Wie glaubwürdig ist Seymour Hersh?
PAUL SCHREYER UND KARSTEN MONTAG, 30. Mai 2023, 8 Kommentare, PDFNachdem die Nord Stream-Pipelines im September 2022 gesprengt wurden, erschienen in den Medien zunächst keine konkreten Hypothesen zur Urheberschaft – abgesehen von einem pauschalen Verdacht gegenüber Russland. Erst nachdem der damals bereits 85-jährige Reporter Seymour Hersh im Februar 2023 Recherchen vorlegte, wonach US-Präsident Biden den Terroranschlag befohlen hätte, tauchten in rascher Folge alternative Theorien zum Tathergang auf. Die Bundesregierung kommentierte Hershs Bericht nicht. Der Journalist selbst schätzte die Situation im April so ein:
„Die Gasversorgung eines Verbündeten in die Luft zu jagen, so dass der deutsche Bundeskanzler heute Probleme dabei hat, für den Wohlstand und die warmen Stuben seiner Bürger zu sorgen, das ist nicht klug. Ich weiß nicht, was mit Scholz passieren wird. Ich weiß es wirklich nicht. Ich spreche mit Leuten aus dem Bundestag, aber da scheint nichts voranzugehen. Wo bleibt der deutsche Bericht? Wann wird der veröffentlicht? In 3.000 Jahren? (…) Scholz´ Hauptproblem ist, dass er seit meiner ersten Nord-Stream-Story zu einem Kollaborateur geworden ist. Er hat nichts dementiert, nicht protestiert, nichts untersucht. Zumindest hätte er irgendeinen Kommentar abgeben müssen, so etwas wie: 'Wir werden das sehr genau untersuchen, das ist eine sehr ernsthafte Anschuldigung…' Aber nichts davon.“
Ende Mai bestellte nun Moskau die Botschafter Deutschlands, Dänemarks und Schwedens ein und kritisierte nachdrücklich die mangelnde Zusammenarbeit dieser Staaten bei der Aufklärung des Anschlags. Das russische Außenministerium protestiere damit nach eigenen Worten gegen ein „vollständiges Fehlen von Resultaten“ bei den Ermittlungen. Keines der Länder teilt bislang seine Ermittlungsergebnisse mit Russland, offizielle Untersuchungsberichte wurden nicht veröffentlicht.
Einig sind sich Politik und etablierte Medien in der Ablehnung – oder vollständigen Ignorierung – der Hersh-Recherchen. Diese seien unbelegt, seine anonymen Quellen nicht überprüfbar, er selbst wenig glaubwürdig. So schrieb der SPIEGEL, Hershs Glaubwürdigkeit hätte „in den vergangenen Jahren stark gelitten, da er mehrfach durch fragwürdige Recherchen aufgefallen“ sei. T-online erklärte unter der Überschrift „Starreporter mit zweifelhaftem Ruf“, der Journalist habe „gerade in der jüngeren Vergangenheit häufiger Recherchen abgeliefert, die zu zweifelhaften Ergebnissen kamen und sich später als nicht ganz richtig herausstellten.“ Fast wortgleich berichtete die Tagesschau, Hersh sei „zuletzt mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen“ und verbreite „Verschwörungserzählungen“. Die negativen Zuschreibungen wurde sämtlich nicht näher erläutert oder begründet.
Scharfe Kritik an Hersh ist nicht neu. Der Reporter deckte in den vergangenen mehr als 50 Jahren wiederholt Tatsachen auf, die enorme politische Relevanz entfalteten und oft öffentliche Empörung hervorriefen. Eine Auswahl zeigt, dass die aktuellen negativen Reaktionen auf seine Arbeit in einer jahrzehntelangen Tradition stehen.
