Die Rückkehr des Mars
MALTE NELLES, 15. März 2024, 1 Kommentar, PDFWas ist eigentlich geschehen in der deutschen Öffentlichkeit? Über „Kriegsmüdigkeit“ beklagt man sich, eine „Wehrpflicht“ müsse wieder eingeführt und Deutschland „kriegstüchtig“ werden. Der deutsche Bundespräsident nennt Russlands Führung „das Böse“ und der Grüne Anton Hofreiter, bislang eher bekannt für seinen Einsatz für eine biologisch orientierte Landwirtschaft, fordert die totale Mobilisierung sämtlicher Ressourcen gegen Russland.
Waren nicht wenige Politiker der Grünen gefühlt bis vor kurzem noch damit beschäftigt, vierblättrige Kleeblätter im Garten der Waldorfkita zu suchen, sieht man Cem Özdemir nun in Feldtarn beim Truppenbesuch der Feldjäger. Und es bleibt nicht bei solchen Bildern: Die Atombombe für die Europäische Union fordert EU-Parlamentsvizepräsidentin Katharina Barley, und der Politiker und Bundeswehr-Oberst Roderich Kiesewetter möchte sogar „den Krieg nach Russland tragen“ und das „Sondervermögen“ zur deutschen Aufrüstung verdreifachen. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Annalena Baerbock und Boris Pistorius haben bereits so viel verbale Munition verschossen, dass es schwerfällt, einzelne Zitate ihrer Wortgefechte auszuwählen.
Wie werden aus Friedenstauben Marschflugkörper?
Was ist passiert mit den pazifistisch sozialisierten politischen Vertretern in der Bundesrepublik und auch mit jenen der deutschen Medienlandschaft, deren Identität ebenfalls im „Nie wieder Krieg“ begründet lag? Hat man plötzlich, so dürfte in etwa die offizielle Lesart und Selbstbeschreibung der Akteure lauten, einfach nur erkannt, wie machtbesessen, grausam und verlogen Putin ist und daraus nun den einzig rational gebotenen Schluss einer unbedingten Aufrüstung und Eskalation gezogen? Ist der Satz „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen!“ nur sprachpolitisches Kalkül oder sagt er nicht vielleicht auch etwas aus über den Bewusstseinszustand der Betreffenden und der deutschen Öffentlichkeit? Wie werden aus Friedenstauben Marschflugkörper? Wie entwickelt der Krieg im Geiste seine unnachahmliche Dynamik und Vollendungssehnsucht?
Rationale, politologische aber auch konventionell psychologische Erklärungszugänge reichen nicht aus, um die geistige 180-Grad-Wende zu verstehen, die öffentliche Akteure innerhalb kürzester Zeit vollzogen haben und auf deren Pfad sich Deutschland begeben hat. Da nun mythisch-religiöse und essenzialisierende Begriffe wie „das Böse“ und „der Feind“ wieder Konjunktur haben, bietet es sich an, das aktuelle Geschehen selbst mittels einer mythologischen, „archetypischen“ Perspektive in der Tradition des Schweizer Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung zu betrachten. In Deutschland, dem Land des „Nie wieder Krieg!“, hat sich – so die im Folgenden ausgearbeitete These – ein neuer und zugleich altbekannter Archetypus im öffentlichen Bewusstsein konstelliert. Mars, der römische Kriegsgott der Antike, ist zurück aus dem seelischen Asyl, in das man ihn über 70 Jahre verbannt hatte. Der Geist des Krieges ist wieder aus der Flasche und beherrscht das öffentliche Bewusstsein, insbesondere das der Medien.
