Blick in eine Ausstellung des Malers Adolph Gottlieb (1903-1974), Pace Gallery, New York | Foto: Guy Ben-Ari

Der Kalte Krieg und die künstliche Kultur – oder wie das Endspiel Europa begann | Teil II

Der folgende Essay beschäftigt sich mit der Kulturpolitik des Kalten Krieges. In diesem zweiten Teil werden viele der Maßnahmen zur Kulturbeeinflussung und ihre Ziele genauer in den Blick genommen. Die beiden Teile des Essays sind in der Hoffnung verfasst worden, dass die Einsicht in die Militarisierung unserer Kultur uns in die Lage versetzen könnte, die Sphäre der Kultur zukünftig stärker vor dem Zugriff einzelner Machtinteressen zu schützen.

HAUKE RITZ, 31. Dezember 2022, 1 Kommentar, PDF

Im ersten Teil dieses Essays wurden die weltpolitischen und zeitgeschichtlichen Umstände nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Diese waren davon geprägt, dass dem Liberalismus eine Mitverantwortung für den Ersten Weltkrieg, die große Inflation von 1922/23, die Weltwirtschaftskrise von 1929 und damit auch für den Aufstieg des Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg zugesprochen wurde. Hinzu kam das progressive Erscheinungsbild, das der Sozialismus damals bei vielen europäischen Arbeitern und Intellektuellen besaß und dessen Wirkung sich besonders in den nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien entfaltete. Der Verlust Chinas an den Sozialismus löste schließlich Schockwellen im Washingtoner Beltway aus.

Weil die USA sich zu Beginn des Kalten Krieges im Kampf der Ideologien in einer defensiven Position sahen, kam dem Bereich der Kultur sowie der Kulturpolitik eine immer größere Bedeutung zu. Schließlich begannen die USA, die Kulturpolitik des Kalten Krieges im großen Maßstab mit Hilfe eigens dafür gegründeter Institutionen zu planen. Hat der kulturelle Umbruch der späten 60er Jahre und frühen 70er Jahre hiermit etwas zu tun? Fest steht, dass die US-Regierung dem nach dem Zweiten Weltkrieg diskreditierten Liberalismus erneut zu einem fortschrittlichen Erscheinungsbild verhelfen wollte. Der erste Teil schloss mit der Frage, welche Möglichkeiten Washington hierbei zur Verfügung standen.

Der kulturelle Kalte Krieg im Spiegel der historischen Forschung

Zur Beantwortung dieser Frage wird sich dieser Beitrag vor allem auf zwei Grundlagenwerke stützen: Zum einen auf die 1999 erschienene Studie „Who paid the piper – The CIA and the Cultural Cold War“ der britischen Historikerin Frances Stonor Saunders. (1) Saunders’ Untersuchung des kulturellen Kalten Krieges bewältigt den Spagat zwischen wissenschaftlichem Niveau und einer zugleich sprachlich anspruchsvollen Form. Das zweite Werk, auf das hier Bezug genommen werden soll, ist von dem Amerikanistik-Professor Michael Hochgeschwender verfasst worden und trägt den Titel „Freiheit in der Offensive“. (2) In beiden Untersuchungen steht der Congress for Cultural Freedom (CCF) bzw. der Kongress für kulturelle Freiheit im Vordergrund, eine maßgebliche Institution, die zu Beginn des Kalten Krieges im Jahr 1950 gegründet worden ist und durch welche die Kulturpolitik des Westens für fast zwei Jahrzehnte organisiert und gebündelt wurde.

Während Saunders’ Untersuchung die globale Tätigkeit des Kongresses verfolgt und rekonstruiert, konzentriert sich Hochgeschwender vor allem auf die Politik des Kongresses in Westdeutschland. Indem er sich also lediglich auf ein einziges Land bezieht, dringt seine Analyse noch tiefer in die Spezifik der Kulturpolitik des Kongresses ein. Durch die Untersuchungen weiterer Historiker (3) steht uns heute relativ viel Material (4) über die Tätigkeit und Wirkung des Kongresses für kulturelle Freiheit zur Verfügung, welches sich bis zu seiner Auflösung im Jahr 1969 erstreckt.

Der Kongress für kulturelle Freiheit bestand aus einem Netzwerk an Intellektuellen, Schriftstellern, Journalisten, Filmemachern und Künstlern, die sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit miteinander koordinierten. Der Kongress besaß auf dem Höhepunkt seines Einflusses Büros in 35 verschiedenen Ländern in Westeuropa, Asien und in der Dritten Welt. Sein hauptsächliches Interesse richtete sich auf die entscheidenden bereits genannten Staaten Westeuropas; seine Tätigkeit bezog sich auf alle Bereiche des Kulturlebens. Mit seiner Hilfe organisierte man professionelle Konferenzen, zeichnete Musiker und Künstler mit Preisen aus, unterstützte Intellektuelle und Kulturschaffende, deren Werk mit der Ausrichtung des Kongresses harmonierte, organisierte die Übersetzung von Büchern und beeinflusste sogar die Filmproduktion. (5)

Das zentrale Büro des Kongresses für kulturelle Freiheit war nach seiner Gründung zunächst in West-Berlin beheimatet. Da jedoch das geteilte Berlin auch das Zentrum der Spionagetätigkeit im Kalten Krieg bildete, wurde das Büro aus Sicherheitserwägungen schon bald nach der Gründung von Berlin nach Paris verlegt. Auf der einen Seite passte der Kongress seine Kulturpolitik den kulturellen und historischen Besonderheiten der einzelnen Länder an, auf der anderen Seite fand aber durchaus eine Synchronisierung seiner Arbeit auf internationaler Ebene statt.