1967: US-Biowaffen – Medien meiden das Thema
Der damals 30-jährige Hersh deckte in seiner ersten großen Enthüllung 1967 die vielfältigen Pentagon-Programme zur Herstellung chemischer und biologischer Waffen auf – und kompromittierte damit die US-Regierung. Die Nachrichtenagentur AP, für die Hersh zu dieser Zeit als Investigativreporter arbeitete, schrieb seinen Artikel ohne Absprache mit Hersh so um, dass die Regierung in besserem Licht erschien. (1) Hersh kündigte zwei Monate später bei AP und schrieb ein Buch über die Waffenprogramme: „Chemical and biological warfare: America's hidden arsenal“. Er machte auch die Namen der Universitäten öffentlich, die für das Militär an chemischen und biologischen Waffen forschten. Als empörte Studenten dort nachfragten, leugneten die Universitäten, an gefährlicher Waffenforschung beteiligt zu sein. (2) Große Medien mieden das Thema. Hersh kommentierte dazu in seien Memoiren: „Ich verstand, dass es viel leichter war, ein offizielles Dementi zu akzeptieren, als sich in ein schwieriges und kontroverses Thema zu vertiefen.“ (3)
1969: My Lai – New York Times lehnt Bericht ab
Den Bericht zum Massaker der US-Armee in My Lai, Vietnam, seine bekannteste Enthüllung, bot Hersh zunächst der New York Times und anderen Leitmedien zur Veröffentlichung an – die ablehnten. (4) Der Reporter erhielt 1970 schließlich den Pulitzer-Preis für seine aufwändige Recherche.
1973: Watergate – Angst, die Regierung anzugreifen
Wesentliche Elemente der Watergate-Affäre wurden von Hersh veröffentlicht, der damals für die New York Times tätig war. Er beschreibt in seinen Memoiren, gegen welche Widerstände er seine regierungskritischen Recherchen dort veröffentlichte, insbesondere wenn der US-Präsident dadurch direkt angegriffen wurde. Hersh zitiert Bill Kovach, den damaligen Washingtoner Bürochef der New York Times, dass die Zeitung „große Angst davor hatte, eine kontroverse Recherche, die die Glaubwürdigkeit der Regierung angriff, als erste zu veröffentlichen“. (5)
1974: US-Beteiligung am Putsch in Chile – Präsident lügt
Hersh deckte auf, dass US-Präsident Richard Nixon und sein Sicherheitsberater Henry Kissinger gelogen hatten, als sie eine US-Beteiligung am Militärputsch in Chile 1973 leugneten. In einem internen Memorandum empfahlen Kissingers Berater im September 1974, dass eine direkte, öffentliche Leugnung der Vorwürfe durch den CIA-Chefs „die effektivste Methode“ wäre, Hershs Artikel zu begegnen. Dies sei dringlich, denn „je länger Hershs Vorwürfe ohne Entgegnung“ blieben, „desto glaubwürdiger“ würden sie. (6)
1974: Illegale Überwachung von Regierungskritikern
Hersh enthüllte das illegale CIA-Programm zur Überwachung und Unterwanderung der Antikriegsbewegung (Operation Chaos). Seine Berichte führten zur Bildung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Einige etablierte Medien kritisierten den Journalisten: seine bisherigen Recherchen seien zwar hervorragend gewesen, der jüngste Bericht zum illegalen CIA-Programm aber „übertrieben“. (7)
1975: Spionage vor der Küste der Sowjetunion
Eine Parallele zu seinen aktuellen Nord Stream-Recherchen: Hersh deckte 1975 ein Spionageprogramm der US-Navy innerhalb der Küstengewässer der Sowjetunion auf (Operation Holystone). Der spätere Verteidigungsminister und US-Vizepräsident Dick Cheney – damals Stellvertreter des Stabschefs im Weißen Haus, Donald Rumsfeld – schlug daraufhin intern vor, Hershs Wohnung durchsuchen zu lassen.
1998: US-Präsident Clinton bombardiert Arzneimittelfabrik in Afrika
Hersh legte dar, dass die Bombardierung der Al-Shifa-Arzneimittelfabrik im Sudan im August 1998 – die von der US-Regierung fälschlich als Chemiewaffenfabrik bezeichnet wurde – erfolgt war, um vom innenpolitischen Druck abzulenken, unter dem Präsident Clinton im Zuge der Lewinsky-Affäre stand. Clinton gab am 17. August 1998 vor Gericht zu, dass er eine „unangemessene Beziehung“ zu seiner Praktikantin Monica Lewinsky gehabt hatte. Drei Tage später ließ er die Fabrik in Afrika bombardieren. Hersh deckte den Widerstand innerhalb von Militär und Geheimdiensten gegen den Beschluss zur Bombardierung auf.