Unbewusste Seelenkräfte
Carl Gustav Jung bescheinigte dem modernen aufgeklärten Menschen in einem 1929 gemeinsam mit dem Sinologen Richard Wilhelm herausgegebenen Buch, unter dem Einfluss unbewusster Seelenkräfte zu stehen, die das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen privat, aber auch in ihren öffentlichen Rollen bestimmen:
„Wir meinen uns schmeicheln zu dürfen, (…) Götterschemen (…) schon geraume Zeit hinter uns zu haben. Was wir überwunden haben, sind aber nur die Wortgespenster, nicht die seelischen Tatsachen, welche für die Entstehung der Götter verantwortlich waren. Wir sind von unseren autonomen seelischen Inhalten noch genauso besessen, wie wenn sie Götter wären. Man nennt sie jetzt Phobien, Zwänge, usw., kurz neurotische Symptome. Die Götter sind Krankheiten geworden, und Zeus regiert nicht mehr den Olymp, sondern den plexus solaris und verursacht Kuriosa für die ärztliche Sprechstunde oder stört das Gehirn der Politiker und Journalisten, welche unwissentlich psychische Epidemien auslösen.“ (1)
Jungs Gedanken fortgeführt und auf das Phänomen Krieg bezogen hat sein vielleicht wichtigster Schüler, der 2011 verstorbene amerikanische Psychoanalytiker James Hillman. Im Jahr 2004 erschien als eines seiner letzten Bücher „Die erschreckende Liebe zum Krieg“. (2) Hillman entwickelt hierin eine für Zeitgenossen eher befremdliche Perspektive: Krieg sei nicht als das Resultat abgewogener Entscheidungen von Staatsführern zu verstehen, sondern ergebe sich aus Bewusstseinskräften, die stärker seien als das rationale Ich der jeweils Handelnden. Im Krieg, dem offenem im Schlachtfeld, aber auch dem aus der Ferne am Tatort Schreibtisch oder auch nur beim betroffenen Lesen von Nachrichten, werde die Psyche von archetypischen Kräften durchlebt, die entschieden, wie wahrgenommen, empfunden und schließlich gehandelt werde.
Hillman lehnt sich dabei an das antike Welt- und Menschenverständnis an und bezeichnet diese menschheitsalten seelischen Strukturen des Erlebens als „Götter“. Ein „Gott“ ist in diesem Verständnis eine Kraft, die jenseits des persönlichen Wollens und Entscheidens des „Ich“ liegt und das Bewusstsein des Betreffenden bestimmt. Wo das „Ich“ endet, beginnt die Sphäre der Götter.
Was auf den ersten Blick esoterisch klingen mag, ist eine hilfreiche metaphorische Beschreibung für den psychologischen Furor, der das Bewusstsein der Akteure nicht erst im Krieg beherrscht, sondern ihn schon Jahre vorher wie etwas Unausweichliches erscheinen lässt. Derzeit findet dieses sich selbst schreibende archetypische Drama seinen Ausdruck in dem immer lauteren Trommeln für einen Krieg mit Russland.
Unbewusste Entscheidungen
Auch empirisch haben die Grundperspektiven einer solchen metaphorisch-bildhaften Herangehensweise an den Krieg als seelisches Phänomen eine gewisse Basis. Dies gilt zumindest für die wissenschaftlich weitgehend bestätigte Einsicht, dass der größte Teil unserer Entscheidungen unbewusst getroffen wird. So belegen etwa die Forschungen des Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann wie auch jene des Gehirnforschers Gerhard Roth die Hauptaussage, auf deren Basis die Tiefenpsychologie seit 120 Jahren ihre Theorien entwickelt: Der Mensch ist nur zu einem geringen Teil ein freies, zur Rationalität fähiges Wesen. Der Großteil seines Erlebens und Handelns wird unbewusst und damit von seelischen Kräften außerhalb der willentlichen Kontrolle bestimmt. Mit Freuds alter Formel: „Wir sind nicht die Herren im eigenen Haus“.
Die Rolle, die in Freuds Modell des Psychischen dem „Es“ – dem unverfügbaren, tierhaften Teil der Psyche – zugeschrieben wird, nehmen beim Jung-Schüler Hillman die Archetypen ein. Jung und Hillman bezeichnen damit unbewusste psychische Prozesse, deren strukturbestimmende Wirkung in der Alltagspsychologie zum Ausdruck kommt und deren Wesen man etwa in den Narrativen von Mythen, Märchen oder Sagen und heute auch in Romanen oder Filmen ablesen kann. Warum braucht etwa fast jeder Hollywood-Film einen Helden, einen Bösen und ein Happy End und weshalb überlegt man es sich nicht selten gut, stattdessen einen Art House-Streifen zu schauen, der mit der mythologischen „Ende gut, alles gut“-Erzählschleife bricht und einen in depressiver Ratlosigkeit zurücklässt?