Seine Tätigkeit beruhte auf einer verdeckten Finanzierung, wobei sowohl der Fairfield Foundation (6) als auch der Ford Foundation zwar eine führende, aber durchaus nicht alleinige Rolle zukam: „Heute weiß man von mindestens 170 Stiftungen, die den Transfer von CIA-Mitteln erwiesenermaßen bewusst ermöglich haben.“ (7) 1966 wurde die geheimdienstliche Finanzierung des Kongresses für kulturelle Freiheit bekannt, was dazu führte, dass der Kongress fortan vermehrt auf Schwierigkeiten stieß, die Zusammenarbeit mit Schriftstellern, Intellektuellen und Künstlern zu organisieren. Diese Situation führte neben Rechtfertigungsartikeln (8) einiger beteiligter Personen schließlich im Jahr 1969 zur Auflösung des CCF. Aufgrund der Abwicklung des Kongresses für kulturelle Freiheit wurde verhältnismäßig viel Archivmaterial freigegeben, wodurch uns heute zahlreiche Dokumente zur Verfügung stehen. Zusätzlich haben HistorikerInnen wie Saunders die Aussagen von Zeitzeugen dokumentiert.

Mit seinen zwischenzeitlich 35 Büros in verschiedenen Ländern hat der Kongress in den knapp zwei Jahrzehnten seines Bestehens in 20 verschiedenen Ländern intellektuelle Zeitschriften herausgegeben, die monatlich oder auch in größeren Abständen erschienen. Diese Journale hatten in gewisser Weise die Funktion, jeweils als eine Art Leitmedium zu fungieren. Darin wurden Argumente entwickelt und Perspektiven bereitgestellt, die dann später oft von der Tagespresse aufgegriffen wurden.

Wenn man die Arbeit des Kongresses für kulturelle Freiheit heute analysiert, so kann man eine Reihe von Grundproblemen ausfindig machen, die der CCF in den europäischen Gesellschaften der Nachkriegszeit identifiziert hatte, über die er besorgt war und auf die seine Kulturpolitik Antworten formulierte. Auf vier dieser Probleme soll im Folgenden genauer eingegangen werden. Es handelt sich bei diesen Punkten um eine Auswahl, die sich durchaus erweitern ließe, doch bleibt zu hoffen, dass bereits am Beispiel dieser vier Probleme aufgezeigt werden kann, dass die Kulturpolitik des Westens im Kalten Krieg die kulturelle Evolution Westeuropas langfristig beeinflusst hat.

Vier Schwerpunkte der westlichen Kulturpolitik im Kalten Krieg

(1) Antiamerikanische Grundhaltung vieler Europäer

Eines der ersten Probleme, auf das der Kongress für kulturelle Freiheit aufmerksam wurde, bestand in dem auf dem europäischen Kontinent stark verbreiteten Skeptizismus gegenüber den USA. Insbesondere viele Vertreter der europäischen Elite gehörten dem Bildungsbürgertum an und hegten kulturell begründete Vorbehalte gegenüber den USA. In diesen Kreisen herrschte die Vorstellung vor, dass sich die US-amerikanische Gesellschaft nicht auf dem gleichen kulturellen Niveau wie die Gesellschaften der europäischen Kulturnationen bewegen würde. Dies hatte zur Folge, dass US-amerikanische Diplomaten immer wieder auf das Problem stießen, von ihren europäischen Kollegen nicht genügend ernst genommen zu werden. Dies stellte ein sehr ernsthaftes Hindernis für die amerikanische Diplomatie dar.

Um diesem Problem zu begegnen, versuchte der Kongress für kulturelle Freiheit zunächst, das Image der USA auf dem europäischen Kontinent positiv zu beeinflussen. Die Vereinigten Staaten waren bemüht, sich als eine Nation darzustellen, die über ein eigenes und ernstzunehmendes Kultur- und Geistesleben verfügte. So wurde z. B. das Bostoner Symphonieorchester auf Tournee durch europäische Hauptstädte geschickt. (9) Auch das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) präsentierte sich auf einer Wanderausstellung dem europäischen Publikum. (10) Eine ganze Reihe US-amerikanischer Autoren, insbesondere die Gruppe der „New York Intellectuals“, wurde in verschiedene europäische Sprachen übersetzt und in Europa bekannt gemacht. Ein weiteres „wichtiges Instrument, um […] die traditionellen bildungsbürgerlichen Kulturdünkel gegenüber ‚Amerika‘ zu zerstreuen, waren die Amerika-Häuser“ (11), die über eigene Bibliotheken verfügten und sich generell als Ort für Kulturveranstaltungen anboten. Kurz: Die Vereinigten Staaten versuchten, sich den Europäern als ebenbürtige Kulturnation zu präsentieren, und zwar als ein Land, dessen geistiges Leben für die Widersprüche der modernen Zivilisation empfänglich war.

Die Resultate dieser zahlreichen Bemühungen waren allerdings gering: Die Vorurteile gegenüber den USA blieben unter den Europäern zunächst bestehen. Es war kaum möglich, durch Maßnahmen wie die oben genannten die bereits geprägten Vorstellungen der älteren Generation gegenüber den USA aufzulösen. Aus diesem Grund ging der Kongress für kulturelle Freiheit mehr und mehr dazu über, die Jugend zu adressieren. Konnte die ältere Generation nicht mehr hinreichend beeinflusst werden, so war es immerhin möglich, wenigstens der jüngeren Generation ein möglichst positives Bild von den USA zu vermitteln.

Infolge dieser Einsicht richtete man über die nachfolgenden Jahrzehnte hinweg alle Anstrengungen darauf, die amerikanische Kultur unter den jungen Europäern zu verbreiten: Beispielsweise explodierte förmlich der Anteil englischsprachiger Musik im westdeutschen Radioprogramm ab 1964. Hatte er zuvor noch bei ca. 5% gelegen, so stieg er innerhalb nur eines Jahres auf ca. 50% an. (12) Die US-amerikanische Romanistin Kristin Ross hat diese Form der kulturellen Amerikanisierung am Beispiel Frankreichs detailliert nachgezeichnet. (13) Diese Form der Kulturpolitik, die die Jugendkultur als zentrales Betätigungsfeld betrachtete, war sehr einflussreich und hat schließlich die europäische Kultur von innen heraus verändert.

(2) Mitverantwortung des Liberalismus für den Aufstieg des Faschismus

Ein zweites Problem, mit dem sich der Kongress für kulturelle Freiheit konfrontiert sah, war die damals starke Popularität sozialistischen Gedankenguts unter europäischen Intellektuellen. Dass der Sozialismus in den 1940er und -50er Jahren viel Sympathie unter europäischen Intellektuellen genoss, war ein Resultat der jüngeren Geschichte. Diese hatte die Intelligenz Europas gelehrt, zwischen Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus und Faschismus zu unterscheiden.