2004: Abu Ghraib – Folter an Kriegsgefangenen, Militär leugnet
Hersh löste mit seinen Recherchen den Abu Ghraib-Folterskandal aus. US-Militärs hatten im Irak im großen Ausmaß Gefangene grausam misshandelt, mit Rückendeckung der US-Regierung. Das Pentagon leugnete zunächst, mit Verweis auf Hershs anonyme Quelle: „Der Artikel von Seymour Hersh im New Yorker Magazine dieser Woche basiert offenbar auf einer einzigen anonymen Quelle, die dramatisch falsche Behauptungen aufstellt. Die Beweislast für diese falschen Behauptungen liegt beim Reporter. Diese Behauptungen über die Aktivitäten in Abu Ghraib und den Missbrauch irakischer Häftlinge sind abwegig, verschwörerisch und voller Irrtümer und anonymer Vermutungen.“
2013: Giftgas in Syrien – US-Verbündete verantwortlich
Hersh deckte auf, dass die US-Regierung wusste, dass auch die syrischen Rebellen in der Lage waren, Giftgas zu produzieren und der Giftgasangriff von Ghuta im August 2013 nicht eindeutig der syrischen Regierung zuzuordnen war, wie es die US-Regierung behauptet hatte – und womit sie erwog, einen offenen Krieg gegen Syrien zu beginnen, was Präsident Obama erst in letzter Minute, durch russische Vermittlung, im September 2013 stoppte. Hershs Recherche war von mehreren US-Leitmedien abgelehnt worden. In einem Anschlussartikel legte Hersh 2014 dar, dass der Anschlag von den syrischen Rebellen mit Hilfe der Türkei durchgeführt worden war.
Fazit: Kritik der etablierten Medien an Hersh ist unbelegt und falsch
Seymour Hersh kommt im heutigen Journalismus eine Sonderrolle zu, da sich seit nunmehr über 50 Jahren regelmäßig hochrangige Mitarbeiter von Militär und Geheimdiensten, die einzelne Entscheidungen ihrer Regierung für falsch halten, vertraulich an ihn wenden. Diese Hinweisgeber wollen mit Hilfe des Reporters öffentlichen Druck aufbauen, ohne dabei ihre eigene Karriere oder ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. In Hershs Enthüllungsberichten geht es immer wieder um Lügen der Regierung. Seine Recherchen – von der geheimen Biowaffenforschung über Watergate bis hin zu Abu Ghraib und Nord Stream – sind oft so brisant und potenziell gefährlich für die Hinweisgeber, dass ohne deren Anonymisierung eine Veröffentlichung in der Regel nicht möglich wäre.
Die eingangs aufgeführte, von vielen etablierten Medien aufgestellte Behauptung, Hershs Glaubwürdigkeit hätte „in den vergangenen Jahren stark gelitten, da er mehrfach durch fragwürdige Recherchen aufgefallen“ wäre (Spiegel), er „zuletzt mit fragwürdigen Recherchen aufgefallen“ sei (Tagesschau) und „gerade in der jüngeren Vergangenheit häufiger“ Recherchen abgeliefert hätte, „die zu zweifelhaften Ergebnissen kamen und sich später als nicht ganz richtig herausstellten“ (t-online), ist unbelegt und in doppelter Hinsicht falsch:
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Hershs Recherchen sind nicht erst in den letzten Jahren auf Widerstand gestoßen, wie behauptet, sondern von Beginn seiner Karriere an. Dementis der Regierung, Leugnungen, Angriffe auf seine Person und eine Ablehnung durch etablierte Medien sind seit über 50 Jahren feste Begleiterscheinung seiner Enthüllungen.
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Hershs Arbeiten haben sich in den letzten Jahren nicht als falsch entpuppt, vielmehr wurden ihnen regelmäßig konkurrierende Erzählungen entgegengesetzt, die häufig aber schwach belegt waren. Dies betrifft insbesondere seine Recherchen ab 2013 zu Syrien, auf die in einem Anhang unter diesem Beitrag detailliert eingegangen wird, der auch die Argumente der Gegner beleuchtet.
