Selektive Wahrnehmung und verführerischer Machtgewinn
RAYMOND UNGER, 18. August 2021, 14 Kommentare, PDFBei Corona handelt es sich um ein komplexes erkenntnistheoretisches Problem. Im Prinzip könnte man den Erkenntnisprozess in zwei Phasen einteilen: Die erste könnte man Verwirrung, die zweite Klärung nennen. Die Frage, ob das erkennende Individuum beide Phasen durchlaufen konnte, ist von vielen Faktoren abhängig. Unter anderem geht es dabei um den Prozess der selektiven Wahrnehmung, auch kognitive Verzerrung genannt.
Bekanntlich nehmen alle Menschen nur einen Bruchteil der Wirklichkeit auf. Wahrnehmung erfolgt durch diverse Filter, die uns vor Reizüberflutung schützen. Bevor wir etwas als »wahr« und »wichtig« erkennen, müssen neue Informationen diverse, unbewusste Kriterien erfüllen. Grundsätzlich gilt: Bilder sind stärker als Worte. Außerdem wirken Informationen relevanter und glaubwürdiger, sobald sie:
- möglichst oft wiederholt werden,
- von vielen Individuen geglaubt werden,
- vor Gefahren warnen.
In Bezug auf Corona grassieren die unterschiedlichsten Verschwörungstheorien, etliche behaupten, alles um das Phänomen sei von Anfang an und mit Vorsatz gelogen gewesen. Das eigentliche erkenntnistheoretische Problem ist jedoch komplexer, denn: Viele Meldungen bezüglich des Virus, der Mechanismus der Ansteckung, qualvolle Tode und die Bilder von den Intensivstationen sind echt. COVID-19 ist eine reale Infektionskrankheit, die unter besonderen Umständen als tödliche Krankheit verlaufen kann.
Da Corona, beziehungsweise die Krankheit COVID-19, real ist, geht es um die qualitative und quantitative Beurteilung der Dimension einer Gefahr. In der Phase Verwirrung war diese Beurteilung zugegebenermaßen schwer. Deshalb sind viele restriktive und bittere Entscheidungen, die in dieser Phase getroffen wurden, ein Stück weit unvermeidbar gewesen.
Leider hat der nachfolgende Prozess dazu geführt, dass sowohl Entscheider als auch Betroffene aufgrund der kognitiven Verzerrung Opfer eines Zirkelschlusses wurden, der den Eintritt in Phase zwei, Klärung, bis heute verhindert. Die Gründe, nicht in Phase zwei einzutreten und damit die wesentlich geringere Gefahr von Corona anzuerkennen, sind vielfältig.
Manchmal sind lediglich Ängste, Naivität, mangelnde Medienkompetenz und Denkfaulheit ursächlich. Oftmals werden neue Erkenntnisse jedoch vorsätzlich geleugnet, da sich in den Monaten der Sondervollmachten attraktive Macht- und Sekundärgewinne herausgestellt haben, die viele Entscheider nicht mehr aufgeben wollen. Das Wesen der schwarzen Pädagogik, Angst, ist auch deshalb kaum auszurotten, weil Menschen, die Macht organisieren müssen, in einem Angstraum plötzlich feststellen, wie mühelos ihr Unterfangen geworden ist. Jeglicher Widerstand implodiert. Dem Missbrauch zu widerstehen und unter diesen Bedingungen nicht durchzusetzen, was man schon immer durchsetzen wollte und von dem man überzeugt ist, es sei gut und richtig, ist unendlich schwer. (...)
Corona ist ein Gottesgeschenk für alle Kräfte, die am »Great Reset« arbeiten. Wann, wenn nicht jetzt, lassen sich alle erforderlichen Weichen stellen, um eine neue Weltordnung zu errichten? Natürlich haben Eliten weltweit unter Corona individuelle Erfahrungen bezüglich des enormen Machtzuwachses machen können. Und je nach Land und Interessenlage wird man unterschiedliche Sekundärgewinne ausbauen.