Weil die europäische Intelligenz klare Vorstellungen von der Unterschiedlichkeit dieser Konzepte besaß, war vielen auch bewusst, dass der Liberalismus für den Aufstieg des Faschismus teilweise mitverantwortlich war. Es war damals eine relativ weit verbreitete Überzeugung, dass der Liberalismus sich im Augenblick seiner Krise mit dem Faschismus arrangiert, ja ein Zweckbündnis mit diesem eingeht, um eine Infragestellung der Eigentumsordnung durch eine kommunistische Revolution zu verhindern. Ein klassisches Beispiel war die Niederschlagung der Spanischen Revolution zwischen 1936 und 1939, an deren Schicksal viele europäische Intellektuelle lebhaft Anteil genommen hatten und die sich im Rückblick als ein Vorspiel des Zweiten Weltkriegs erwiesen hatte.

Um dieser Wahrnehmung einer Mitverantwortung des Liberalismus für den Aufstieg des Faschismus zu begegnen, griff der Kongress für kulturelle Freiheit die Totalitarismusthese wieder auf, ein Theorem, welches 1923 von dem Italiener Giovanni Amendola zur Beschreibung des italienischen Faschismus geprägt worden war. Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff zunächst affirmativ von Carl Schmitt weiterentwickelt. Franz Borkenau verwendete ihn 1940 im US-amerikanischen Exil, um Nationalsozialismus und Bolschewismus miteinander zu vergleichen. (14)

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sowohl George Orwell als auch Hannah Arendt, die beide mit dem Kongress für kulturelle Freiheit zusammenarbeiteten, die Totalitarismusthese literarisch als auch theoretisch bekannt gemacht. Insbesondere Arendts Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (15) (1955) entwickelte den Begriff weiter und trug im großen Maße dazu bei, dass die Wahrnehmung einer Mitverantwortung des Liberalismus für den Aufstieg des Faschismus allmählich überlagert wurde durch die öffentliche Diskussion über die ähnlichen Erscheinungsweisen des historischen Faschismus mit dem Sozialismus Osteuropas und Asiens.

(3) Unabhängigkeitsbestrebungen unter europäischen Intellektuellen

Ein weiterer Punkt, mit dem sich der Kongress für kulturelle Freiheit beschäftigte, war der sogenannte neutrale Intellektuelle. Der neutrale Intellektuelle schien viel gefährlicher zu sein als der sich offen zum Sozialismus oder Kommunismus bekennende. Letzterer konnte einfach als Vertreter des sozialistischen Systems eingestuft werden, um ihn dann zu isolieren und zu diskreditieren.

Der neutrale Intellektuelle besaß hingegen tatsächlich das Potenzial, seine Position mehrheitsfähig zu machen. Indem der neutrale Intellektuelle für eine Neutralität zwischen den USA und der Sowjetunion plädierte, gefährdete er die Position der USA in Westeuropa. Sollten Politiker oder Regierungen für die Position des neutralen Intellektuellen empfänglich werden, konnte dies tatsächlich zu einer erneuten Unabhängigkeit einzelner westeuropäischer Staaten von den USA führen bzw. das Lager der neutralen Länder wie Österreich, die Schweiz, Finnland und Jugoslawien weiter vergrößern. Der US-amerikanische Schauspieler Robert Montgomery, der ebenfalls mit dem Kongress zusammenarbeitete, äußerte deshalb, dass es „im Zimmer der Freiheit […] keine neutrale Ecke [gäbe]“ (16), und fasste damit die Position des Kongresses sehr gut zusammen.

Der bekannteste Intellektuelle war Jean-Paul Sartre, der durch seine Zeitschrift „Les Temps Modernes“ einen enormen Einfluss in Frankreich erlangt hatte. Saunders zitiert in ihrem Werk die Autorin Carol Brightman, die im Interview die damalige Geisteshaltung wie folgt beschreibt: „Wer war der wirkliche Gegner? […] Es war nicht die Sowjetunion oder Moskau. Wer sie wirklich umtrieb, waren Sartre und Beauvoir. Das war die Gegenseite.“ (17)

Der Kongress für kulturelle Freiheit reagierte darauf, indem er die französische Zeitschrift „Preuves“ und die italienische „Tempo Presente“ gründete. Beide Blätter waren in ihrer Gestaltung sowie hinsichtlich der Themengebieten „Les Temps Modernes“ sehr ähnlich; die italienische Zeitschrift entlehnte dem französischen Original sogar ihren Namen. Der Unterschied zu „Les Temps Modernes“ bestand allerdings darin, dass die Zeitschriften des CCF immer wieder liberale Akzente setzten und auf diese Weise versuchten, Leser und Anhänger von Sartre abzuwerben. Man betrieb in gewisser Weise in Bezug auf Sartre eine Art intellektueller Eindämmungsstrategie. (18) Zugleich versuchte man, den ebenfalls existenzialistischen Philosophen Albert Camus aufzuwerten, um auf diese Weise Sartre indirekt zu schwächen. (19)

Die Aufmerksamkeit, die der Kongress für kulturelle Freiheit Sartre schenkte, ist nur ein Beispiel für die Politik des Kongresses, die generell darauf abzielte, die Artikulation eines neutralen Standpunktes ebenso zu bekämpfen wie eine kommunistische Position. Die Öffentlichkeit wurde auf diese Weise in eine Richtung gedrängt, in der es zunehmend schwieriger wurde, die Interessen des eigenen Landes über die der Blockkonfrontation zu stellen. Offensichtlich nicht mehrheitsfähige Positionen wie z. B. ein radikaler Maoismus wurden daher eher geduldet als eine sich auf Vernunft stützende neutrale Position.

(4) Kulturelle Verankerung des Sozialismus in der europäischen Kultur

Das vierte und vielleicht bedeutendste Problem der USA bestand darin, dass das sozialistische Gedankengut in den europäischen Gesellschaften viel tiefer verankert war als in den USA. Zunächst gab es in Europa kein Äquivalent zum ‚American Dream‘, also praktisch keinen Mythos von den Aufstiegschancen des Individuums.