Anhang
Giftgasangriffe von Ghuta 2013
Am 10. September 2013 erklärte US-Präsident Barack Obama in einer TV-Ansprache, dass die Regierung von Syriens Präsident Baschar al-Assad verantwortlich für den Giftgasangriff am 21. August des Jahres auf einen Vorort von Damaskus namens Ghuta gewesen sei, bei dem mehr als 1.000 Menschen, darunter hunderte Kinder, ums Leben gekommen seien. Dies hatte Obama auch bereits am 31. August 2013 in einer Rede vor dem Weißen Haus erklärt, ohne jedoch Belege zu nennen. Der US-Präsident kündigte einen gezielten militärischen Schlag gegen die Regierung in Damaskus an, ließ allerdings die diplomatische Option offen, dass die syrische Armee ihre Chemiewaffen abgibt und der Chemiewaffenkonvention beitritt – ein internationales Übereinkommen, das Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen verbietet. Außenminister John Kerry hatte erklärt, der US-Geheimdienst habe die Assad-Regierung als Verantwortlichen der Chemiewaffenangriffe identifiziert. Er räumte aber ein, der Öffentlichkeit keine Belege präsentieren zu können:
„Wir haben beispiellose Schritte unternommen, um die Geheimhaltung aufzuheben und die Fakten den Menschen zugänglich zu machen, die sich selbst ein Urteil bilden können. Aber um Quellen und Methoden zu schützen, wird einiges von dem, was wir wissen, nur an Mitglieder des Kongresses, die Vertreter des amerikanischen Volkes, weitergegeben. Das bedeutet, dass wir über einige Dinge, die wir wissen, nicht öffentlich sprechen können.“
Hintergrund: Die syrische Regierung hatte im Jahr zuvor mit dem Einsatz ihrer Chemiewaffenbestände gedroht, für den Fall, dass man aus dem Ausland angegriffen würde. Daraufhin hatte Obama im August 2012 klargestellt, dass die Verwendung chemischer Waffen eine „rote Linie“ für die USA wäre.
Die Einwände von Hersh
Im Dezember 2013 veröffentlichte Seymour Hersh einen Beitrag mit dem Titel „Whose sarin?“ (Wessen Sarin?). Darin bezichtigte er Obama, wichtige nachrichtendienstliche Hinweise unterschlagen und Vermutungen als Fakten dargestellt zu haben. In Gesprächen mit ehemaligen und aktiven Geheimdienstmitarbeitern, Militärangehörigen und Beratern habe er „große Besorgnis und gelegentlich auch Verärgerung“ darüber entdeckt, „was wiederholt als absichtliche Manipulation von Geheimdienstinformationen angesehen wurde“. Er zitierte die E-Mail eines leitenden Geheimdienstmitarbeiters an einen Kollegen, in der die Versicherung der US-Regierung, Assad sei verantwortlich, als List bezeichnet wurde, und die syrische Regierung nicht für den Angriff verantwortlich sei.
Von einer weiteren Quellen, einem ehemaligen hochrangigen Geheimdienstmitarbeiter, hatte Hersh nach eigenen Worten erfahren, dass die Obama-Regierung die verfügbaren Informationen – in Bezug auf den Zeitpunkt und die Reihenfolge – verändert hätte, „um dem Präsidenten und seinen Beratern die Möglichkeit zu geben, Informationen, die erst Tage nach dem Angriff abgerufen wurden, so aussehen zu lassen, als seien sie in Echtzeit, also während des Angriffs, gesammelt und analysiert worden“.
Eine andere Quelle von Hersh, ein leitender Geheimdienstberater, berichtete, dass die CIA bereits Ende Mai 2013 die Obama-Regierung über al-Nusra und deren Arbeit mit Sarin informiert und alarmierende Berichte darüber übermittelt hatte, dass eine andere in Syrien aktive sunnitische fundamentalistische Gruppe, al-Qaida im Irak, ebenfalls die Herstellung von Sarin beherrschte. Desweiteren soll sich, so die Quelle, ein im Sommer 2013 veröffentlichtes Geheimdienstdokument mit einem für die al-Nusra-Front tätigen ehemaligen Chemiewaffenexperten des irakischen Militärs befasst haben, der nach Syrien eingereist sein und in Ost-Ghouta operieren sollte. Dieser hätte im Irak Senfgas hergestellt und sei in die Herstellung und Verwendung von Sarin verwickelt. Am 20. Juni 2013 sei eine diplomatische Nachricht an den Vizedirektor des US-Militärgeheimdienstes weitergeleitet worden, in der die Erkenntnisse über die Nervengasfähigkeiten von al-Nusra zusammengefasst wurden.
