Die Aufhebung der Gleichheit
PAUL SCHREYER, 17. September 2021, 5 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
„Wir verlangen persönliche Freiheit. Die Polizei höre auf, den Bürger zu bevormunden und zu quälen. (…) Wir verlangen Gesetze, welche freier Bürger würdig sind (…) Das frische Leben eines Volkes bedarf freier Organe. Nicht aus der Schreibstube lassen sich seine Kräfte regeln und bestimmen. An die Stelle der Vielregierung der Beamten trete die Selbstregierung des Volkes. Wir verlangen Abschaffung aller Vorrechte. Jedem sei die Achtung freier Mitbürger einziger Vorzug und Lohn.“
So hieß es in den Offenburger Forderungen des Volkes vom 12. September 1847, einem Dokument das großen Einfluss auf die Deutsche Revolution von 1848/49 hatte. Gefordert wurden darin Grundrechte wie die Gewährleistung der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, so wie es Revolutionäre in den USA und in Frankreich bereits im 18. Jahrhundert gegen erbitterten Widerstand erkämpft hatten.
„Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“ war denn auch nach der Revolution im Reichsgesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes von 1848 zu lesen. Die Formulierung fand im Folgejahr Eingang in die Paulskirchenverfassung – die von vielen deutschen Herrschern allerdings nicht anerkannt wurde. Erst 70 Jahre später, 1919, nach der nächsten Revolution, erlangte die entsprechende Formulierung als Teil der Weimarer Reichsverfassung landesweite Gültigkeit:
„Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.“
In der Zeit des Faschismus wurde das Gleichheitsprinzip wieder aufgehoben und fortan erklärt, die Menschen und Völker seien ungleich und die Deutschen eine „Herrenrasse“ – mit den bekannten Folgen. Nach dem Zusammenbruch des Nazireiches und dessen Ideologie kehrten die Verfassungen in Ost und West zur Moral der Vorkriegszeit zurück. „Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt“, erklärte Artikel 6 der Verfassung der DDR, fast wortgleich das westdeutsche, später gesamtdeutsche Grundgesetz in Artikel 3:
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (…) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Dieses Prinzip ist auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union formuliert, die im Jahr 2000 verkündet und 2009 rechtsverbindlich wurde:
„Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich. Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“
Die Diskriminierung Nichtgeimpfter durch ihren weitgehenden Ausschluss aus dem öffentlichen Leben und aus vielen Berufen bricht nun mit dieser ethischen Norm – zum ersten Mal seit der Nazizeit. Gleichheit soll neuerdings nicht mehr bedingungslos gelten, sondern muss erst individuell „erworben“ werden, indem der Bürger sich für eine medizinische Behandlung zur Verfügung stellt.
„Unbeeinflußt durch Druck, Überredung oder Zwang“
Dieser Bruch ist in seiner Tiefe und Radikalität in der Geschichte beispiellos. Der jetzt verworfene ethische Konsens von Gleichheit und Selbstbestimmung gilt seit vielen Generationen. Von Benjamin Cardozo, in den 1930er Jahren Richter am Obersten Gerichtshof der USA, stammt der berühmte Ausspruch:
„Jeder Mensch, der volljährig und bei klarem Verstand ist, hat das Recht zu bestimmen, was mit seinem eigenen Körper geschehen soll.“
Diese Überzeugung bekräftigte nach dem staatlichen Terror des Faschismus der Nürnberger Kodex, der 1947 im Rahmen des Prozesses gegen KZ-Ärzte formuliert wurde und in dem es über medizinische Studien heißt:
„Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, daß die betreffende Person (…) in der Lage sein muß, unbeeinflußt durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; (…) Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.“
In der bereits erwähnten Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 wurde dieser Aspekt besonders hervorgehoben und unmittelbar nach der „Würde des Menschen“ (Artikel 1) und dem „Recht auf Leben“ (Artikel 2) als „Recht auf Unversehrtheit“ (Artikel 3) festgeschrieben. Dieses Recht ist konstitutiv (grundlegend) für die gesamte Europäische Union:
„Jede Person hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Im Rahmen der Medizin und der Biologie muss insbesondere Folgendes beachtet werden: die freie Einwilligung der betroffenen Person nach vorheriger Aufklärung entsprechend den gesetzlich festgelegten Modalitäten, das Verbot eugenischer Praktiken, insbesondere derjenigen, welche die Selektion von Personen zum Ziel haben (...).“
Der durch die Ungleichbehandlung Nichtgeimpfter aktuell aufgebaute Druck, sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen, bricht dieses Recht auf Unversehrtheit und zerstört das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das zuletzt 2013 im Patientenrechtegesetz noch einmal gestärkt worden war. In Paragraf 630d des Bürgerlichen Gesetzbuches heißt es in diesem Zusammenhang:
„Vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme, insbesondere eines Eingriffs in den Körper oder die Gesundheit, ist der Behandelnde verpflichtet, die Einwilligung des Patienten einzuholen.“
Dass eine Einwilligung unter äußerem Druck, wie er jetzt durch die Regierungsbeschlüsse einschüchternd und bedrohlich aufgebaut ist, nicht frei und selbstbestimmt sein kann, liegt auf der Hand. Die „freiwillige Zustimmung“ („informed consent“) wurde mit den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz vom 10. August 2021 und den seither in rascher Folge beschlossenen Verschärfungen in Deutschland praktisch abgeschafft. Dies verletzt eine konstitutive Norm einer freien Gesellschaft und verändert den Grundcharakter des Staates von freiheitlich zu autoritär.