Diese Differenz rührte u. a. auch daher, dass Kontinentaleuropa nicht im gleichen Maße wie die USA von protestantischen Sekten calvinistischer Prägung beeinflusst worden war. In Europa bezog man sich auf vielfältige vorkapitalistische Kulturformen, die ihre Wurzeln entweder im mittelalterlichen Zunftwesen oder aber in der Frühen Neuzeit hatten und die Basis für die Ansprüche und solidarischen Werte der Arbeiterbewegung bildeten. In der amerikanischen Gesellschaft waren diese vorkapitalistischen Kulturformen dagegen kaum vorhanden, weil das Land zusammen mit dem Kapitalismus entstanden war.

Hinzu kam noch, dass der europäische Kontinent in einem viel tieferen Maße von der Säkularisierung des Christentums geprägt worden war als die USA selbst, jedenfalls dann, wenn man Säkularisierung nicht einfach als Zurückdrängung der Kirchen und des Christentums aus dem öffentlichen Raum versteht, sondern als die Übersetzung christlicher Vorstellungen und Werte in einen weltlichen und modernen Kontext. Die politische Utopie des Sozialismus ist nur eines von mehreren Erscheinungsformen dieses kulturell sehr breiten Säkularisierungsvorgangs, der in Europa die Werte der Moderne mit denen der christlichen Vergangenheit verbunden hat.

Ein weiterer entscheidender Kulturunterschied zwischen den USA und Europa betraf die Figur des Intellektuellen, dem in Europa eine andere Bedeutung zukam als in den USA. Das Ansehen des Intellektuellen in Ländern wie Frankreich, Italien und Deutschland hatte einen deutlich größeren Stellenwert als in den USA. In Europa wurde dem Intellektuellen viel stärker als in den USA eine öffentliche Einspruchsmacht zuerkannt. In Frankreich konnte eine Stellungnahme von Jean-Paul Sartre, in der Bundesrepublik Deutschland eine Rede von Thomas Mann und in der DDR eine von Christa Wolf die gesamte Gesellschaft bewegen. Die öffentliche Verehrung des Künstlers und Intellektuellen in Europa stand im deutlichen Gegensatz zu dessen öffentlicher Schmähung in den USA in der McCarthy-Ära. Die von Senator Joseph McCarthy eingeleitete Verfolgung linker Intellektueller war genau die falsche Antwort auf die Herausforderung des Sozialismus, da derartige Maßnahmen die sozialistischen Vorhersagen vom repressiven kapitalistischen Staat bestätigten und so die Glaubwürdigkeit linker Theorie vergrößerten.

Dies voraussehend, hatte bereits 1948 der ehemalige Kommunist und spätere Antikommunist Arthur Koestler auf einer Lesereise in den USA im Gespräch mit Mitgliedern des State Departments dafür geworben, sozialistische Praxis und kommunistische Ideale nicht direkt von staatlicher Seite, sondern von links zu bekämpfen. (20) Der US-amerikanische Historiker und Präsidentenberater Arthur Schlesinger beschrieb den zunehmenden Einfluss dieser Idee später als eine „stille Revolution“. (21) In der US-Regierung setzte sich so allmählich die Einsicht durch, dass die Konzepte solcher Intellektueller befürwortet und gefördert werden müssten, die desillusioniert von den Utopien des Kommunismus waren, aber dennoch die Positionen einer gemäßigten Linken unterstützten.

Die Idee, kommunistische Ideale zu schwächen, indem man die Förderung einer nichtkommunistischen Linken begann, „wurde bald zum theoretischen Fundament der behördlichen politischen Operation gegen den Kommunismus für mindestens zwei Dekaden“. (22) Dadurch ging „der Begriff ‚nicht-kommunistische Linke‘ […] bald in den bürokratischen Sprachgebrauch Washingtons ein“. (23) Diese Strategie basierte auf der Einsicht, dass es immer eine politische Linke in Europa geben würde. Die Frage war nur, von welcher Art und von welcher Geisteshaltung diese Linke bestimmt sein würde.

Um den „kulturellen Kalten Krieg“ (Saunders) zu gewinnen, war es wichtig, dass der Westen selbst progressiv und links erschien. Nur so konnte sichergestellt werden, dass das kulturelle Erbe der Arbeiterbewegung nicht der Sowjetunion und ihren sozialistischen Alliierten überlassen wurde. Zugleich musste das Linkssein aber so gestaltet und ausgedeutet werden, dass es in den Kapitalismus integrierbar blieb. Dies bedeutete, dass sich das Linkssein möglichst wenig auf die klassischen Kernfragen der Arbeiterbewegung beziehen durfte, was eine weitgehende Ausklammerung der Eigentumsfrage, der Sozialen Frage und der Kritik des Imperialismus bedeutete. Hiermit waren wiederum die pazifistischen Strömungen in der Linken verbunden.

Die politische Identität der Linken musste gewissermaßen von den Hauptwidersprüchen des Kapitalismus auf seine Nebenwidersprüche verlagert werden, wie z. B. das Auftreten von Rassismus, die Benachteiligung der Frau in der Gesellschaft, unterschiedliche Rechte für unterschiedliche Gruppen oder Umweltzerstörungen im Zuge industrieller Prozesse. Es handelt sich hierbei um Nebenwidersprüche, weil sie zwar unter den Bedingungen einer entfesselten kapitalistischen Dynamik zunehmen, ihre isolierte Bekämpfung aber nichts an der kapitalistischen Grundverfassung der Gesellschaft ändert. Allerdings eigneten sich diese Themen sehr gut, um Sympathisanten der Sowjetunion, die innerhalb der CIA auch als „Fellow Travellers“ (24) bezeichnet wurden, Möglichkeiten zur Kritik und Opposition innerhalb des politischen Systems des Westens zu eröffnen und auf diese Weise das westliche System insgesamt zu stabilisieren.