Nach Hershs Erkenntnissen hatten Obama und Kerry also die Öffentlichkeit nicht darüber aufgeklärt, dass neben der syrischen Armee auch die al-Nusra-Front in der Lage gewesen war, Sarin herzustellen und einzusetzen.
Auch die Behauptungen der US-Regierung, die Raketen mit dem Sarin stammten aus den Beständen der syrischen Armee und seien von einem von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet auf Ghuta abgefeuert worden, zog Hersh in Zweifel. Er verwies auf den Waffenexperten Theodore Postol, Professor für Technologie und nationale Sicherheit am Massachusetts Institute for Technology (MIT), der die Fotos vom Einschlagsort einer der Raketen mit einer Gruppe von Kollegen untersucht hatte. Gemeinsam kamen sie zu dem Schluss, dass es sich bei der großkalibrigen Rakete um improvisierte Munition handelte, die sehr wahrscheinlich vor Ort in einer einfachen Werkstatt hergestellt wurde. Die Reichweite dieser Rakete schätzten Postol und Richard Lloyd, ein ehemaliger UN-Waffeninspekteur, auf weniger als zwei Kilometer ein. Dies widersprach der offiziellen Behauptung, die Raketen seien von einem neun Kilometer entfernten Stützpunkt der syrischen Armee auf Ghuta abgefeuert worden.
Erwiderungen von Bellingcat
Eliot Higgins, Gründer des auf Open Source Intelligence spezialisierten Recherchenetzwerks Bellingcat, kritisierte Hershs Beitrag in einem Artikel in der Zeitschrift Foreign Policy. Er verwies auf Videos, in denen zu sehen ist, dass die hauptsächlich bei dem Angriff verwendeten Raketen namens „Volcano“ zur syrischen Armee gehören, und fügte hinzu, dass diese bereits seit Ende 2012 genutzt wurden und dass sie sowohl mit Sprengstoff als auch mit Sarin bestückt werden könnten. In einem Beitrag auf der Webseite von Bellingcat selbst ist zu erkennen, dass eine ganze Reihe Volcanos zum Teil intakt von den Aufständischen gefunden wurden. Des Weiteren ist dem Artikel zu entnehmen, mit welch simplen Mitteln diese Raketen fabriziert werden. Dies bestätigt die These des MIT-Professors Theodore Postol, die Waffen könnten in einfachen Werkstätten hergestellt worden sein.
Hinsichtlich der Reichweite der Raketen erklärte Higgins, dass diese aufgrund einer konisch geformten Spitze auch weiter fliegen könnten als zwei Kilometer. Anhand einer Karte versuchte er zu belegen, dass die Volcanos auch mit dieser kurzen Reichweite von einem von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiet auf Ghuta hätten abgefeuert werden können. Higgins ergänzte, dass die bei dem Angriff verwendete Menge an Sarin nur schwer von den Aufständischen in Syrien hätte hergestellt werden können.
Bellingcat und Higgins werden laut eigenen Angaben unter anderem unterstützt von der aus dem US-Bundeshaushalt finanzierten Stiftung „National Endowment for Democracy“, der Europäischen Union sowie verschiedenen philanthropischen Stiftungen, darunter den Open Society Foundations von George Soros.
Zweiter Beitrag von Hersh zum Giftgasangriff auf Ghuta vom April 2014
In einem zweiten Beitrag mit dem Titel „The Red Line and the Rat Line“ (Die rote Linie und die Rattenlinie), den Seymour Hersh im April 2014 veröffentlichte, legte er zunächst dar, warum Obama den Angriff auf Syrien in letzter Sekunde abgesagt hatte. Ausschlaggebend seien einerseits die Ergebnisse der Untersuchungen von Sarin-Proben aus Ghuta gewesen, welche ein britisches Labor nicht mit den Sarin-Beständen der syrischen Armee in Verbindung bringen konnte, sowie andererseits die ablehnende Haltung hochrangiger US-Militärs, die einen Krieg sowohl für ungerechtfertigt als auch potentiell katastrophal hielten.
