Ein Bild des Malers Mark Rothko (1903-1970) in einer Ausstellung des Metropolitan Museum of Art, New York | Bild: picture alliance/EPA-EFE | Justin Lane

Der Kalte Krieg und die künstliche Kultur – oder wie das Endspiel Europa begann | Teil I

Der folgende Essay beschäftigt sich mit der Kulturpolitik des Kalten Krieges. Im ersten Teil geht es um die zeitgeschichtlichen Umstände, die dazu geführt haben, dass die Sphäre der Kultur im Verlauf des Kalten Krieges eine immer wichtigere Bedeutung gewann. Im zweiten Teil werden die einzelnen Maßnahmen sowie die Ziele genauer in den Blick genommen. Da viele der damals eingeleiteten Maßnahmen bis heute fortwirken, beschreibt dieser Essay zugleich das Gewordensein der heutigen Kultur.

HAUKE RITZ, 27. Dezember 2022, 2 Kommentare, PDF

Die späten 1960er und frühen 70er Jahre sind zum Symbol einer Kulturveränderung innerhalb der westlichen Welt geworden, die immer noch nachwirkt. Welche Relevanz hat es, dass diese Periode – die oft durch die Jahreszahl 1968 symbolisiert wird – ungefähr in der Mitte des Kalten Krieges angesiedelt ist? Können die kulturelle Veränderung der späten 1960er, frühen 70er Jahre sowie der Kalte Krieg prinzipiell in einen Zusammenhang zueinander gestellt werden? Besteht zwischen beiden Phänomenen überhaupt eine Verbindung? Und wenn eine solche Konjunktion angenommen werden darf, wie könnte sie wissenschaftlich erschlossen werden?

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die akademische Forschung ihre Schwierigkeiten mit der kulturellen Dimension des Kalten Krieges hat. Zunächst deshalb, weil die Analyse von machtpolitischen Zusammenhängen grundsätzlich schwer zu leisten ist. Die Geschichte zeigt, dass die Erforschung von Machtbeziehungen zu allen Zeiten kontrovers gewesen ist. In der Regel müssen die beteiligten politischen Akteure bereits verstorben sein und die ideologische Formation bereits der Vergangenheit angehören, ehe machtpolitische Zusammenhänge in ihrer vollen Tragweite der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht werden können.

Diese Schwierigkeit nimmt sogar noch zu, wenn man, wie es in diesem Beitrag probiert werden soll, politische Macht im Zusammenhang von Kulturveränderungen analysiert. Denn Kultur ist nur ein anderes Wort für die Lebenswelt, die uns umgibt, die uns als Personen und Charaktere konstituiert und zu der wir in der Regel ein unmittelbares und überwiegend unbewusstes Verhältnis pflegen. Der Gedanke, die uns umgebende Kultur könnte zu einem Objekt machtpolitischer Einflussnahme geworden sein, berührt daher die Grundfesten unserer Identität und kann deshalb leicht Ängste und Abwehrreaktionen hervorrufen. Aus diesem Grund soll im Folgenden kritischen Einwänden vorgegriffen werden. Es wurde deshalb ein Ansatz gewählt, der das Thema möglichst grundsätzlich angeht. Dementsprechend soll mit der Frage begonnen werden, warum die kulturelle Dimension des Kalten Krieges überhaupt ein Thema für die Forschung sein sollte.

Warum die kulturelle Dimension des Kalten Krieges wichtig ist

Am Beginn dieser Argumentation steht die These, dass die kulturelle Dimension des Kalten Krieges die wichtigste Sphäre gewesen ist. Sie war das bedeutendste Feld innerhalb der Auseinandersetzung der Supermächte, weil die Kulturpolitik des Kalten Krieges Folgen gehabt hat, die bis heute die Entwicklung der westlichen Welt beeinflussen. Zugleich war der „kulturelle Kalte Krieg“ (1), wie er auch genannt wurde, entscheidend für den Ausgang des Kalten Krieges insgesamt. Warum es sich so verhält, wird schnell deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Kalte Krieg nicht zu Ende gegangen ist, weil das Wettrüsten zu einer Entscheidung gelangt wäre: In militärischer Hinsicht bestand durch die spezifische Natur von Atomwaffen im Grunde genommen eine Pattsituation. Es soll im Folgenden ausgeführt werden, dass auch der wirtschaftliche Wettstreit der Systeme im Grunde genommen bis zum Ende unentschieden geblieben ist.

Natürlich war der Westen, als der Kalte Krieg 1947 begann, bereits wirtschaftlich überlegen. Der Osten war in wirtschaftlicher Hinsicht von Anfang an die schwächere Partei, sowohl hinsichtlich seines Entwicklungsstandes als auch hinsichtlich der Kriegsschäden, die überwiegend im Osten Europas konzentrierten waren. Allerdings blieb dieses unterschiedliche Kräfteverhältnis während des gesamten Kalten Krieges bestehen. Es war sogar so, dass in den ersten 25 Jahren des Kalten Krieges der sozialistische Staatenbund, der sich im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammengeschlossen hatte, wirtschaftlich etwas aufholen konnte. Ab den frühen 1970er Jahren waren dann die Wachstumszahlen im westlichen Weltsystem wieder etwas höher; insgesamt blieb es aber eine ausgeglichene Bilanz. (2) Wäre dies nicht so gewesen, so hätte die UdSSR nicht die durchaus beeindruckenden Aufbauleistungen erzielen können, die mit der Entwicklung Zentralasiens und Teilen Sibiriens verbunden gewesen sind und für die es kein Äquivalent im westlichen Weltsystem gibt.

Hinzu kommt, dass der Osten auf seinem eigenen Territorium über alle Rohstoffe, die er für seine eigene wirtschaftliche Entwicklung benötigte, verfügte. Ein weiterer Faktor, der die hier vertretene These von der wirtschaftlichen Pattsituation unterstreicht, besteht darin, dass das östliche, sozialistische Weltsystem nahezu alle Güter, derer es bedurfte, auf seinem eigenen Territorium selbst herstellte – lediglich im Falle der DDR verhielt es sich aus historischen Gründen etwas anders. Aber insgesamt verfügten die Sowjetunion und ihre Verbündeten über wirtschaftliche Autarkie.