Zudem gab es in der politischen Linken viele Debatten, auf die sich eine nicht-kommunistische Linke relativ leicht stützen konnte. Nur ein kleiner Teil der politischen Linken besaß eine wirkliche Kenntnis der Werke von Karl Marx oder anderer sozialistischer, kommunistischer oder anarchistischer Theoretiker. Daneben existierten viele Themen innerhalb der Linken, die oft aus lebensweltlichen Kontexten in die linken Debatten eingeflossen waren und nur lose mit der ideologiekritischen Tradition linker Theorie verbunden waren, etwa die Kritik an altmodisch gewordenen Traditionen, an der Kirche oder der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Kultur, die häufig als Element kapitalistischer Ideologie infrage gestellt wurde. Eine von linker Seite geübte Kritik an der vorherrschenden Kultur der Gesellschaft konnte bewirken, dass die Rechte von Minderheiten bzw. das Individuum an sich mehr betont wurden. Dies aber könnte dazu führen, dass die Linke immer häufiger eine liberale Position einnehmen und sich von der Tradition der Arbeiterbewegung, die sich vor allem auf große gesellschaftliche Schichten und somit auf kollektive Interessen bezogen hatte, entfernen würde.

Dass die CIA tatsächlich in derart großen Dimensionen über den kulturellen Kalten Krieg nachgedacht hat, ist durch freigegebenes Archivmaterial, das Saunders in ihrem Buch zitiert (25), belegt. So heißt es in dem Strategiepapier PSB D-33/2, dass man „‚auf Intellektuelle, Gelehrte und meinungsbildende Gruppen‘ einwirken [wolle], um so ‚weltweit verbreitete doktrinäre Denkmuster zu zerschlagen, die dem Kommunismus […] intellektuell den Boden bereiten.‘“ (26)

Nun ist diese hier angedeutete Verlagerung innerhalb des Spektrums der linken Themen und Diskurse, über die in den 1950er Jahren innerhalb der CIA intensiv nachgedacht wurde, im weiteren Verlauf des Kalten Krieges tatsächlich eingetreten, wie in einer 2011 freigegebenen Analyse der CIA zugegeben wird. (27) Dominierten zu Beginn des Kalten Krieges noch die Kämpfe der Arbeiterbewegung für gesamtgesellschaftliche Interessen wie z. B. die Soziale Frage, so werden diese politischen Inhalte im Laufe des Kalten Krieges allmählich durch einen Kampf für die Rechte des Einzelnen, also durch Minderheits- und Menschenrechte ersetzt.

Diese Verlagerung beginnt bereits in den 60ern, setzt sich in den 70ern fort und wird in den 80er Jahren vor allem durch den Aufstieg der Grünen und das In-Erscheinung-Treten einer „Neuen Linken“ abgeschlossen. Von den 60ern über die 70er bis in die 80er Jahre wird der Diskurs über die Ausbeutung der Arbeiterklasse allmählich ersetzt durch öffentliche Debatten über die Ausbeutung der Natur. Die nicht-kommunistische Linke, von der in den 1950er Jahren rein theoretisch innerhalb der internen Debatten der CIA die Rede war, scheint am Ende des Kalten Krieges tatsächlich in fast allen westlichen Gesellschaften fest verankert zu sein. Die im Folgenden zu klärende Frage ist, ob die hier nachgezeichnete Übereinstimmung auch durch sozialtheoretische Analysen bestätigt werden kann?

Überprüfung der bisher gesammelten Ergebnisse anhand der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung

Tatsächlich existieren theoretische Ansätze, welche die oben beschriebene Verschiebung des politischen Spektrums innerhalb der Linken bestätigen. Auf zwei dieser Theorien soll hier eingegangen werden: Zum einen ist in diesem Zusammenhang die Studie von Luc Boltanski und Ève Chiapello, „Der neue Geist des Kapitalismus“ (28), zu nennen, die bereits in den späten 90er Jahren in Frankreich erschienen ist und seit 2004 auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Zum anderen soll hier das Werk von Paul Piccone (29) erwähnt werden, einem italienischstämmigen amerikanischen Theoretiker, der vor allem als Begründer und Herausgeber der einflussreichen amerikanischen Zeitschrift „Telos“ bekannt geworden ist.

Boltanski und Chiapello beschreiben in ihrem Buch, inwiefern das Umbruchsjahr 1968 zwei Formen der Kritik hervorgebracht hat, nämlich auf der einen Seite eine sozial angeregte Kritik innerhalb der Tradition des sozialistischen Denkens, die den Kapitalismus vor allem als unsozial kritisierte. Dieser Flügel der französischen Linken war es, der 1968 erfolgreich ein Bündnis mit den streikenden Arbeitern herstellen konnte.

Auf der anderen Seite gab es eine ästhetische Kritik, die den Kapitalismus weniger dafür kritisierte, seinem Wesen nach ungerecht zu sein, als vielmehr dafür, sich durch Langeweile, Eintönigkeit und Kulturlosigkeit auszuzeichnen. Diese ästhetische Kritik am Kapitalismus, die Boltanski und Chiapello auch als „Künstlerkritik“ bezeichnen, beschreibt jene Strömung in der Linken, die sich in der Folge von 1968 auch tatsächlich als einflussreiche politische Kraft erwiesen hat. Denn es war die ästhetische Kritik am Kapitalismus, die in den Jahrzehnten nach 1968 die Kraft besaß, nachhaltig auf die Gesellschaft Einfluss zu nehmen und diese umzugestalten, während umgekehrt die soziale Kritik am Kapitalismus weitgehend folgenlos bleib, ja im Zuge der ab 1982 einsetzenden neoliberalen Offensive sogar des Restes ihres einstigen Einflusses beraubt wurde.

Boltanski und Chiapello schlagen von der Analyse der 68er-Bewegung einen Bogen zur Managementliteratur und können auf diese Weise zeigen, dass das kapitalistische System tatsächlich auf die Künstlerkritik reagiert und die Arbeitswelt anhand dieser Form der Kritik reorganisiert hat: Durch die Einführung flexibler und projektbezogener Arbeitsprozesse wurde die Arbeitswelt tatsächlich interessanter und abwechslungsreicher, wodurch der Künstlerkritik der Boden entzogen wurde. Zugleich erhöhte sich jedoch damit auch der Ausbeutungsgrad, da „Dienst nach Vorschrift“ fortan nicht mehr möglich war – nun wurde der Einsatz der gesamten Person einschließlich ihrer Fähigkeit zur Identifikation mit dem Arbeitsprojekt zur Norm erhoben. Die von Boltanski und Chiapello beschriebene Veränderung zeichnet den Aufstieg einer nicht-kommunistischen Linken am Beispiel der Managementliteratur nach und bestätigt somit die bisherige Analyse.