Falsche Annahmen
Die Argumentation der Regierung gründet dabei auf mehreren Annahmen:
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die neuartige gentechnische Behandlung komme einer Impfung gleich
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die „Impfstoffe“ seien notwendig, da zur Zeit eine schwere Pandemie wüte, die das Gesundheitssystem zu überlasten drohe
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die zu spritzenden Mittel seien unverzichtbar, da eine natürliche Immunität praktisch nicht gegeben sei
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sie seien alternativlos, da keine anderen Vorbeugungs- und Behandlungsmöglichkeiten existierten
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sie seien hochwirksam
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sie seien sehr sicher und weitgehend frei von schweren Nebenwirkungen
Dass diese Hypothesen zutreffen, wird von Regierung und Medien wie selbstverständlich behauptet oder stillschweigend unterstellt. Es ist daher von erheblicher Brisanz, dass tatsächlich keine dieser Annahmen der Wahrheit entspricht:
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Die neuartige gentechnische Behandlung unterscheidet sich strukturell von den etablierten Immunisierungen, wie sie als „Impfung“ bekannt sind.
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Dem Gesundheitssystem droht zur Zeit keine Überlastung.
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Es existiert eine verbreitete Kreuzimmunität.
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Es gibt Medikamente zur Vorbeugung und Behandlung.
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Die Wirksamkeit der neuartigen Methode geht von Monat zu Monat stark zurück.
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Schwere Nebenwirkungen werden weitaus häufiger beobachtet als bei den bisher regulär verwendeten Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten.
Angesichts all dessen die Massenbehandlung mit der neuartigen Methode weiter voranzutreiben und sogar zur Bedingung für die Gewährung von Grundrechten zu machen, erscheint zunächst irrational.
„Impfpässe werden eine Schlüsselrolle spielen“
Verständlich wird diese Politik, wenn man den Blick vom erklärten Ziel des „Gesundheitsschutzes“ löst und auf die Agenda derjenigen richtet, die finanziell profitieren und die weltweit eine stärkere Kontrolle der Bürger mittels Zugangsbeschränkungen zur Teilnahme am normalen Leben einführen wollen. Denn für eine solche Agenda sind die neuen digitalen Immunitätsausweise tatsächlich „Wegbereiter“, wie es etwa der Rüstungskonzern Thales offen einräumt:
„Sogenannte digitale Impfpässe werden eine Schlüsselrolle dabei spielen, den Bürgern zu ermöglichen, alle möglichen Dienste in Anspruch zu nehmen, und werden als Wegbereiter für das Ausrollen mobiler digitaler Identitätsnachweise fungieren.“
Der Journalist Norbert Häring, der auf diese Äußerung hinwies und zu diesem Thema ausführlich recherchierte, konstatiert:
„Um das voranzutreiben fördern die mächtigen Stiftungen des Silicon Valley und der Wall Street, sowie Weltbank und Weltwährungsfonds seit langem Mega-Regierungsdatenbanken mit biometrisch-digitalen Identitätsnummern aller Bürger im Vorreiter Indien und seither in vielen anderen Ländern. Dafür haben sie auch, zusammen mit dem Weltwirtschaftsforum, Initiativen und Institute gegründet, wie ID2020. The Commons Project (Common Pass) und die Vaccination Credential Initiative, und dafür entwickeln sie seit vielen Jahren Szenarien für einen Übergang zum autoritären Regieren über eingeschüchterte Bürger, die sich willig der totalen Kontrolle unterwerfen, um dafür Sicherheit zu bekommen, mit Namen wie Lock Step (Gleichschritt) oder Lone Wolves.“
Das Prinzip der Gleichheit aller Bürger, wie es in den Revolutionen im 18., 19. und 20. Jahrhundert erkämpft und in den Verfassungen vieler Länder verankert wurde, passt nicht zu solchen Plänen. Es ist ein Hindernis für deren Umsetzung – und wird nun beseitigt.
Weitere Artikel zum Thema:
- Ausgrenzung ist Aggression (Alexander Jacobi, 14.9.2021)
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