Der Fokus von Hershs Beitrags lag jedoch auf der Versorgung der Aufständischen in Syrien mit Waffen aus libyschen Armeebeständen über die Türkei, was er als „Rattenlinie“ bezeichnete. Diese sei zuerst von der CIA organisiert worden und nach dem Sturm einer libyschen Miliz auf ein US-amerikanisches Konsulat in Libyen, bei dem der amerikanische Botschafter ums Leben kam, von der Türkei weiter betrieben worden. In diesem Zusammenhang erwähnte Hersh die Verhaftung von zehn Mitgliedern der al-Nusra-Front im Süden der Türkei im Mai 2013, die zwei Kilogramm Sarin mit sich führten und versucht hatten, Zünder und Rohre für den Bau von Mörsern sowie chemische Grundstoffe für Sarin zu kaufen.
Er bezichtigte Erdoğan aufgrund der Aussage seines Informanten, einem ehemaligen hochrangigen US-Geheimdienstmitarbeiter, persönlich die Versorgung der Rebellen in Syrien mit Waffen und auch mit Chemiewaffen vorangetrieben zu haben, da die syrische Armee seit Ende 2012 im Begriff stand, den Bürgerkrieg für sich zu entscheiden. Die Hoffnung des türkischen Staatspräsidenten war, so Hersh, einen Vorfall in Syrien zu inszenieren, der die US-Regierung zwingen würde, die rote Linie, die Obama im August 2012 gezogen hatte, zu überschreiten und massiv in den syrischen Bürgerkrieg einzugreifen.
Dass dies nicht geschah, lag demnach daran, dass die syrische Regierung nach Vermittlung Russlands am 14. September 2013, vier Tage nach der TV-Ansprache Obamas, der Chemiewaffenkonvention beitrat und der Vernichtung ihres Chemiewaffenarsenals zustimmte. Unter Aufsicht der UN wurden Syriens Chemiewaffen in den Folgejahren entsorgt. Im Januar 2016 bestätigte die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), dass die Vernichtung aller von Syrien deklarierten Chemiewaffen abgeschlossen sei.
Reaktionen von Bellingcat und der New York Times
Auch der zweite Beitrag von Seymour Hersh wurde von Elliot Higgins, kritisiert, diesmal in einem Artikel im Guardian mit dem Titel „It's clear that Turkey was not involved in the chemical attack on Syria“) (Es ist klar, dass die Türkei nicht an dem chemischen Angriff auf Syrien beteiligt war). Der Text des Beitrags deckt jedoch nicht die Behauptung der Überschrift. Argumentiert wird vielmehr mit angenommenen Wahrscheinlichkeiten. So habe die al-Nusra-Front Sarin nur schwerlich in Syrien herstellen können.
Die New York Times veröffentlichte als Antwort auf Hershs zweiten Beitrag zum Giftgasangriff auf Ghuta einen Artikel, der Hershs Recherchen als „wilde Behauptungen“ bezeichnet. Als Argument führt der Autor des New York Times-Artikels an, dass man der Türkei die Unterstützung der al-Nusra-Front mit Chemiewaffen oder mit deren Rohstoffen aus moralischen und logistischen Gründen nicht zutrauen könne.
Vermeintliche Giftgasangriffe von Chan Schaichun 2017
Am 26. April 2017 veröffentlichte Hersh einen Beitrag mit dem Titel „Trump‘s Red Line“ (Trumps rote Linie) über den Angriff der syrischen Armee auf Chan Schaichun. Der Beitrag erschien in der vom langjährigen SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust herausgegebenen WELT. Gleichzeitig veröffentlichte die WELT den Mitschnitt mehrerer Gespräche eines Sicherheitsberaters und eines aktiven US-amerikanischen Soldaten, der auf einer wichtigen Operationsbasis seinen Dienst verrichtete, zwischen dem 6. und 8. April 2017 über die Ereignisse in Chan Schaichun.