Eine weitere sozialwissenschaftliche Theorie, die die These vom Einfluss der Kulturpolitik während des Kalten Krieges stützt, stammt von dem bereits erwähnten Paul Piccone. Dieser stellt wie Boltanski und Chiapello ebenfalls die Frage nach den Gründen für das Verstummen linker Kritik im späten 20. Jahrhundert. (30) Seine Forschungen, die Piccone über die Jahre in verschiedenen Aufsätzen vorgestellt hat, analysieren die drei großen gesellschaftlichen Bürokratisierungsprozesse der 1930er Jahre, nämlich den Stalinismus, den Nationalsozialismus und den New Deal in den USA. Letzterer hatte zwar einen gänzlich anderen politischen Charakter als die zuvor genannten Phänomene, aber auch er führte letztlich zur Bürokratisierung gesellschaftlicher Prozesse.

Besonders interessiert sich Piccone für die paradoxen Wirkungen, welche im Zuge dieses Phänomens eintreten, etwa der Widerspruch, dass ein moderner Staat durch die Bürokratisierung gesellschaftlicher Prozesse die Opposition verlieren kann, die er einerseits fürchtet und andererseits doch benötigt. Ein moderner Staat, der somit keinerlei Opposition mehr ausgesetzt ist, gewinnt gegenüber der Gesellschaft eine Position, die Carl Schmitt als „Superlegalität“ (31) bezeichnet hat. Durch das Fehlen der Opposition erreicht der Staat nämlich einen solchen Legitimitätsüberschuss, dass er unter Ausnutzung der in der Gesellschaft verankerten Normen in die Lage versetzt wird, auf legalem Wege auf den Fortbestand der Legalität selbst einzuwirken. (32) Es kommt zu einer verhängnisvollen Verschmelzung von Legalität und Legitimität. Im schlimmsten Fall bedeutet dies den Übergang in die Diktatur.

Im günstigsten Fall führt die Superlegalität lediglich dazu, dass die selbstreferenziellen Prozesse innerhalb der staatlichen Bürokratie zunehmend die politischen Entscheidungen bestimmen. Als Folge muss schließlich eine Erstarrung der Regierungsbürokratie eintreten, die den Staat wiederum langfristig in eine Krise hineinführt, da sich die Politik zunehmend auf die Selbsterhaltungsinteressen der staatlichen Institutionen ausrichtet. Piccone zufolge war es genau diese negative Wirkung einer übermäßig starken Legalität staatlicher Strukturen, die zu der inneren Erstarrung der Sowjetunion geführt hat. Durch die starke Kontrolle der sowjetischen Gesellschaft fehlten dem Staatsapparat am Ende die Mechanismen zur Korrektur seiner eigenen politischen Prozesse. (33) Kurz: Es fehlte eine echte und authentische Opposition.

Doch seit jeher ist eine echte authentische Opposition, die wirklich selbständig aus den sozialen Prozessen der Gesellschaft hervorgeht, stets etwas, das jeder Staat fürchtet. Und diese Furcht wurde durch die geopolitische Konkurrenz des Kalten Krieges sogar noch gesteigert und bestimmte, wie eingangs gezeigt worden ist, auch das westliche System. Da der Staat einerseits eine Opposition benötigt, sie aber andererseits auch fürchtet, ist es laut Piccone im Kalten Krieg zur Entstehung einer künstlichen Opposition gekommen, für die er den Begriff „Artificial Negativity“ (34) oder „künstliche Negativität“ geprägt hat. Diese hat für den Staat den Vorteil, dass sie zwar auf Fehlentwicklungen in der staatlichen Bürokratie reagieren kann, dabei aber die Grundlagen des Gesellschaftssystems nie herausfordert.

Nach Piccone ist der Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis ins frühe 21. Jahrhundert hinein vom Siegeszug der künstlichen Negativität bestimmt, die Piccone in vielen Strömungen der „neuen Linken“ lokalisiert. (35) Insbesondere das Erbe der 68er-Bewegung ist ihm zufolge vor allem das In-Erscheinung-Treten einer künstlichen Opposition, die sich vorrangig auf die Nebenwidersprüche des Kapitalismus bezieht, während seine Hauptwidersprüche unadressiert bleiben. Zwar kommt auch der künstlichen Negativität eine gewisse Korrekturfunktion zu, da sie einige Widersprüche des Kapitalismus – wie z. B. einen durch stetige Konkurrenz entfachten Rassismus – zu mildern vermag. Weil sie jedoch die eigentlichen, aus der Ökonomie und Geschichte erwachsenden Fragestellungen verdrängt, kommt es am Ende dennoch zu einem Anwachsen der gesellschaftlichen Widersprüche; Widersprüche, die auch daher rühren, dass die öffentlichen Vertreter der künstlichen Negativität als neue privilegierte Klasse (New Class) in Erscheinung treten. (36)

Kurz: Die künstliche Opposition kann zwar durchaus für eine gewisse Zeit eine echte Opposition vertreten und ein Staatswesen stabilisieren, doch sie erzeugt neue Widersprüche, wenn sie dauerhaft eine echte Opposition ersetzen soll. Piccone sah seine Theorie als die eigentliche Fortsetzung der von Adorno und Horkheimer begonnenen Analyse der Kulturindustrie und der Kritik der verwalteten Gesellschaft.

Zusammenfassung

Die beiden hier erwähnten theoretischen Ansätze von Luc Boltanski und Ève Chiapello und die Analysen von Paul Piccone können als sozialwissenschaftliche Bestätigung der zuvor entwickelten These gelesen werden, der zufolge die kulturelle Dimension des Kalten Krieges tatsächlich die politische Kultur des Westens nachhaltig beeinflusst hat. Nachdem eingangs die Bedeutung der kulturellen Dimension des Kalten Krieges anhand seiner Ausgangslage herausgearbeitet worden ist, konnte von dort aus die historische Forschung über den kulturellen Krieg anhand einer Auswahl von vier Kernelementen besser eingeordnet werden. Schließlich fanden die dieserart hergeleiteten Zusammenhänge ihre Bestätigung durch die theoretischen Werke unterschiedlicher Sozialwissenschaftler. Der Wertekonflikt zwischen Ost- und Westeuropa, der entlang der einstigen Grenze des Kalten Krieges verläuft, scheint somit die entwickelten Argumente empirisch zu untermauern. Aus all dem ergeben sich die Umrisse eines Bildes über das Gewordensein der heutigen politischen Kultur des Westens, das äußerst bedenklich ist.