Die Geschehnisse in China und Italien bildeten den medialen Auftakt von Corona. Die dramatischen Bilder setzen jedenfalls den mächtigen Angstrahmen, in dem alles Folgende nur noch selektiv wahrgenommen werden konnte. Auf Wikipedia findet man eine interessante Liste kognitiver Verzerrungen, also Mechanismen die einen in falschen Wirklichkeitsblasen gefangen halten, insbesondere, wenn diese so bedrohlich wirken wie das Corona-Mem:
-
Emotionale Beweisführung:
Die Neigung, eine empfundene Emotion als Beweis für eine Annahme zu betrachten. [Bei allen Angstphänomenen überaus wichtig …] -
Katastrophisieren:
Die falsche Annahme, dass das Schlimmste, weil es vorstellbar ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich eintreten wird. -
Bestätigungsfehler:
Die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. -
Backfire-Effekt:
Die Neigung, Fakten, die der eigenen Überzeugung widersprechen, als Bestätigung der eigenen Überzeugung zu betrachten. -
Bias blind spot:
Die Tendenz, sich für unbeeinflusst zu halten. -
Wahrheitseffekt:
Die Tendenz, Aussagen, die zuvor bereits gehört oder gelesen wurden, einen größeren Wahrheitsgehalt zuzusprechen als solchen, die erstmals gehört werden.
Man muss vielen Bürgern, die nicht die Zeit für eine entsprechende Medienkompetenz aufbringen können, zugutehalten, dass die öffentlich-rechtlichen Medien alles Erdenkliche taten, um Corona, ungeachtet neuer Erkenntnisse, dauerhaft zu dramatisieren. Der enge Schulterschluss zwischen Medien und Regierung ist nach 15 Jahren Merkel zu einem Reflex geworden, der die offizielle Regierungsposition automatisch schützt.
Natürlich wären Entscheidungsträger wie Merkel, Spahn und Söder enorm unter Rechtfertigungsdruck geraten, sofern die Medien den Abgleich der Kollateralschäden zur tatsächlichen Gefährlichkeit von Corona zugelassen hätten. Ähnlich wie in der sogenannten Flüchtlingskrise zeigen die öffentlich-rechtlichen Medien flankierende Bilder, welche die politischen Entscheidungen rechtfertigen. Wobei man sagen muss – alle diese Bilder sind wahr. Trotzdem sind sie unwahr, weil sie selektiv sind und nicht repräsentativ das komplexe Phänomen abbilden.
Wenn man 2015 Aufnahmen von Familien mit kleinen Kindern machen wollte, die vor dem Syrienkrieg flohen, so konnte man diese Bilder machen. Die Szenen waren nicht von Schauspielern dargestellt, das Leid war real. Dennoch zeigten diese Bilder nicht repräsentativ, wie sich die über eine Million Zuwanderer tatsächlich zusammensetzten und aus welch vielfältigen Gründen sie nach Deutschland strömten.
Wenn man unter Corona Bilder machen will, die überforderte Krankenhäuser und Intensivstationen zeigen, so kann man diese Bilder machen. Wenn man »Corona-Tote« und aufgereihte Särge zeigen will, so kann man diese Bilder haben. Man findet auch Menschen, die sich nach einer Infektion mit dem Coronavirus auf dramatische Weise ins Leben zurückgekämpft haben und die noch jahrelang unter den Folgen einer geschädigten Lunge leiden werden. All diese Berichte aus Reha-Zentren, Altenheimen und Krankenhäusern sind weder gestellt, noch handelt es sich um Fake News.