Ein weiteres lebensnahes Beispiel: In einem „schwachen Moment“ lässt sich mancher auf einen außerehelichen Beischlaf ein und meint im Nachhinein, „nicht man selbst gewesen zu sein“. Die archetypisch-mythologische Erklärung, dass hier nicht „ich“ bewusst und willentlich den Seitensprung vornahm, sondern die Kraft der „Göttin Aphrodite“ verführte, dürfte zwar nicht als Erklärung gegenüber dem gehörnten Partner taugen, aber in der subjektiven Erfahrung nicht selten dem entsprechen, was Betroffene von derlei Situationen berichten. „Ich wollte eigentlich anders, aber es ist einfach mit mir geschehen“.
Diese, die Kontrolle des willentlichen Ich durchkreuzenden psychischen Kräfte verstanden Menschen in allen Zeiten vor der Moderne als „Götter“ oder – in den monotheistischen Religionen – als Verführung durch den Teufel. Mag ihr Name sich gewandelt haben, ihre Wirkung und das subjektive Erleben ihrer Macht sind geblieben, auch wenn wir diese „Götter“ heute dem wissenschaftlichen Zeitgeist entsprechend lieber „Emotionen“, „Symptome“, „Erwartungen“, „Fantasien“ oder „Triebe“ nennen.
Gefühl der Unausweichlichkeit
James Hillman schrieb hierzu in seinem erwähnten Buch:
„Noch bevor Kriege anfangen und bis zu ihrem letzten Gefecht schwebt über ihnen das schwere, verhängnisvolle Gefühl der Unausweichlichkeit; es gibt keinen Ausweg. Das ist die Wirkung des Mythos. (…) Krieg (wird) von einer Art kollektiven Kraft jenseits des individuellen menschlichen Willens gesteuert“.
Man ahnt es, man spürt es, der Krieg liegt wieder in der Luft und mit ihm sein Durst nach Blut, menschlichem Leben und Zerstörung von all jenem, das unsere Gesellschaft vordergründig als heilig ansieht und in Artikel 1 des Grundgesetzes, dessen Geist sich direkt aus den Erfahrungen des Krieges speist, als „unantastbar“ bezeichnet. Krieg ist, wo und aus welchem Grund auch immer er ausbricht, per se eine Vergewaltigung der Menschenwürde und ein Aussetzen jenes Humanismus, auf dem die politische Identität der Bundesrepublik vorgeblich ruht.
Im Diskurs zu Russland herrscht nicht die historische Erfahrung oder die politische Vernunft, es herrscht der Geist des Krieges, der Archetypus des Mars. Der Krieg ist, wenn er einmal ausgebrochen ist, ein Diktator des Bewusstseins. Nicht mehr die Vernunft und das Einfühlungsvermögen, jene inneren Ressourcen, auf denen der moderne Mensch seine Lebensführung und Handlungsorientierung gründet, bestimmen das Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Handeln. An ihre Stelle setzt sich das Prinzip des Krieges auf den Thron des Bewusstseins. Anstelle eines wachen Ichs, das in der Lage ist abzuwägen, Dinge relativ zu betrachten, Kompromisse zu schließen, differenziert zu empfinden und zu entscheiden, bestimmt das absolute Prinzip des Krieges mit seiner Monothematik (Verteidigen, Aufrüsten, Bedrohen, Siegen, Vernichten um jeden Preis) das gesamte Bewusstsein.
Der Krieg schickt die involvierten Akteure als psychologisches Phänomen auf eine Einbahnstraße der Wut und Angst, ohne dass jene dies bewusst bemerken würden und reflektieren könnten. Nun, wo die „Koste es, was es wolle“-Rhetorik des „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen“-Diktats auf dem Schlachtfeld an ihre Grenzen zu kommen scheint, ist es kaum möglich zurückzuweichen.
Psychisches Skript
Der Archetypus des Mars, der „Gott des Krieges“, ist im Verständnis der Jung´schen Psychologie ein im kollektiven Bewusstsein und damit auch in jedem einzelnen Menschen angelegtes Urbild menschlicher Vorstellung und Erfahrung. Ein Archetypus wirkt wie ein psychisches Skript, das die involvierten Personen in eine bestimmte Richtung treibt. Seit es Menschen gibt, gibt es – unabhängig von deren jeweiligen Werten, in allen Kulturen – Kriege. Die besten Ideen der klügsten Köpfe haben es nicht vermocht, dieser archetypischen Urkraft etwas entgegen zu stellen. Der Krieg, so scheint es, sucht sich die menschlichen Schauspieler für das Stück, das er inszenieren möchte. Diejenigen, die seiner Verführungskraft widerstehen konnten, waren meist jene, die vollumfänglich mit seiner Wirklichkeit und Eigendynamik rechneten.
