bedrohung seiner Sicherheit hinnehmen sollte. Dieser Begriff ist natürlich dehnbar und wird immer wieder propagandistisch benutzt. Nichtsdestotrotz sind Sicherheitsbelange eine zu berücksichtigende Realität, auch völlig abseits allen Großmachtstrebens.

Dass die Ablehnung des Angriffs die Pflicht beinhalten würde, die Folgen einer militärischen Zurückhaltung Russlands in ihren Auswirkungen abzuschätzen, ist ein hehrer Anspruch, dem allerdings niemand Genüge tun kann.

Man kann es zumindest versuchen.

Was gegenüber einer kontrafaktischen Folgenabschätzung naheliegender ist, ist der Blick auf die Folgen des Angriffs.

Ich würde nicht sagen, dass das „naheliegender“ ist, sondern dass dadurch einer Beantwortung der aufgeworfenen Frage ausgewichen wird.

Hier lässt sich eine lange Reihe von Punkten anführen, die zeigen, dass die von Russland verfolgten Kriegsziele in Bezug auf die Ukraine verfehlt wurden

Eine Argumentation, die sich am Erfolg beim Erreichen von Kriegszielen orientiert, ist schwer vereinbar mit moralischen Erwägungen. Würde der Angriff „richtiger“, wenn Russland am Ende gewönne? Auf dieser Ebene würde ich nicht argumentieren.

Diese – unbeabsichtigten – Folgen zur Kenntnis zu nehmen, relativiert die „unentrinnbare Notwendigkeit“ des Angriffs. Was hat er genützt, wenn die Folgen so aussehen?

Eine (von mir) angenommene „unentrinnbare Notwendigkeit“ impliziert, dass abseits von Kosten-Nutzen-Erwägungen entschieden wurde, sozusagen „mit dem Rücken zur Wand“.

Zum Schluss muss ich den Vorwurf der „moralischen Bequemlichkeit“ zurückweisen. Wir diskutieren hier dank MULTIPOLAR alle im geschützten Umfeld einer offenen Diskussionskultur. Das ist selbstverständlich bequem im Vergleich mit den Zensurbedingungen in kriegführenden Staaten.

Ganz so geschützt ist diese Debatte nicht, da seit November 2022 praktisch jeder in Deutschland angeklagt werden kann, der Russlands Position öffentlich verteidigt („Kriegsverbrechen verharmlost, billigt oder leugnet“):

https://multipolar-magazin.de/artikel/volksverhetzung-und-meinungsfreiheit

Darin, dass Einschätzungsunterschiede auszuhalten sind, stimme ich Ihnen selbstverständlich zu.

ANDREA KOMLOSY, 15. Oktober 2023, 11:00 UHR

Ich bedanke mich für die vielen Stellungnahmen und die rege Diskussion, die mein Beitrag ausgelöst hat. Mich hat es überrascht, dass sich die Debatte so gut wie ausschließlich auf die Frage der Einschätzung des russischen Angriffs von 2022 konzentriert hat: Notwendigkeit zur Wahrung der russländischen Sicherheitsinteressen oder Kritik an der russländischen Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine. Ich habe mich im Beitrag sowie in der anschließenden Diskussion klar mit Kritik am Angriff positioniert. Dies hat allerdings nicht den Kern meines Beitrages ausgemacht.

Ich habe als Zugangsperspektive zu einem vertrackten Konflikt die Frage der Grenzen gewählt. Die verschiedenen Ebenen von Grenzen – globale Einflusszonen, staatliche Grenzen, substaatliche Wohlstands- und Kulturgrenzen – erschienen mir als eine Möglichkeit, die Auseinandersetzung um die Gestalt der Ukraine in eine längere historische Betrachtung einzuordnen. Seltsamerweise hat das niemand aufgegriffen, obwohl der Verlauf der Grenzen doch wohl entscheidend für einen Ausweg aus der Situation ist.