Vor diesem Hintergrund ist die Aussage, die man heute häufig in den Zeitungen lesen kann, dass der Osten wirtschaftlich pleite gewesen wäre, rundweg falsch. Eine Allianz von Staaten, die sowohl im Hinblick auf Rohstoffe und Produktpalette als auch militärisch und ideologisch souverän und autark ist, ein solches Wirtschaftssystem kann nicht pleitegehen. Die Sowjetunion hatte 1990 lediglich Schulden in Höhe von 38 Milliarden Dollar, was einem äußerst geringen Anteil ihres damaligen Bruttosozialprodukts entsprach. (3) Selbst in dem Fall, dass bestehende Schulden gegenüber dem Ausland nicht hätten zurückgezahlt werden können, konnte die Rückzahlung vor dem Hintergrund militärischer, ideologischer und wirtschaftlicher Autarkie auch verweigert werden.

Es ist zwar richtig, dass die Sowjetunion in den 1980er Jahren aus mindestens fünf verschiedenen Gründen in eine wirtschaftliche Stagnationsphase geraten war. (4) Doch erstens führen Wirtschaftskrisen nicht automatisch zum Zusammenbruch von Gesellschaftssystemen, und zweitens hätten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch innerhalb des Sozialismus durch Reformen gelöst werden können. (5) Dass z.B. die wachsende Komplexität der sowjetischen Wirtschaft die planwirtschaftlichen Verfahren zunehmend überforderte, stellte zwar ein Krisenphänomen dar, allerdings eines, dem auf vielfältige Weise innerhalb des bestehenden sozialistischen Rahmens hätte begegnet werden können. Die Privatisierung des Volkseigentums lässt sich hieraus nicht zwingend ableiten. Die hohen Militärausgaben, die die Wirtschaft belasteten, hätten signifikant gemindert werden können, ohne dass dabei die Abschreckungsfähigkeit in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. (6)

Dass der Kalte Krieg an sein Ende gelangte, ist schlicht und ergreifend anderen Tatsachen geschuldet gewesen als der wirtschaftlichen Situation. Die wirtschaftliche Gesamtlage war zwar von einer Wirtschaftskrise bestimmt, aber diese war nicht der eigentliche Auslöser des Zusammenbruchs des sozialistischen Weltsystems. Dafür waren ganz andere Faktoren verantwortlich, Faktoren, die in der kulturellen Dimension des Kalten Krieges zu suchen und aufzufinden sind:

So sei zuerst die Tatsache aufgeführt, dass die Eliten des sozialistischen Systems zum großen Teil das Privileg besaßen, Reisen ins nichtsozialistische Ausland zu unternehmen. Sie konnten auf ihren Reisen in den Westen sehen, dass die westlichen Gesellschaften einen besseren Ausgleich zwischen individueller Freiheit und sozialer Absicherung gefunden hatten als das östliche System. Dies galt insbesondere für die ‚goldenen Jahre‘ des Westens, in denen der Wohlstand noch deutlich gleichmäßiger verteilt war als heute. Während der 1960er und -70er Jahre war auch der Westen und insbesondere Westdeutschland von der Sozialdemokratie und somit vom Erbe der Arbeiterbewegung geprägt – ein Umstand, der den Gegensatz zwischen beiden Systemen just in der Mitte des Kalten Krieges abschwächte.

Ein weiterer Faktor war die kulturelle Erneuerung des westlichen Systems ab den 1960er Jahren. Noch in den 50er Jahren gab es keinen tiefgreifenden kulturellen Unterschied zwischen West- und Osteuropa, insofern, als sich Kleidung, Alltagsmusik, das Verhältnis zum Bildungskanon etc. sehr stark ähnelten. Doch ab den 60er Jahren begann sich dies zu ändern. Im Westen entstand etwas, das man als eine neue Interpretation der Moderne bezeichnen könnte. Dieses neue Kulturverständnis durchdrang alle Bereiche der Gesellschaft, von der Kleidermode über die Alltagsmusik bis hin zu neuen Moralvorstellungen. Diese tiefgreifende kulturelle Erneuerung des Westens während des Kalten Krieges wurde von Vertretern der sozialistischen Elite auf ihren Auslandsreisen wahrgenommen. Und auch die Bevölkerungen in den sozialistischen Staaten, die nicht ohne Weiteres in den Westen reisen konnten, begannen sich dennoch für die Symbole der neuen westlichen Kultur zu interessieren, seien dies nun Jeans oder Rock- und Popmusik.

Im weiteren Verlauf des Kalten Krieges entstand hieraus allmählich eine kulturelle Dominanz des Westens. Sie zeigte sich darin, dass dieser seine eigene kulturelle Entwicklung als normative zu etablieren vermochte, der gegenüber die Kulturentwicklung im Osten als Abweichung bzw. Stagnation wahrgenommen wurde. Gerade die Abschottung der sozialistischen Gesellschaften vom Westen machte die westliche Zivilisation für Teile der sozialistischen Gesellschaften zu einer Art Fata Morgana. Gegenüber dieser Fata Morgana schmolzen die durchaus vorhandenen Errungenschaften des Sozialismus dahin, während der Westen – ohne jemals in die Erfüllungspflicht genommen zu werden – das schier unerschöpfliche Reservoir projizierter Sehnsüchte anzuzapfen vermochte. Dies führte dazu, dass das Selbstbewusstsein, mit dem sowjetische Politiker noch in den 60er Jahren ihren westlichen Kollegen begegnet waren (7), in den 80er Jahren mehr und mehr in Zweifel umschlug. Teile der sozialistischen Politiker begannen, über die Möglichkeit einer Konvergenz zwischen dem östlichen und dem westlichen System nachzudenken. Sowohl die westeuropäische Sozialdemokratie als auch die Themen und Fragestellungen des damals viel diskutierten Club of Rome schienen hierfür eine tragfähige Grundlage zu bieten.

Auf der Basis dieser Überlegungen leitete zunächst Juri Andropow 1983/84 als Generalsekretär Reformen ein, die allerdings durch seinen Tod unterbrochen wurden. Nach der ebenfalls kurzen Amtszeit von Konstantin Tschernenko wurde diese Politik von Andropows Wunschnachfolger Michail Gorbatschow erneut aufgegriffen und weitergeführt. Gorbatschow leitete schließlich den Prozess von Glasnost und Perestroika ein, in dessen Verlauf die Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität der osteuropäischen Staaten aufgegeben wurde. Die Rückgabe der Souveränität an die Staaten Osteuropas war aber aufs Engste mit dem neuen politischen Stil Gorbatschows verknüpft und durchaus keine zwangsläufige Entwicklung.