Der Krieg gebärt im Menschen eine eigene Psychologie. Der Einzelne folgt nicht nur durch äußeren Druck und Zwang der Logik des Krieges, sondern ebenso durch das innerliche „Müssen“, welches der Krieg dem Bewusstsein trotz all des historisch erworbenen humanistischen Selbsttrainings des modernen Menschseins aufzwingt. Dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in einem historischen Verpflichtungsverhältnis gegenüber dem Westen und Israel, sondern auch gegenüber Russland steht, das die meisten Menschenopfer in diesem größten aller Kriege bringen musste – alles scheint seit dem Moment vergessen, als das Putin´sche Russland die rote Linie der ukrainischen Staatsgrenzen überschritten hat. Mars ist schnell, reaktiv, verallgemeinernd und infektiös. In Deutschland beschloss die Leitung eines Münchener Krankenhauses binnen Tagen nach Kriegsausbruch in vorauseilend gehorsamer Weiterführung der Corona-Logik kurzerhand, nun keine russischen Staatsbürger mehr zu behandeln.
Man kommt nicht um die tiefenpsychologische Betrachtung des Geschehens, wenn man die neurotische Schrägheit verstehen will, die die deutsche Öffentlichkeit in den letzten Jahren beherrscht. Während eine militärisch vollkommen unerfahrene Politikerin wie Katharina Barley, die auch Präsidentin des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschlands ist, zur EU-Atombombe anregt, sind es ausgerechnet gestandene Militärs wie der ehemalige militärpolitische Berater von Angela Merkel, Erich Vad, und der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Ex-Aufsichtsratsvorsitzende des Waffenkonzerns Heckler & Koch, Harald Kujat, die sich für abgewogene und realistische Perspektiven, Verhandlungen und eine Friedensperspektive im Ukraine-Krieg einsetzen. Während die Scharfmacher die Schlagzeilen beherrschen, müssen Vad und Kujat ihre Beiträge und Interviews etwa in Alice Schwarzers „Emma“ platzieren. Die Militärs bei den Altfeministinnen – welch eine Farce oder, wenn es nicht letztlich um Leben und Tod gehen würde, göttliche Komödie.
Siegen um jeden Preis
Aus einer rationalen Perspektive fällt es schwer, der zwingenden Notwendigkeit zu folgen, mit der die kriegstreibende Fraktion in Deutschland die Öffentlichkeit infiziert hat und von der sie selbst infiziert und innerlich getrieben erscheint. In ihrem Geist ist klar: „Wir müssen uns für einen Krieg mit Russland rüsten“. Boris Pistorius weiß sogar bereits, wann dieser Krieg beginnt: „in fünf bis acht Jahren“.
Bei den alten Römern war klar, dass, wenn ein Krieg in der Luft liegt, nicht mehr die einzelnen Menschen handeln, sondern Mars das Ruder übernommen hat. Man kannte ihn. Er ist energisch, handelt lieber, statt zu denken und abzuwägen. Rationalität ist ihm fremd. Sein Temperament ist heißspornig. Er ist von seiner Natur her monothematisch: Siegen um jeden Preis. Da er einen Namen hatte, einen Charakter, eine eigene Subjektivität, konnte man wahrnehmen, wenn Menschen, die Politik oder die Öffentlichkeit von Mars ergriffen wurden. Man konnte spüren, hören und verstehen, dass der Kriegsgott am Werk ist und von nun an das Bewusstsein beherrscht.
Die auf diese Weise hergestellte Distanz, in der ein subjektiver Bewusstseinszustand imaginativ objektiv personifiziert wird, gewährt die Möglichkeit, in ein Beziehungsverhältnis zum eigenen psychischen Zustand zu gelangen. Die Technik, seelische Symptome aus ihrer Ich-Syntonie (ihrer subjektiven Einheit mit unserem Ich-Erleben) zu lösen, wird heute in verschiedensten therapeutischen Schulen eingesetzt. In der therapeutischen Praxis kann ein Patient dann in einen dialogischen Prozess mit seiner Wut und Konfliktlust kommen und auch die selbstzerstörerischen Folgen reflektieren, die sich aus einem blinden Ausagieren dieser Impulse entwickeln können.