In seinem Beitrag wirft Hersh dem damaligen US-Präsidenten Trump vor, nach nur zwei Tagen einen Vergeltungsschlag gegen ein Flugfeld der syrischen Armee angeordnet zu haben, ohne einen Beleg dafür gehabt zu haben, dass die syrische Regierung für einen Giftgasangriff auf Chan Schaichun verantwortlich war oder dass überhaupt Sarin oder eine andere Chemiewaffe bei dem Angriff verwendet wurde. Hersh beschreibt in seinem Artikel, der hauptsächlich auf den Aussagen eines leitenden Beraters der amerikanischen Geheimdienste beruht, wie der Angriff der syrischen Luftwaffe auf einen dschihadistischen Treffpunkt in Chan Schaichun mit russischer Aufklärung geplant, Tage im Voraus mit dem amerikanischen Militär abgestimmt und mit einer konventionellen, gelenkten Bombe durchgeführt wurde.
Demnach hatten die Dschihadisten im Keller des Hauses, in dem das Treffen stattfand, auch große Mengen an Raketen, Waffen, Munition, Dünger und Dekontaminationsmittel auf Chlorbasis gelagert, die nach dem Angriff explodiert, eine chemische Reaktion hervorgerufen und mehr als 80 Einwohner der Stadt Chan Schaichun getötet haben sollen. So schreibt Hersh:
„Eine Bombenschadensanalyse (BDA) des US-Militärs ergab später, dass die Hitze und die Wucht der 500-Pfund-Bombe aus Syrien eine Reihe von Sekundärexplosionen auslösten, die eine riesige Giftwolke erzeugten, die sich über der Stadt auszubreiten begann und durch die Freisetzung von Düngemitteln, Desinfektionsmitteln und anderen im Keller gelagerten Gütern entstand, deren Wirkung durch die dichte Morgenluft, die die Dämpfe in Bodennähe einschloss, noch verstärkt wurde.“
Die Abschriften von Echtzeit-Kommunikationen unmittelbar nach dem syrischen Angriff am 4. April, die Seymour Hersh zur Verfügung standen, zeigten, dass Präsident Trump offenbar losgelöst von den Erkenntnissen des US-Militärs und der amerikanischen Geheimdienste den Vergeltungsschlag gegen die syrische Luftwaffe anordnete. Nach Hershs Erkenntnissen gelang es Trumps Beratern jedoch, den US-Präsidenten dazu zu bewegen, nur einen Vergeltungsschlag mit Symbolcharakter durchzuführen und die Russen im Vorfeld über das Ziel zu informieren. So richtete der US-Angriff mit 59 Tomahawk-Marschflugkörpern auf ein zuvor geräumtes Flugfeld der syrischen Luftwaffe nur geringen Schaden an.
Heutiger Wissensstand
Bis heute hat die US-Regierung keine Belege dafür präsentiert, dass die syrische Regierung verantwortlich für die Giftgasangriffe auf Ghuta oder auf andere Orte in Syrien war. 2016 berichtete die Zeitschrift „The Atlantic“, dass Obama vom Direktor für nationale Nachrichtendienste, James Clapper, wenige Tage nach dem Giftgasangriff auf Ghuta darüber informiert wurde, „dass die Erkenntnisse über den Einsatz von Sarin-Gas durch Syrien zwar solide, aber nicht eindeutig“ gewesen seien.
Ende Juni 2017 veröffentlichte die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OCPW) eine Pressemitteilung, in der sie die Verwendung von Sarin im Zusammenhang mit dem Angriff der syrischen Luftwaffe auf Chan Schaichun brachte. Allerdings waren die Mitarbeiter der OPCW nicht vor Ort, sondern zogen ihre Erkenntnis aus biomedizinischen Proben von Verletzten und Toten sowie Zeugenbefragungen und Umweltproben aus einer Nachbarprovinz. Die Organisation machte keine Aussage darüber, woher das Sarin stammte.
Im Januar 2018 meldete Reuters, dass nach Informationen „von Wissenschaftlern und Diplomaten“ ein Labor, das für die OCPW tätig sei, „Hinweise“ gefunden hätte, welche bestätigten, dass das 2013 auf Ghuta abgefeuerte Sarin sowie das Sarin, das in Chan Schaichun und in einer weiteren syrischen Stadt verwendet worden sein soll, aus syrischen Armeebeständen stammte. Allerdings benannte die Nachrichtenagentur weder das Labor noch die Wissenschaftler und Diplomaten. Die Meldung wurde von der OCPW nicht bestätigt.