Gorbatschow versuchte, eine neue Vertrauensbasis in den internationalen Beziehungen zu schaffen, indem er bewusst auf die klassischen Regeln der Machtpolitik verzichtete. Gorbatschows Politik zeigte ein grundsätzliches Vertrauen in die zivilisatorische Kraft des westlichen Systems. Die tragische und von Gorbatschow selbst nicht ausreichend antizipierte Folge dieser Politik war, dass eine Kette von Auflösungstendenzen im östlichen Weltsystem in Gang gesetzt wurde, was von der ungarischen Grenzöffnung über den Fall der Mauer schließlich zum Ende des Sozialismus und zur Auflösung der Sowjetunion führte. Zudem überschätzte Gorbatschow das zivilisatorische Potenzial des Westens. Es bleibt festzuhalten, dass die Tatsache, dass die damalige Spitze der sowjetischen Regierung auf Vertrauensbildung statt auf Machtpolitik setzte (8), wenig mit der militärischen oder wirtschaftlichen Dimension des Kalten Krieges zu tun hatte, wohl aber sehr viel mit seiner kulturellen Dimension.

Es war der kulturelle Einfluss des Westens, der über die Jahrzehnte Anerkennung, Neugier und Vertrauen sowohl in der Bevölkerung als auch bei Teilen der Elite gestiftet hatte und der letztendlich auch die vertrauensbildende Politik Gorbatschows ermöglichte. Aus diesem Grund ist die kulturelle Dimension des Kalten Krieges entscheidend für dessen Ausgang gewesen und sollte deshalb ein Gegenstand der Forschung sein.

Das veränderte Verhältnis von Kultur und Macht im 20. Jahrhundert

Doch die kulturelle Dimension des Kalten Krieges ist noch aus einem ganz anderen Grund von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Dieser Grund hat weniger mit dem Kalten Krieg selbst, sondern mehr mit der technischen Entwicklung innerhalb des 20. Jahrhunderts zu tun. Denn das 20. Jahrhundert entwickelte insgesamt ein neues Verhältnis zwischen politischer Macht und Kulturentwicklung, und zwar eines, das sich radikal von allen vorangegangenen Jahrhunderten unterschied. Über viele Jahrhunderte hinweg erfolgte die Kulturentwicklung relativ selbstständig und dezentral. Die Kirche und die verschiedenen Herrscherhäuser hatten zwar stets versucht, Einfluss auf die Kulturentwicklung zu nehmen, doch die Mittel, die ihnen dazu zur Verfügung standen, waren begrenzt, was auch daran ersichtlich ist, dass sie zwar in der Lage waren, den Prozess der Aufklärung mit all seinen politischen Implikationen etwas zu verlangsamen, ihn aber nicht zu stoppen oder umzukehren vermochten.

Dies ändert sich jedoch mit dem Eintritt der Menschheit in das 20. Jahrhundert. Bereits während des Ersten Weltkrieges entstehen erstmals große Propagandaapparate. Insbesondere in den USA kommt es zur Entstehung einer Public-Relations-Industrie, zu deren ersten Erfolgen es gehörte, die seinerzeit kriegsskeptische amerikanische Bevölkerung von einer Beteiligung am Ersten Weltkrieg zu überzeugen. (9) In den darauffolgenden 1920er Jahren kommt es zur zunehmenden Industrialisierung der Kultur als solcher, für die Namen wie Hollywood, Disney und Babelsberg zu Symbolen werden. Die Kulturproduktion wird mehr und mehr vom einzelnen Autor abgelöst und auf industrielle Verfahrensweisen übertragen. Sie wird somit zum Gegenstand der Arbeitsteilung und erfordert den Einsatz immer größerer Geldmittel. Damit verändern sich aber zugleich auch Ausdruck und Wahrheitsgehalt der kulturellen Gebilde.

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben diese Veränderung zwei Jahrzehnte später in ihrem Theorem von der Kulturindustrie eingehend analysiert. (10) Während die autonome Kunst von der italienischen Renaissance bis ins 19. Jahrhundert in ihrer Entstehung noch von den Selbstbildungsprozessen des Individuums abhing (und diese daher auch in der Rezeption überwiegend unterstützt und angeregt hat), kommen die Gebilde der Kulturindustrie im Zuge der Arbeitsteilung quasi automatisch als Resultat eines industriellen Herstellungsprozesses zustande und zielen dementsprechend auf kommerzielle Zwecke ab, die wiederum am leichtesten durch Zerstreuung und Amüsement erreicht werden können. (11) Das „Dritte Reich“ hat dann das erste Mal gezeigt, in welchem Grade diese neuen Techniken zur Produktion von Kulturgütern auch zu Manipulationszwecken eingesetzt werden können. Allerdings umfasste die Herrschaftszeit des NS-Regimes nicht einmal einen Generationswechsel und war am Ende zu kurz, um den Gesellschaftskörper umfassend zu verändern. Daher konnte die von den Nazis angestrebte totale Neuentwicklung der kulturellen Sphäre nicht verwirklicht werden.

Einen potenziellen Rahmen, der dies theoretisch hätte ermöglichen können, stellte erst der Kalte Krieg bereit. Der Kalte Krieg dauerte über 40 Jahre und schloss damit einen ganzen Generationswechsel mit ein. Er beruhte zudem auf dem Gleichgewicht einer stabilen Polarität zweier ideologischer Weltsysteme, wodurch es tatsächlich möglich wurde, die neuen Formierungstechniken für Kulturbildung langfristiger anzuwenden. Zwar beweist das Vorhandensein technischer Möglichkeiten, die Evolution der Kultur zu beeinflussen, noch nicht automatisch, dass dies auch geschehen ist, jedoch sollte man vor diesem Hintergrund die Kulturveränderungen, die während des Kalten Krieges erfolgten, eingehender studieren. Denn der Kalte Krieg besaß nicht nur eine kulturelle Dimension, er vollzog sich entlang ideologischer Trennlinien und nahm deshalb in bestimmten Phasen geradezu die Gestalt eines Kulturkampfes an. An seinem Beispiel kann demnach das veränderte Verhältnis zwischen politischer Macht und Kultur im 20. Jahrhundert genauer untersucht werden.