Putin als kühler Antipode
Die vielleicht größte Provokation für das Marsbewusstsein, das sich aktuell in der gegenwärtigen deutschen Medien- und Staatselite ausbreitet, ist der Antipode Wladimir Putin. Er wirkt zumindest nach außen hin und auch nach den Schilderungen vieler Staatschefs aus persönlichen Treffen wie ein kühl kalkulierender Stratege. Das „Ich“ sitzt bei Putin, auch wenn man immer wieder versucht, ihn als schwer krank oder psychisch gestört dazustellen, anscheinend klar am Steuer. Obwohl er von westlichen Staatsoberhäuptern öffentlich beleidigt wird, wie zuletzt von Joe Biden als „crazy son of a bitch“, favorisiert er auf die Nachfrage hin Biden für das Amt des nächsten US-Präsidenten – als berechenbaren Politiker alter Schule.
Nichts aber macht den von Mars Ergriffenen so wahnsinnig, wie zu erleben, dass das Gegenüber nicht vom ihm getrieben ist.
Die heutige Alltagspsychologie ist von der der Aufklärungsphilosophie entstammenden Idee des freien Willens und des autonomen Ichs bestimmt. Heute bemerkt niemand, wenn Mars geweckt ist. Allenfalls dem feindlichen Gegenüber unterstellt man eine Kriegswut oder Mordlust. Der im Selbstverständnis götterlose heutige Mensch meint nicht von Mars bestimmt zu werden, denn die Götter sind für ihn Einbildungen primitiverer Völker und Zeiten. Der moderne Mensch lässt sich leicht von Mars regieren, da er ihn wissenschaftlich als Unfug entlarvt hat. Er ist das ideale Opfer dieser alten Götter, denn der Mensch der heutigen Zeit lebt im vollkommenen Unbewusstsein ihrer Existenz in seiner selbsternannt aufgeklärten Psyche.
Die Schwäche des heutigen Menschen liegt darin, dass er die Personifizierung eines Gefühls als Gott als etwas Faktisches, Buchstäbliches nimmt. Die dominante materialistische Weltsicht erkennt das Gefühlsprofil und den selbsterfüllenden Charakter eines Mars oder Ares nicht, da dem heutigen Menschen die Bilder, die Begriffe und damit das Verständnis hierfür abhandengekommen sind. Was er nicht sehen und dinghaft fixieren kann, existiert nicht für ihn. Diese Unbewusstheit ist seine psychologische Achillesferse und vielleicht die größte Gefahr, der er ausgesetzt ist.
„Der Krieg“, so sagte James Hillman, der 1926 geboren wurde und sein ganzes Leben mit diesem Phänomen gerungen hat, „wird bleiben, bis die Götter selbst gehen“. Auch zum Ende eines einzelnen Krieges hat Hillman in Analogie zur Psychopathologie eine Perspektive hinterlassen: „Wie das manische Syndrom erschöpft Krieg sich schließlich selbst“. Nach der Manie kommt bekanntlich die Depression. Die nach dem Zweiten Weltkrieg viele Jahrzehnte währende Episode der militärischen Depression in Deutschland schlägt jetzt wieder ins Manische um. Waren die Bombardierung von Serbien und die „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“ das historische Wiederwarmwerden des deutschen Kriegsgeistes, so muss man angesichts der heutigen Kriegslust konstatieren: Mars ist zurück.
Über den Autor: Malte Nelles, Jahrgang 1982, ist Politologe, Co-Leiter des Nelles-Instituts für Phänomenologische Psychologie und führt eine psychotherapeutische Praxis in Berlin. 2023 erschien sein Buch „Gottes Umzug ins Ich. Eine Tiefenpsychologie des modernen Menschen“ im Europa Verlag.
Weiterer Artikel zum Thema:
- Kriegsnarrative als letzter Halt des Ich (Andreas Heyer, 28.6.2022)
Anmerkungen
(1) Richard, Wilhelm/Jung, Carl Gustav (1929/1982): Das Geheimnis der goldenen Blüte. Ein chinesisches Lebensbuch. Walter-Verlag, Olten, Freiburg, S. 34–35.
(2) Hillman, James (2004): „Die erschreckende Liebe zum Krieg“, Kösel, München.
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