Trotzdem zeigen auch diese Bilder nicht den repräsentativen Charakter der Krankheit. Dass es tatsächlich dramatische Verläufe bei Viruserkrankungen wie COVID-19 gibt und Menschen an dieser Krankheit sterben können, vor allem, wenn sie vorerkrankt oder sehr alt sind, kann man medial als neu und einmalig verkaufen, doch das ist es nicht. Ein wichtiger Faktor im Streit um die Wahrheit ist daher die absolute Übersterblichkeit im Vergleich zu den Vorjahren. Ohne den Vergleich der Vorjahre, den winterlichen Grippe-Todeswellen innerhalb der älteren und alten Bevölkerung, steht Corona als solitäres Monster da – danach als Scheinriese.
(…)
Inzwischen hat sich die Corona-Panik verselbstständigt. Corona-Nachrichten sind zu Schlagworten und Slogans geronnen, die sich tagein tagaus auf allen Medienkanälen wiederholen und deren Logik niemand mehr hinterfragt: »Bis zur Impfung sind wir dem Coronavirus schutzlos ausgeliefert!«; »Wir bleiben zu Hause!«; »Wir tragen eine Maske, um uns und andere zu schützen!«; »Solidarische Menschen lassen sich selbstverständlich impfen«. Nie haben Gesellschaften über einen längeren Zeitraum Freiheitsverlust und Entbehrungen ertragen, ohne dass Pathos, Heroismus und Appelle an den Gemeinsinn zum Tragen gekommen wären. Die psychologischen Sekundärgewinne einer von Pathos beleckten Masse sind jedoch derart süß, dass ab einem gewissen Punkt niemand mehr an neuen Erkenntnissen interessiert ist.
»Natürlich will nach diesem Heldentum und Verzicht am Ende niemand hören: ›Sorry, Leute – wir haben uns geirrt. Das Ganze war ein dummes Missverständnis. Corona ist doch nicht viel mehr als eine saisonale Grippe. Echt blöd, dass ihr jetzt arbeitslos seid und die größte Rezession der Geschichte durchstehen müsst …‹« (1)
In Kriegs- und Krisenzeiten kommt es zu einem Schulterschluss zwischen Regierung und Bürgern, wobei die unablässige Betonung der Gefahr den Benefit des Heroismus nur noch steigert. Angesichts großer Beschwerlichkeiten und Gefahren den Alltag dennoch bravurös zu meistern fühlt sich toll und lebendig an. Es gibt jedoch weitere Mechanismen, die das Eingeständnis eines Irrtums verstellen:
»Der Zweifelnde sucht das Gespräch, der Gläubige verweigert es. Warum ist das so? Ich vermute, es ist vor allem eines: Angst. Aber es ist gar nicht unbedingt die Angst vor ›Corona‹, auch nicht die vor der eigenen Sterblichkeit. Vielmehr scheint es die Angst zu sein, dass man – so man zu zweifeln beginnt – sich darüber klar werden würde, dass man erfolgreich getäuscht wurde, man sich kolossal geirrt hat. Damit würde man alle seine Wahrnehmungen, alle Erinnerungen, gar sein Weltbild – sein gesamtes ICH infrage stellen. Davor hat unser Unterbewusstsein eine tiefe Grundangst, eine die kaum zu überschätzen ist, und die automatisch Vermeidungsstrategien ablaufen lässt.« (2)
Dieser Mechanismus ist der entscheidende Grund, erst gar keine erweiterte Medienkompetenz entwickeln zu wollen. Die staatlich lancierte Erzählung, alternative Medien würde per se Lügen und dummes Zeug von Verschwörern verbreiten, ist ein hervorragender Schutz davor, das eigene Ich infrage zu stellen. Die innere kognitive Dissonanz zuzulassen würde zunächst einmal Angst erzeugen. In der Verweigerung, dieses Wagnis einzugehen, liegt die »Banalität des Bösen«, die Hannah Arendt beschrieb. Der banal böse Mensch weigert sich ab einem bestimmten Punkt, selbstständig zu denken, und delegiert seinen inneren Konflikt an »die da oben«, die werden es schon wissen.