Das Zeitalter der Moderne geht auf das späte 18. Jahrhundert zurück und ist somit mehr als 200 Jahre alt. Doch die spezifische Form der Modernität, in der wir heute leben, ist dann doch in einem ganz entscheidenden Maße während der Ära der Blockkonfrontation geprägt worden. Während des Kalten Krieges veränderte sich die Moderne, sie wurde auf westlicher Seite postmodern (12) bzw. nahm die Form des posthistoire (13) an. Welchen Begriff man hierfür auch immer verwenden möchte – die Beschäftigung mit der kulturellen Dimension des Kalten Krieges ist in jedem Fall eine Beschäftigung mit der Gewordenheit unserer eigenen Kultur.

Der heutige Wertekonflikt in Europa: Folge des Kalten Krieges?

Dass diese Prägung tatsächlich so tief gewesen ist, dass sie die wissenschaftliche Erforschung rechtfertigt, dafür gibt es in unserer eigenen Gegenwart deutliche Hinweise. So existiert heute innerhalb der Europäischen Union ein Wertekonflikt, der sich dadurch auszeichnet, dass seine Trennlinien weitestgehend entlang der ehemaligen Grenze des Kalten Krieges verlaufen. Dieser Konflikt bezieht sich einerseits auf die Rolle der christlichen Tradition für das zukünftige Europa, entzündet sich aber andererseits auch an der Frage, inwiefern eine lang anhaltende Migration das Gesicht der zukünftigen europäischen Gesellschaft bestimmen soll. Schließlich sind auch Fragen über die Rechte sexueller Minderheiten in den modernen Gesellschaften ein Streitthema dieses innereuropäischen Wertekonflikts. (14) Die ehemals sozialistischen Länder wie Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, die baltischen Staaten, Belarus und Russland tendieren mehrheitlich dazu, an den christlichen Wurzeln Europas festzuhalten. (15) Oberflächlich betrachtet, erscheint dies widersprüchlich, da ja gerade in sozialistischen Staaten der gesellschaftliche und politische Einfluss der Kirche stark beschränkt wurde. Doch relativiert sich dies wieder, wenn man bedenkt, dass der Sozialismus aus ideengeschichtlicher Perspektive durchaus als ein Säkularisierungsphänomen des Christentums angesehen werden kann. (16) Aus diesem Grund wurde die säkularisierte Form des christlichen Wertekanons im östlichen System sogar stärker konserviert, als dies im Westen der Fall gewesen ist. (17)

Bemerkenswert ist außerdem, dass die osteuropäischen Staaten einer fortschreitenden Einwanderung und dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft eher ablehnend gegenüberstehen, auch wenn einzelne westeuropäische Staaten wie Dänemark oder Österreich hier jüngst eine ähnliche Haltung eingenommen haben. (18) Und schließlich tendieren die einst sozialistischen Gesellschaften dazu, die Norm einer heterosexuellen Familie höher zu bewerten als die Rechte sexueller Minderheiten. (19) Im Gegensatz dazu neigen fast alle westeuropäischen Gesellschaften von Westdeutschland, Frankreich, den Beneluxstaaten bis hin zu den skandinavischen Staaten dazu, den Bedeutungsverlust des Christentums weitgehend zu akzeptieren, Migration zu befürworten und die Rechte sexueller Minderheiten als normalen Bestandteil des Wertekanons und öffentlichen Diskurses zu betrachten. Weil die Trennlinie zwischen beiden Weltanschauungen zwar nicht ausschließlich, aber doch im ganz entscheidenden Maße der ehemaligen Grenze des Kalten Krieges folgt und sogar die Grenzziehung zwischen West- und Ostdeutschland wiederholt (20), stellt sich natürlich die Frage, wie konkret die kulturelle Dimension des Kalten Krieges mit diesem Kulturkonflikt verbunden ist?

Hat vielleicht auch die 68er-Bewegung hiermit etwas zu tun? Besteht denn überhaupt ein Zusammenhang zwischen dem kulturellen Umbruch der späten 1960er und frühen -70er Jahre und dem Kalten Krieg? Um für diese komplizierte Frage einen sachlichen Rahmen zu finden, erscheint es ratsam, eine Methode zu wählen, die das Nachdenken über die Ausgangsbedingungen des Kalten Krieges zur Basis der Rekonstruktion dieses Kulturkonfliktes macht. Im Folgenden sollen daher von diesen Ausgangsbedingungen Rückschlüsse auf die Struktur und Form einer westlichen Kulturpolitik gezogen werden. Diese können dann in einem weiteren Schritt anhand der historischen Forschung über den Kalten Krieg überprüft werden, wobei auch sozialwissenschaftliche Forschungen ergänzend hinzugezogen werden sollen.

Lässt sich nämlich auf diese Weise die kulturpolitische Strategie des Kalten Krieges rekonstruieren und kann sie darüber hinaus mit den historisch und sozialwissenschaftlich dokumentierten Kulturveränderungen in dieser Zeit übereinstimmend beschrieben werden, so würde dies die Hypothese erhärten, dass die kulturellen Umbrüche der 60er und 70er Jahre zumindest zum Teil als Folgen des kulturellen Kalten Krieges angesehen werden können. Vor diesem Hintergrund darf man dann den bereits erwähnten aktuellen Wertekonflikt zwischen West- und Osteuropa als empirischen Beleg zur Bestätigung der Arbeitshypothese betrachten.

Die Ausgangsbedingungen des Kalten Krieges und die Bedeutung der Kulturpolitik

Bereits zu Beginn des Kalten Krieges kamen der Kultur und der Kulturpolitik eine tragende Rolle zu. (21) Dass wir uns heute dessen kaum bewusst sind, hat mit unserem historischen Wissen über den Ausgang des Kalten Krieges zu tun. Weil uns bewusst ist, dass der Westen letztendlich die dominante Macht im Kalten Krieg war, neigen wir dazu, auch den Beginn des Kalten Krieges aus der Perspektive der späteren westlichen Überlegenheit zu betrachten. Dadurch übersehen wir jedoch die anfängliche Verletzlichkeit des Westens in der ideologischen Auseinandersetzung. Diese Schwäche des Westens ist aber entscheidend, um die Ausrichtung sowie die Entschlossenheit seiner Kulturpolitik zu verstehen.