Deutsche Medien haben die Enthüllungsberichte von Seymour Hersh zu Syrien lange Zeit größtenteils ignoriert. Erst als sich der Autor Michael Lüders in zwei Fernsehtalkshows im April 2020 auf die Berichte von Hersh bezog, schrieb der „Faktenfinder“ der Tagesschau einen kritischen Beitrag zu Hersh und attestierte dessen Syrien-Recherchen eine „dünne Faktenlage“.
Konkurrierende Erzählungen und Motivlagen
Hinsichtlich der Giftgasangriffe in Syrien stehen sich zwei Erzählungen gegenüber – die der US-Regierung, gestützt von vielen etablierten Medien auf der einen Seite und die von Seymour Hersh auf der anderen. Beiden mangelt es an überprüfbaren Belegen. Sowohl die US-Regierung als auch Seymour Hersh legen ihre Quellen zu deren Schutz nicht offen. Wirft man dies Hersh vor, so muss man es fairerweise auch der anderen Seite anlasten.
Seymour Hersh stellt in seinen Beiträgen die Frage nach der Motivation. Was soll die syrische Regierung bewogen haben, in einem Bürgerkrieg, den sie mit der militärischen Unterstützung Russlands im Begriff war zu gewinnen, Chemiewaffen einzusetzen? Der taktische Vorteil wäre äußerst gering gewesen, der strategische Nachteil indes gewaltig. Aufgrund der Drohung der USA, der Einsatz von Giftgas stelle eine rote Linie dar, musste Baschar al-Assad als Folge der Anwendung von Chemiewaffen damit rechnen, den Krieg zu verlieren.
Insbesondere bei dem Angriff auf Chan Schaichun hätte die syrische Regierung nicht nur das militärische Eingreifen der USA riskiert, sondern zusätzlich noch ihren wichtigsten Alliierten, Russland, vor den Kopf gestoßen. Denn die russische Regierung hatte zuvor aufgrund ihrer Vermittlung mit den USA und ihrem Druck auf die syrische Regierung, der Chemiewaffenkonvention beizutreten und ihr Chemiewaffenarsenal unter Aufsicht der UN vernichten zu lassen, eine Eskalation des Bürgerkriegs in Syrien verhindert.
Auf der anderen Seite hätten sowohl die Aufständischen, unter denen sich auch die dschihadistische al-Nusra-Front befand, als auch die Türkei strategische Vorteile von einem US-amerikanischen Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg gehabt. Die al-Nusra-Front, die sich 2016 von al-Qaida trennte und in „Dschabhat Fath asch-Scham“ umbenannte, verfolgte das Ziel, die Regierung von Baschar al-Assad zu beseitigen und einen am Salafismus orientierten sunnitischen Islamischen Staat in Syrien zu errichten. Sie hätte von einer Wendung des Bürgerkrieges, den sie im Begriff war zu verlieren, erheblich profitiert. Auch die Türkei wäre durch ein militärisches Eingreifen der USA ihren strategischen Zielen – der Unterstützung der syrischen Rebellen, dem Fernhalten des Islamischen Staats von der türkisch-syrischen Grenze und der Verhinderung eines unabhängigen Territoriums unter der Kontrolle der Kurdenmiliz YPG im Norden Syriens – näher gekommen.
Fazit
Hershs in vielen Medien angegriffenen Enthüllungsberichte zu Syrien sind bislang nicht widerlegt worden. Die Gegendarstellungen benennen keine überprüfbaren Quellen, argumentieren mit angenommenen Wahrscheinlichkeiten und erscheinen nicht selten unplausibler als Hershs Berichte.
Weitere Artikel zum Thema:
- „Wir werden dem ein Ende setzen“ (Paul Schreyer, 13.2.2023)
- Die Nord-Stream-Story (Karsten Montag, 28.9.2022)
Anmerkungen
(1) Seymour Hersh: „Reporter: A Memoir“, Penguin 2018, S. 66f
(2) Hersh, Reporter, S. 67
(3) Hersh, Reporter, S. 68
(4) Hersh, Reporter, S. 120ff
(5) Hersh, Reporter, S. 178
(6) Hersh, Reporter, S. 204f
(7) Hersh, Reporter, S. 221f
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