Mit dieser Haltung wird der Mensch zum Soziopath, da er seinem angeborenen inneren Dialog, dem moralischen Abgleich zwischen Gut und Böse, erfolgreich ausweicht. Selbst schlimmste Folgen für die Mitmenschen vermögen nach dieser selbst gewählten Denkblockade kaum noch innere Unruhe auszulösen, wie die Milgram-Experimente eindrucksvoll gezeigt haben. Man selbst trägt schließlich keine Schuld an der Sache, die Verantwortung liegt bei den Wissenschaftlern und Politikern. Und was hätte man schon machen können, als kleines Rad im Getriebe. Menschen können immer dann zu derart banalen Monstern werden, sobald sie diese Abspaltung vollzogen haben.
Außerdem – sollte sich erweisen, dass man bezüglich Corona auf gröbste und vorsätzliche Weise getäuscht wurde, dass man völlig sinnlos Masken getragen, Hände desinfiziert, Kinder verunsichert, Alte alleingelassen und den eigenen Job riskiert hat, erzeugt dies im besten Fall große Wut – wobei Wut völlig okay wäre. Man könnte handeln, sich ausagieren, eine Sammelklage planen oder was auch immer.
Viel schlimmer ist jedoch, dass das Psychogramm vieler Babyboomer gerade nicht mit Wut reagiert, sondern mit Scham. Derart böse angelogen und missbraucht zu werden, erzeugt sehr viel Scham. Und wie ich weiter oben [im Buch] bereits ausgeführt habe, ist Scham ein zentrales Lebensgefühl für transtraumageschädigte Babyboomer, ein mehr davon muss um jeden Preis vermieden werden.
Überhaupt die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, mit Corona schlichtweg belogen worden zu sein, wird daher im weiten Vorfeld abgewehrt. Sofern sich der Angst- und Gewaltraum rund um Corona über Monate oder gar Jahre halten würde, kämen unweigerlich gruppendynamische Prozesse in Gang, die letztendlich immer in einer Denunziationskultur münden. Über diesen Effekt schrieb Hannah Arendt:
»Während der großen Säuberungswellen gibt es überhaupt nur ein Mittel, die eigene Zuverlässigkeit zu beweisen, und das ist die Denunziation seiner Freunde. Und dies wiederum ist, was die totale Herrschaft und die Mitgliedschaft in einer totalitären Bewegung angeht, ein durchaus richtiger Maßstab. Was suspekt ist, ist Freundschaft und jegliche andere menschliche Bindung überhaupt.« (3)
Das Zeitfenster für den Weg zur Besinnung und Gesundung ist nicht beliebig lange offen. Aus diesem Grund sollten Gesellschaften, die am Umschlagpunkt zu einem Angstraum stehen, alle resilienten und besonnenen Kräfte so früh wie möglich bündeln – andernfalls droht eine lange, dunkle Phase von Restriktion und Unterdrückung. Dieser Zeitpunkt ist genau jetzt.
Raymond Unger, Vom Verlust der Freiheit. Klimakrise, Migrationskrise, Coronakrise. Europa Verlag, 520 Seiten, 24 Euro
Über den Autor: Raymond Unger, Jahrgang 1963, lebt als Autor und bildender Künstler in Berlin. Er ist als Kunstmaler tätig, schreibt Essays und Bücher, hält Vorträge und leitet Seminare zu den Themen Kunst, Psychologie und Politik. Er besitzt 20 Jahre medizinische Berufserfahrung. Anfang der 1990er-Jahre leitete er eine Naturheil- und Psychotherapiepraxis in Hamburg und bekleidete eine Dozentur für Naturmedizin an einer Hamburger Fachschule für Heilpraktiker.
Anmerkungen
(1) Tichys Einblick, »Kriegskinder in Corona-Gefangenschaft«, Raymond Unger, 17.06.2020
(2) Rubikon, »Am Ende gewinnen die Emotionen«, Christian Reichhoff, 08.09.2020
(3) »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, Hannah Arendt
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