Versetzt man sich hingegen unter Ausblendung unseres heutigen geschichtlichen Wissens an den historischen Ausgangspunkt des Kalten Krieges, so ergeben sich ganz neue Perspektiven. Wie bereits erwähnt, war der Westen schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einer wirtschaftlich überlegenen Position. In ideologischer Hinsicht war das Kräfteverhältnis aber durchaus nicht so eindeutig: Es gibt zahlreiche Argumente, die zeigen, dass auf dem Feld der Ideologie anfänglich die Sowjetunion eine überlegene Position innehatte. Um dies zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, von welchen vorangegangenen Entwicklungen die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt gewesen ist:

Die späten 1940er und frühen -50er Jahre waren davon bestimmt, dass der Liberalismus nach einer langen Phase der Hegemonie in eine Schwächeperiode eingetreten war. Die vorausgegangene lange liberale Epoche begann bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts und endete zunächst mit dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg gab es allerdings zahlreiche Versuche zur Wiederbelebung einer liberalen Weltordnung, Versuche, die erst mit der Weltwirtschaftskrise 1929 an ihr vorläufiges Ende gelangten. Im Zuge dieser langen liberalen Ära von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur großen Depression von 1929 war es bereits zu einer ersten Phase der Globalisierung gekommen. Diese erste Phase internationaler Wirtschaftsverflechtungen war so intensiv, dass der auf ihrem Höhepunkt 1913 erzielte Handelsumsatz so groß gewesen ist, wie er erst Anfang der 70er Jahre wieder erreicht wurde.

Doch gerade weil der Liberalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert großen Einfluss besaß, machte man ihn auch für den Ausbruch zweier Weltkriege mitverantwortlich – schließlich hatte ja die Konkurrenz imperialer Mächte zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt. Auch waren es liberale Staaten gewesen, die mit dem Vertrag von Versailles 1919 einen Friedensschluss durchgesetzt hatten, in dem bereits der Keim eines weiteren Krieges angelegt gewesen ist. Und schließlich war es auch eine liberale Wirtschaftspolitik gewesen, die zu wachsenden wirtschaftlichen Ungleichgewichten und somit zum Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 geführt hatte. Da im Schatten dieser bislang größten kapitalistischen Wirtschaftskrise in mehreren Staaten faschistische Regierungen an die Macht gelangt waren, war somit die lange liberale Ära auch für den Aufstieg des Faschismus zumindest indirekt mitverantwortlich. Mit anderen Worten: Die Hegemonie liberaler Ideen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise hatte eine tiefgreifende Legitimitätskrise des Liberalismus ausgelöst, die auch nach dem Sturz des Faschismus noch längst nicht überwunden war. (22)

Die aus dieser Vorgeschichte erwachsene Schwäche des Liberalismus drückte sich z. B. auch darin aus, dass in den späten 1940er und frühen -50er Jahren viele renommierte Intellektuelle – man denke etwa an Albert Einstein in den USA, Jean-Paul Sartre in Frankreich oder auch an den eigentlich konservativen Thomas Mann in Deutschland – durchaus Sympathie mit dem sozialistischen Gesellschaftsversuch bekundeten. Das gesamte Spektrum linker Theorien vom Anarchismus und Sozialismus bis hin zum Kommunismus war in der unmittelbaren Nachkriegszeit dem Liberalismus auf dem Gebiet der Theorie überlegen. Die Arbeiterbewegung hatte viele Intellektuelle hervorgebracht und war in der Lage, die Widersprüche der liberalen Gesellschaft auf einem deutlich höheren Niveau zu analysieren als umgekehrt der Liberalismus die Widersprüche linker Gesellschaftsentwürfe. Sozialistische und kommunistische Theorie schienen eine Antwort auf all die Probleme bereitzuhalten, die die lange liberale Epoche des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hatte; Probleme, die die Welt schließlich in die Katastrophenjahre von 1914 bis 1945 geführt hatten.

Diese intellektuelle, geistige und kulturelle Überlegenheit sozialistischer und kommunistischer Gesellschaftskritik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg noch dadurch verstärkt, dass die Arbeiterbewegung damals einen sehr hohen Organisationsgrad aufwies. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Arbeiterklasse in den industrialisierten Staaten Europas in den 40er und 50er Jahren in etwa die Hälfte der Bevölkerung umfasste. In Westdeutschland wurde die KPD zwar verboten, doch ließ sich dieses Vorgehen nicht auf ganz Westeuropa übertragen: In Italien und Frankreich war die kommunistische Partei einfach zu einflussreich, als dass man sie vom politischen Prozess hätte ausschließen können. Zudem widersprachen solche Verbote der liberalen Grundverfassung westlicher Staaten. Hinzu kamen sozialdemokratische und sozialistische Parteien sowie die zahlreichen Gewerkschaften in fast allen westeuropäischen Ländern, die oft über eigene Zeitungen und Verlagshäuser verfügten.

Diese Situation implizierte, dass sowohl die sozialistischen als auch die kommunistischen Kräfte in Westeuropa leicht von der Sowjetunion angesprochen oder sogar finanziell unterstützt werden konnten. Es bestand die Gefahr, dass die Arbeiterbewegung im Kalten Krieg zu einer fünften Kolonne werden würde. Dies hätte es der Sowjetunion ermöglicht, sich in den politischen Prozess westeuropäischer Länder einzumischen. Ja, es war sogar nicht auszuschließen, dass es der Sowjetunion langfristig sogar gelingen konnte, die Steuerung des politischen Prozesses in einzelnen westeuropäischen Gesellschaften zu übernehmen bzw. Länder wie Italien, Frankreich oder Griechenland aus der westlichen Allianz herauszubrechen. Denn Moskau besaß bereits seit den 1920er Jahren durch Organisationen wie die Kommunistische Internationale (Komintern) Erfahrungen auf dem Gebiet gesellschaftlicher Diplomatie und verfügte gegenüber den USA über einen Erfahrungsvorsprung. Umgekehrt besaßen die kapitalistischen demokratischen Staaten kaum Möglichkeiten, einen vergleichbaren gesellschaftlichen Einfluss in den sozialistischen Ländern zu gewinnen, da dort kapitalistische Interessen vertretende liberale Parteien schlicht verboten waren.