Zugleich soll darauf hingewiesen werden, dass diese Analyse keinesfalls im Widerspruch zu der These steht, dass es sich bei den Studentenprotesten in vielen westlichen Ländern im Jahr 1968 um spontane Revolten gehandelt habe, die durch die Struktur der damaligen Gesellschaft bedingt waren: Während der Periode des aufziehenden Faschismus, des Zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden Wiederaufbauphase war es zu einer 25 bis 30 Jahre andauernden Epoche kultureller Stagnation gekommen, durch welche ein Nachholbedürfnis entstanden war. Dieses Nachholbedürfnis traf auf eine zahlenmäßig große Generation junger Menschen und löste so in den späten 1960er Jahren eine spontane Dynamik aus, von der anfänglich unklar war, in welche Richtung sie sich entwickeln würde.

Doch auch wenn man die Studentenproteste von 1968 als eine spontane Revolte ansieht, ergibt sich dennoch die legitime Frage, ob das auch auf die langfristige Wirkung dieser Proteste zutrifft? Wir sind heute gewohnt, die 68er-Revolte als einen Erfolg der Linken anzusehen. Dabei kommen wir gar nicht auf die Idee, ob die langfristige Wirkung der 68er-Bewegung nicht vielleicht auch einen Erfolg des Sicherheitsapparats der NATO darstellt, und zwar insofern, als dieser möglicherweise gelernt hat, unter den ideologischen Bedingungen des Kalten Krieges eine politische Ausnahmesituation über einen längeren Zeitraum in ungefährliche bzw. gewünschte Bahnen zu lenken. Jedenfalls geben die hier zitierten Quellen allen Anlass, über diese These weiter nachzudenken.

Wie immer auch das historische Urteil im Detail ausfallen wird, so konnte diese Analyse doch zeigen, dass bestimmte Elemente in der Kulturpolitik des Westens während des Kalten Krieges einen langfristigen Einfluss auf die kulturelle Evolution Westeuropas und der USA genommen haben. Dies gilt insbesondere für die zwei Zielsetzungen des Kongresses für kulturelle Freiheit, nämlich zum einen Westeuropa für amerikanische Kultureinflüsse zu öffnen und zum anderen die Evolution der politischen Linken von den Hauptwidersprüchen des Kapitalismus auf seine Nebenwidersprüche umzulenken.

Insbesondere der letztgenannte Aspekt hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die Evolution politischer Ideen innerhalb des Westens genommen, so sehr, dass die heutige Linke Westeuropas einerseits zum kulturellen Zugpferd der Globalisierung geworden ist, während sie andererseits die Soziale Frage fast vergessen hat und ihre politischen Positionen beinahe ausschließlich von liberalen Standpunkten herleitet. Da jedoch die liberal gewendete „neue Linke“, die im Westen während des Kalten Krieges entstanden ist, in Osteuropa erst seit relativ kurzer Zeit existiert, ist die neue Werteordnung der Globalisierung bis heute in Osteuropa noch nicht kulturell verankert. Der aktuelle Wertekonflikt in Europa muss somit tatsächlich – wie eingangs vermutet – als Folge und Erblast der kulturellen Dimension des Kalten Krieges angesehen werden.

Weiterführende Fragen

Aus dieser Analyse ergeben sich zahlreiche weiterführende Fragen, etwa danach, wie überhaupt mit der Einsicht umgegangen werden soll, dass geheimdienstlich gesteuerte Institutionen wie der Kongress für kulturelle Freiheit auf der Basis militärischer Sicherheitsbedenken während des Kalten Krieges Einfluss auf die weitere kulturelle Evolution der westlichen Gesellschaften genommen haben? Welche Gehalte des kulturellen Erbes Europas sind dadurch geschwächt worden oder womöglich sogar verloren gegangen? Welche Folgen könnte es langfristig für unsere Kultur haben, dass ihre Fortentwicklung zunehmend von Interessen beeinflusst wurde und wird, die einer Rationalität folgen, für die die Kultur nicht mehr der Zweck an sich, sondern nur noch ein Mittel für andere Zwecke ist? Müssen wir fürchten, dass die europäische Kultur dadurch selbst einen künstlichen Charakter angenommen hat, wie es bereits Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ beklagen? Welche Folgeprobleme werden sich daraus langfristig ergeben? Und welche Verantwortung tragen Geisteswissenschaftler, die gegenüber der übrigen Bevölkerung das Privileg besitzen, sich des historischen Gewordenseins der eigenen Kultur bewusst werden zu können? Diese Fragen bedürfen weiterer Forschung.

Dieser Essay erschien zuerst unter dem Titel "Die kulturelle Dimension des Kalten Krieges und 1968" in der von Carsten Gansel und Janine Ludwig herausgegebenen Monographie "1968 – Ost – West: Deutsch-deutsche Kultur-Geschichten". Der Sammelband wurde 2021 im Okapi-Verlag veröffentlicht.

Über den Autor: Hauke Ritz, Jahrgang 1975, studierte an der FU und HU Berlin. Nach seiner Dissertation im Fach Philosophie mit dem Schwerpunkt Geschichtsphilosophie beschäftigte er sich intensiv mit dem Ost-West-Konflikt, dessen Fortbestehen er seit 2008 im Zuge verschiedener Publikationen und seit 2014 durch regelmäßige Russlandreisen erforscht. Er hat an der Universität Gießen, der MSU und RGGU in Moskau sowie der Universität Belgorod unterrichtet und war zuletzt für den DAAD in Moskau tätig.

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Anmerkungen

(1) Saunders, Frances Stonor: Who Paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War. London: Granta Books 1999.

(2) Hochgeschwender, Michael: Freiheit in der Offensive. Der Kongress für kulturelle Freiheit und die Deutschen. München: de Gruyter 1998.