Was die politischen Grenzen zwischen Staaten anlangt, habe ich darauf verwiesen, dass die Geschichte für die territoriale Erstreckung eines ukrainischen Staates keine Anhaltspunkte für eine zukünftige Grenzziehung liefert. Das Gebiet war als Grenzland stets ein umkämpfter, von übermächtigen Nachbarn vereinnahmter Raum. Damit will ich einem Staat Ukraine keineswegs die Existenzberechtigung absprechen. Die internationale Übereinkunft über die Grenzen zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat die Ukraine 1991 auch zu einem Subjekt des Völkerrechts gemacht. Dieses Subjekt wurde nicht von Russland untergraben (das für Autonomie der Donbass-Gebiete gemäß Minsk II eintrat), sondern - mit westlicher Rückendeckung - von der ukrainischen Post-Maidan-Regierung, die 2014 die Verfassung gebrochen, den gewählten Präsidenten vertrieben und die Selbstbestimmungsrechte der russischen Minderheit außer Kraft gesetzt hat. Die Folge waren Sezessionen im Donbass sowie der Beitritt der Krim zu Russland. Die ukrainische Regierung hat damit die vollständige Kontrolle über ihr Staatsgebiet verloren. In dieser Situation hat der völkerrechtswidrige Angriff Russlands 2022 und die Annexion der vier ostukrainischen Oblaste die Souveränität der Ukraine weiter eingeschränkt.

Um aus dieser Situation herauszukommen, zu der alle Seiten beigetragen haben, ist es nicht hilfreich, auf Grenzverläufen zu beharren, die von den Ereignissen längst überholt wurden. Gleichzeitig stehen die Integration der Ukraine – in Vorwegnahme ihrer NATO-Mitgliedschaft – in die westlichen Militärstrukturen sowie die militärischen Eroberungen bzw. Annexionen Russlands einem Waffenstillstand als Voraussetzung für eine anschließende Friedenslösung entgegen. Die einzig realistische Basis für Verhandlungen ist die Waffenstillstandslinie, ihre Demilitarisierung und internationale Absicherung in einem zu vereinbarenden Korridor und Übergangszeitraum, bis – wünschenswerter Weise unter Konsultation der Bevölkerung – eine Entscheidung für eine dauerhafte Grenzziehung getroffen wird. Es gibt zahlreiche Überlegungen, die den Weg in eine solche Friedenslösung in größerem Detail entwickelt haben, etwa den Friedensappell, den Peter Brandt und Reiner Braun mit einigen prominenten SPD-Mitgliedern im April 2023 lanciert haben. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Lösungsversuch mit der Aufrechterhaltung der westlichen Sanktionen gegen Russland unvereinbar wäre. Die Chancen auf zeitnahe Umsetzung stehen leider schlecht.

Mit der Festlegung der politischen Grenzen zwischen den Staaten aufs engste verbunden sind die ethnischen, sprachlichen und kulturellen Grenzen zwischen den Bewohnern. Hier konstatiere ich in meinem Beitrag, dass die Möglichkeit eines auf gegenseitiger Achtung, Respekt und Minderheitenrechten beruhenden Zusammenlebens von Ukrainern, Russen und diversen Mischkulturen und Mischsprachen durch die nationalistische Ukrainisierungspolitik der ukrainischen Regierung seit 2014 verwirkt wurde. Dabei wurden über schrittweise Verschärfungen der Sprach- und Schulpolitik die Grundlagen für eine multikulturelle Nation zerstört. Die Internationalisierung des Krieges seit 2022 hat diesen Prozess zum Abschluss gebracht.

Der Wunsch der Menschen nach einem Leben in homogenen Sprachräumen wird bei einer zukünftigen politischen Grenzziehung nicht außer Acht gelassen werden können. Die Situation ähnelt damit der Situation nach dem Ersten Weltkrieg, wo die Staatsgrenzen zwischen den neuen Staaten weniger auf der Basis historischer Verflechtungsräume, sondern entlang ethnisch-sprachlicher Grenzen gezogen wurden.

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