Zu der fundamentalen Gefahr, die der hohe Organisationsgrad der Arbeiterbewegung für den Westen im Kalten Krieg darstellte, kam noch der Einfluss sozialistischen und kommunistischen Gedankenguts auf die Dritte Welt hinzu: Der Kolonialismus war in den 1940er und -50er Jahren in eine Krise geraten; die Kosten für die Verwaltung der Kolonien stiegen stetig an. Hinzu kam noch, dass das Legitimationsdefizit des europäischen Kolonialismus mit jedem Jahr zunahm, da sich in vielen Kolonien allmählich ein politisches und nationales Bewusstsein herausbildete. Sozialismus bzw. Kommunismus boten sich hier wiederum als Ideologien an, um die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt zu unterstützen. In vielen Kolonien kam es zu Zweckbündnissen zwischen sozialistischen und kommunistischen sowie nationalen Interessen. Schließlich beinhaltete die politische Theorie der Arbeiterbewegung eine kritische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus. Eine Verbreitung sozialistischer Bewegungen oder gar kommunistischer Revolutionen über weite Teile der Dritten Welt hätte langfristig zu einer Situation geführt, in der das westliche, kapitalistische Weltsystem auf seinem eigenen Territorium eingeschlossen worden wäre. Ein kapitalistisches Weltsystem ohne Zugriff auf die Rohstoffe der Dritten Welt und die billigen Arbeitskräfte und Märkte der südlichen Hemisphäre wäre jedoch schnell an seine Entwicklungsgrenzen gestoßen.

Als vierter Faktor, der die Schwäche des Kapitalismus zu Beginn des Kalten Krieges noch unterstreicht, bleibt noch die geographische Weltordnung ab dem Jahr 1949 zu nennen. Durch den Sieg einer sozialistischen Revolution in China waren weite Teile Asiens von sozialistischen Staaten dominiert. Wer sich einmal mit den Grundlagen der Außenpolitik der Seemacht Großbritannien und auch der Seemacht USA beschäftigt hat, weiß, welche elementare Rolle der eurasische Kontinent im außenpolitischen Denken der angelsächsischen Welt spielt: Eurasien ist der mit Abstand größte Kontinent der Welt, der alleine über ca. zwei Drittel aller weltweiten Rohstoffe und zwei Drittel der Weltbevölkerung verfügt. Dieser Kontinent muss sowohl im Denken der britischen als auch im Denken der US-amerikanischen Elite stets von den Küstenlinien her dominiert werden. Halford J. Mackinder hatte für diesen Grundsatz 1904 in „The Geographical Pivot of History“ (23) die analytische Grundlage geschaffen. Später wurden diese Theorie u. a. von Nicholas J. Spykman und Zbigniew Brzeziński fortentwickelt.

Die große Angst im Selbstverständnis der angelsächsischen Seemächte bestand seither stets darin, dass sich im Zentrum jener gewaltigen eurasischen Landmasse eine Macht bilden könnte, die von den Küstenlinien aus nicht mehr zu kontrollieren wäre. Durch die Expansion des sowjetischen Einflusses bis zur Elbe und durch den Sieg einer sozialistischen Revolution in China schien dieser Albtraum teilweise wahr geworden zu sein. Der Westen befand sich in einer Situation, in der sein ideologischer Widerpart nicht nur in intellektueller und ideologischer, sondern auch in geographischer Hinsicht zu einem ernst zu nehmenden Herausforderer geworden war. Der globale Trend der kulturellen Entwicklung schien sich von der kapitalistischen und liberalen Ordnung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weg und hin zu einer globalen sozialistischen Ordnung zu bewegen. Die Aufgabe, die sich angesichts dieser Situation für den Sicherheitsapparat der NATO ergab, bestand darin, das entstandene Momentum sozialistischer Praxis und kommunistischer Ideale erneut zu brechen.

Dies war jedoch eine Aufgabe, die nicht allein durch militärische Rüstung oder wirtschaftliche Expansion geleistet werden konnte. Auch soziale Zugeständnisse, wie sie ab 1933 im New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt und nach 1945 von der sozialdemokratischen Politik in Europa erbracht wurden, reichten hierfür nicht aus. Weil das Momentum des Sozialismus auf der weltweiten Wahrnehmung beruhte, dass sozialistische Praxis und kommunistische Ideale gegenüber dem in Widersprüche verstrickten Liberalismus fortschrittlicher waren, bedurfte es hierfür einer umfassenden Initiative im Bereich der Kultur. Um die Wahrnehmung einer sich im Aufstieg befindlichen sozialistischen Internationale zu brechen, war es notwendig, das progressive Erscheinungsbild, das die Theoretiker der Arbeiterbewegung durch ihre eigenen intellektuellen und kulturellen Leistungen erlangt hatten, erneut von der Idee des Sozialismus zu trennen. Es ging darum, dem nach zwei Weltkriegen und einer Weltwirtschaftskrise diskreditierten Liberalismus erneut zu einem fortschrittlichen Erscheinungsbild zu verhelfen und dieses umgekehrt sowohl dem real-existierenden Sozialismus als auch der kommunistischen Utopie streitig zu machen.

Dies war jedoch angesichts der jüngeren Geschichte eine äußerst komplizierte Aufgabe, so schwierig, dass hierzu eine sehr langwierige, professionelle und differenzierte Kulturpolitik erforderlich war. Eine Kulturpolitik, die zudem nicht nur in einem einzigen Land etabliert werden konnte, sondern die sich an die gesamte westliche Welt zu richten hatte, zumindest an ihre wichtigsten Länder, also die USA, Großbritannien, Westdeutschland, Frankreich und Italien. Aus all dem ergibt sich, dass für die USA die Entwicklung einer westlichen Kulturpolitik die vielleicht zentralste Herausforderung im Kalten Krieg darstellte. Welche Möglichkeiten hatte Washington, um dieses Ziel zu erreichen? Kann uns die historische Forschung hierüber Aufschluss geben?

Im zweiten Teil dieses Essays wird es um die praktische Durchführung sowie die langfristigen bis heute wirksamen Folgen der kulturellen Dimension des Kalten Krieges gehen. Der gesamte Essay erschien zuerst unter dem Titel "Die kulturelle Dimension des Kalten Krieges und 1968" in der von Carsten Gansel und Janine Ludwig herausgegebenen Monographie "1968 – Ost – West: Deutsch-deutsche Kultur-Geschichten". Der Sammelband wurde 2021 im Okapi-Verlag veröffentlicht.

Über den Autor: Hauke Ritz, Jahrgang 1975, studierte an der FU und HU Berlin. Nach seiner Dissertation im Fach Philosophie mit dem Schwerpunkt Geschichtsphilosophie beschäftigte er sich intensiv mit dem Ost-West-Konflikt, dessen Fortbestehen er seit 2008 im Zuge verschiedener Publikationen und seit 2014 durch regelmäßige Russlandreisen erforscht. Er hat an der Universität Gießen, der MSU und RGGU in Moskau sowie der Universität Belgorod unterrichtet und war zuletzt für den DAAD in Moskau tätig.