(3) Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München: de Gruyter 1999.

(4) Whitney, Joel: Finks. How the CIA Tricked the World’s Best Writers. New York/London: OR Books 2016.

(5) Vgl. Saunders, Who Paid the Piper? 1999.

(6) Saunders, Who Paid the Piper? 1999, S. 127.

(7) Saunders, Who Paid the Piper? 1999. Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Stonor Saunders, Frances: Wer die Zeche zahlt… Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. München 2001, S. 129.

(8) Braden, Thomas W.: I’m glad the CIA is ‚immoral‘. In: The Saturday Evening Post vom 20.05.1967, S. 10–14.

(9) Saunders, Who Paid the Piper? 1999, S. 116 f.

(10) Ebd., S. 256 f.

(11) Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. 1999, S.167.

(12) Vgl. Dussel, Konrad: The Triumph of English-Language Pop Music. The West German Radio Programming. In: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef (Hrsg.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies 1960–1980. New York/Oxford 2005, S.131.

(13) Vgl. Ross, Kristin: Fast Cars, Clean Bodies. Decolonization and the Reordering of French Culture.
Massachusetts: The MIT Press 1995.

(14) Borkenau, Franz: The Totalitarian Enemy. London: Ams Pr Inc 1940.

(15) Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1955.

(16) Saunders, Who Paid the Piper? 1999, Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Stonor Saunders, Frances: Wer die Zeche zahlt… Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. München 2001, S. 83.

(17) Ebd., S. 101.

(18) Saunders, Who Paid the Piper? 1999. S. 215 f.

(19) Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive. 1998, S. 195.

(20) Saunders, Who Paid the Piper? 1999. S. 62 f.

(21) Ebd., Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Stonor Saunders, Frances: Wer die Zeche zahlt… Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg. München 2001, S. 69

(22) Warner, Michael: Origins of the Congress for Cultural Freedom. 1949–50

(23) Saunders, Who Paid the Piper? 1999, Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Saunders, Wer die Zeche zahlt… 2001, S. 69.

(24) Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive. 1998, S. 87 f.

(25) Vgl. Saunders, The Truth Campaign, in: Who Paid the Piper? 1999, S. 146–156.

(26) Saunders, Who Paid the Piper? 1999, Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Saunders, Wer die Zeche zahlt… 2001, S. 143.

(27) Vgl. CIA Research Paper. France. Defection of Leftist Intellectuals. Langley, VA, USA, 1985. Sanitized Approved Copy for Release 2011/05/13

(28) Boltanski, Luc; Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Paris: Editions Gallimard 1999/Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003.

(29) Piccone, Paul: Confronting the Crisis. Writings of Paul Piccone. New York: Telos 2008.

(30) Piccone, Paul: Why did the Left Collapse? In: Ebd., S. 259–266.

(31) Vgl. Schmitt, Carl: Die legale Weltrevolution. In: Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924 – 1978. Berlin: Duncker & Humblot 2005, S. 919 – 936.

(32) Ebd., S. 923.

(33) Piccone, Paul: Reinterpreting 1968: Mythology on the make. In: Ebd., S. 167 ff.

(34) Piccone, Paul: Artificial Negativity as a Bureaucratic Tool? In: Ebd., S. 129–145.

(35) Piccone, Paul: Reinterpreting 1968: Mythology on the make. In: Ders., Confronting the Crisis. 2008, S. 146–183.

(36) Piccone, Paul: Populism vs. New Class. In: Ders., Confronting the Crisis. 2008, S. 203 f.

LISA MARIA LEWIN, 3. Januar 2023, 03:50 UHR

Die spannenden Aussagen dieses Artikels lassen sich ergänzen durch das, was in meinem Freundeskreis bekannt ist über viele Dissidenten der DDR. Dort war es Mode, für den Trotzkismus gegen Stalinismus zu werben. Trotzki galt ihnen als der "demokratische Sozialismus". Aus russischer ("rechts-offener") Sicht dürfte das wie geistige Verwirrung klingen, aber in der DDR wurde der "demokratische Trotzkismus" von diesen Intellektuellen wirklich geglaubt und propagiert. Wo hatten sie diese Erzählung bloß her?

Meine Freunde äußerten sich schockiert über eine ganz große Diskussionsveranstaltung der "Linken" in Berlin zu Beginn 1990, wo man Ernest Mandel - damals das weltweite Oberhaupt des Trotzkismus, eingeladen hatte zu einer Podiumsdiskussion. Zum Beispiel galt dort die feministische Regel, dass in der Diskussion einem Mann das Wort nicht erteilt wird, wenn sich eine Frau zu Wort meldet. Dabei waren auch Frauen, denen das echt zu dumm war ("Ich kann mich auch in der Schlange anstellen!"), aber die Veranstalter zogen diese Ideologie eiskalt durch. Schlagartig hatten wir also zu Beginn1990 schon den Klassenkampf der Frau gegen den Mann, der unsere Umwelt zerstört, so wie es die Luisa Neubauer heute ja ganz offen lehrt. Damals hatten diese Ideologien aber noch nicht die Freundschaften zerstört.

Die Gutgläubigen waren aber schon in der DDR indoktriniert worden, z.B. in den Kirchen und in den Wissenschaften für die Umweltbewegung mit Kampfthemen wie böses Waldsterben und ganz böser Atomstrom. Wohin es führen kann, wenn man Sachfragen zu Glaubensfragen macht, hatten all diese "demokratisch" Gutgläubigen damals nicht geahnt.

Ähnlich enttäuschend war die sogenannte Stasi-Aufarbeitung des Pfarrers Gauck, bei der völlig unter den Tisch fiel, dass die Stasi systematisch westliche Embargo-Technik besorgt hatte für die DDR, was in den 1980er Jahren die technologische Zusammenarbeit mit den Russen zum Einsturz brachte. Das war ein offenes Geheimnis in der DDR. Zuletzt hatten die "Fachleute" der DDR nicht einmal mehr den amerikanischen Originaltext ins DDR-Deutsch übersetzt. Das ist ein harter Fakt. Er passt nur nicht zu den Narrativen mit der Freiheit und anderen undefinierten Glaubensworten.

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