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Anmerkungen

(1) Saunders, Frances Stonor: Who Paid the Piper. The CIA and the Cultural Cold War. London: Granta Books 1999.

(2) Popov, Vladimir: How the Soviet Elite Lost Faith in Socialism in the 1980s.

(3) Popov, Vladimir: Prices, Labor Market, Finance, Credit, External Economic Relations in CPE. Was Soviet Economy a Planned One?

(4) Zinoviev, Alexander: Global Suprasociety and Russia

(5) Popov, Vladimir: Socialism is dead, long live socialism!, S.  28.

(6) Lauterbach, Reinhard: Das lange Sterben der Sowjetunion. Schicksalsjahre 1985–1999. Berlin: Edition Berolina 2016.

(7) Man denke etwa an die sog. „Küchendebatte“ zwischen Nikita Chruschtschow und Richard Nixon 1959 auf einer Ausstellung in Moskau: Nixon, Richard Milhous: The „Kitchen Debate“ (July 24, 1959). In: Ders.: Speeches, Writings, Documents. Princeton: University Press 2008, S. 88 f.

(8) Vgl. Ritz, Hauke: Die Rückkehr der Geopolitik. Eine Ideologie und ihre fatalen Folgen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 03, 2013. Berlin: Blätter Verlagsgesellschaft mbH 2013, S. 71–80.

(9) Chomsky, Noam: Towards a New Cold War. Essays on the Current Crisis and How We Got There. New York: The New Press 1982, S. 65–67.

(10) Horkheimer Max/Adorno, Theodor W.: Die Kulturindustrie. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 141–191.

(11) Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 32 f.

(12) Vgl. Ritz, Hauke: Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension? In: OstMag, 07, 2014, Wismar: Ostinstitut 2014.

(13) Taubes, Jacob: Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire. In: Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag. Berlin: Metropol-Verlag 1988.

(14) Oertel, B./Totok, W./Reichert, W.: Homosexuellenrechte in Osteuropa: Angst vor dem Satan. Wie sicher können sich Schwule und Lesben in Osteuropa bewegen? Wie ist die Gesetzeslage? Ein Blick nach Lettland, Rumänien und Slowenien. In: taz vom 08.02.201.

(15) Gnauck, Gerhard: Wie die Religion die Islam-Skepsis in Osteuropa lenkt. In: Die Welt vom 11.05.2017.

(16) „Denn unsere These besagt nicht mehr oder weniger, als daß alttestamentliche Prophetie und christliche Eschatologie einen Horizont von Fragestellungen und ein geistiges Klima geschaffen haben – im Hinblick auf die Geschichtsphilosophie einen Horizont der Zukunft und einer künftigen Erfüllung – das den modernen Geschichtsbegriff und den weltlichen Fortschrittsglauben ermöglicht hat“ (Löwith, Karl: Besprechung des Buches „Die Legitimität der Neuzeit“ von Hans Blumenberg. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Bd. 2. Stuttgart: J. B. Metzler 1983, S.  455).

(17) Vgl. Ritz, Hauke: Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension? In: OstMag, 07, 2014. Wismar: Ostinstitut 2014.

(18) EU-Kommission verklagt Ungarn, Tschechien und Polen. In: Die Zeit vom 07.12.2017

(19) Dieses Ranking zeigt, dass eine deutliche Differenz zwischen west- und osteuropäischen Staaten bezüglich der Implementierung einer Gesetzgebung besteht, die die Rechte von sog. „sexuellen Minderheiten“ berücksichtigt.

(20) AfD ist in Sachsen jetzt die stärkste Kraft. In: Die Welt vom 25.09.2017.

(21) Gansel, Carsten: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–61. Berlin: BasisDruck 1995.

(22) Vgl. Hobsbawn, Eric: Der Untergang des Liberalismus. In: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20.  Jahrhunderts. München 1998.

(23) Mackinder, Halford J.: The Geographical Pivot to History. In: The Geographic Journal, London, April 1904.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 27. Dezember 2022, 16:15 UHR

Frau Baerbock ließ unlängst in Münster das Kreuz im historischen Friedenssaal abhängen, die Bezeichnung Stiftung preußischer Kulturbesitz missfällt newerthings Claudia Roth; Goethes Faust und Karl Mays Winnetou werden von woken Ideologen aus Schulbüchern und Bibliotheken verbannt, Mohrenköpfe und Negerküsse sind im Schaufenster der Konditoreien nicht mehr politisch korrekt, es wird die Sprache verhunzt und gegendert bis zu Brüderinnen und Schwesterinnen.

Die Musiktitel Playlists westlicher Radiosender waren mit bedeutenden Quoten angelsächsisch ausgerichtet, zeitgenössische Musik aus den RgW-Staaten kam hingegen eher nicht vor. In Manhattan baute man auf dem Ground-Zero-Terrain ein Museum, das das offizielle Narrativ der Regierung über 9/11 mit ausgewählt präsentierten Exponaten als unbestrittenes Faktum der Geschichte vermitteln soll. Nicht nur in der Ukraine werden politisch unerwünscht gewordene Denkmale abgeräumt und zerstört. Man liest dies auch nicht selten über Länder des alten Westens.

Ich erinnere einen Song der Band Fehlfarben: „Keine Atempause/Geschichte wird gemacht/es geht voran!“ Dekaden früher förderte man im Westen etwa die abstrakte Malerei als Gegenmodell zum sozialistischen Realismus, wie er z.B. in der sowjetisch besetzten Zone staatlich gefördert wurde. Darauf spielt offenbar das Bild an, das multipolar über dem Artikel zeigt. Das alles einmal genauer unter die Lupe zu nehmen und in seinem Kontext zu reflektieren macht auf jeden Fall Sinn.

Dennoch eine Relativierung zum Tenor im Essay:

„In militärischer Hinsicht bestand durch die spezifische Natur von Atomwaffen im Grunde genommen eine Pattsituation. Es soll im Folgenden ausgeführt werden, dass auch der wirtschaftliche Wettstreit der Systeme im Grunde genommen bis zum Ende unentschieden geblieben ist.“

Diese Deutung konterkariert Dirk Pohlmanns Doku aus 2014 für Arte TV „Täuschung - Die Methode Reagan“. So in zu Protokoll gegebene Statements von US-Veteranen aus dem Militär- und politischen Machtapparat, die der Einschätzung von Hauke Ritz widersprechen, die er im vorliegenden 1. Teil vom Essay formuliert, dass es nämlich insgesamt eine ausgeglichen Bilanz zwischen beiden Lagern geblieben sei. Demnach war es die Einschätzung der UdSSR Militärs, dass die damaligen provokativen Manöver der US-Navy gezeigt hätten, dass die Rote Armee hoffnungslos unterlegen war. Dies wussten die Amerikaner aus abgehörten Protokollen der diese US-Manöver begleitenden Gefechtsauswertung von leitenden Offizieren und Planungsstäben der Roten Armee.

Im wirtschaftlichen Bereich wird beispielhaft die Geschwindigkeit der Entwicklung von IT-Technologie erwähnt, mit der die UdSSR und deren ökonomische Produktivität nicht Schritt halten konnte und die sie deshalb unter Umgehung von Sanktionen in Ländern des westlichen Blocks mit verdeckten Methoden beschaffen mussten. Das klingt im Essay Teil 1 doch anders gewichtet, wodurch die Bedeutung des „Kulturkampfes“ im Kalten Krieg besonders in den Blick gerückt wird. Insofern scheint mir aus den vorgenannten Gründen der Akzent und die Einordnung gegensätzlicher Kulturförderung nicht überzeugend ausgewogen zu sein.

LISA MARIA LEWIN, 29. Dezember 2022, 14:50 UHR

Hallo Herr Ritz, mir ist unklar, wieso Sie der Langsamkeit der "wissenschaftlichen" Forschung das Wort reden mit dieser Aussage:

"Die Geschichte zeigt, dass die Erforschung von Machtbeziehungen zu allen Zeiten kontrovers gewesen ist. In der Regel müssen die beteiligten politischen Akteure bereits verstorben sein und die ideologische Formation bereits der Vergangenheit angehören, ehe machtpolitische Zusammenhänge in ihrer vollen Tragweite der wissenschaftlichen Forschung zugänglich gemacht werden können."

Aufmerksame Zeitbeobachter nehmen die kontroversen Machtbeziehungen immer in Echtzeit so wahr wie sie gerade sind. Diese Plattform multipolar.de liefert mit ihren Leseempfehlungen sogar ein gutes Beispiel dafür, wie man kontroverse Standpunkte präsentieren kann. In der früheren DDR hatten die Menschen Ost- und Westfernsehen zur Gegenüberstellung. Ein Beispiel von Corona ist etwa die Kontroverse, ob man die Gesunden oder die Kranken einsperrt für die Pandemie. Allein bei dieser simplen Frage scheiden sich die Geister sofort, und ich weiß nicht, ob uns Jahre später dazu noch wissenschaftliche Bücher helfen können.

Ein historisch extremes Beispiel ist das Buch der Historikerin Barbara W. Tuchman "Ein Portrait der Welt vor dem 1. Weltkrieg 1890-1914". Dieses unakademische Buch führt deutlich vor Augen, 1., dass sich seit damals bis heute wenig geändert hat am aufgeregten Kampf der Meinungsmacher gegen Andersdenkende (darunter die verbissenen Meinungskämpfe im Kongress der USA, wo immer nur Einigkeit herrscht, wenn man neue Waffensysteme beschafft) und 2., dass der 1. Weltkrieg fast unvermeidbar war, angesichts der weltweit allseitigen Hetze. Für die gleiche Erkenntnis hat "die wissenschaftliche Forschung" etwa 100 Jahre benötigt. Dabei wäre nur nötig gewesen, sich das reale Verhalten der Menschen statt die akademischen Lehrmeinungen anzuschauen, dann hätte man es gleich gewusst, wofür die Akademiker 100 Jahre brauchten.

Unsere Kultur wird eben durch reales Verhalten bestimmt, während Meinungen meist zur Rechtfertigung der eigenen Identität dienen. Dazu gehört die Frage, ob "wissenschaftliche Forschung" heute noch elitär sein kann? Im Massenbetrieb zählt Quantität mehr als Qualität. Die Digitalisierung ist hierbei das Topbeispiel. Auch privat erleben wir, wie sich die Geister scheiden, denn die Computer revolutionieren unsere Weltkultur bis in die Kinderstuben hinein. Sie herrschen wie die Viren und die Märkte fast allmächtig durch absolute Intransparenz. Auch dazu erleben wir Kontroversen in Echtzeit.

Nehmen Sie zum Beispiel die Frage: Was ist "Künstliche Intelligenz"? Die besten Techniker unter meinen Freunden spotten über diese Frage im Sinne von Goethes Faust: "Wo ein Begriff fehlt, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein." Sie kennen nämlich die totale Macht der Intransparenz. Sie wissen aus rein menschlicher Anschauung, dass die totale Komplexität der Computer seit den 1990er Jahren nicht mehr zu verstehen ist für führende Akademiker und für die Geld-Manager, sondern die Intransparenz der Computer (mit allem was "wissenschaftlich" davon abhängt) wird von "den Märkten" quasi diktatorisch vorgeschrieben. Ganz wenige Akteure bestimmen weltweit das Geschehen. So sagen die besten Techniker. Dies ist der geleugnete Trend. Dagegen hilft es wenig, wenn immer mehr Meinungsmacher im Namen der KI etwas bekennen, das sie nie verstehen werden. In meinem Freundeskreis scheiden sich aber die Geister sofort, wenn wir kontroverse Standpunkte in Echtzeit so benennen wie sie gerade sind.

Menschenkenntnis und Wissenschaftsglaube gehen seit Jahrzehnten getrennte Wege. Das anti-elitäre Verhalten der Massenwissenschaft wird z.B. seit Jahren schon geschildert im Buch "Forschen auf Deutsch" (anonym von S. Bär). Was das Buch beschreibt, ist ein offenes Geheimnis. Aber nichts geschieht, außer einem ständigen Wachstum der Geldsummen. Schon von Schriftstellern der DDR wurde das anti-elitäre Verhalten im wissenschaftlichen Massenbetrieb ironisch aufs Korn genommen. Speziell zum Glauben "Die Computer sind der Trend" lese man z.B. die depressiven Erzählungen der schreibenden Wissenschaftlerin Helga Königsdorf. Der Wissenschaftsglaube wird seit damals starr propagiert, er erklärt aber nicht die menschliche Kultur.

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