Kriegsnarrative als letzter Halt des Ich
ANDREAS HEYER, 28. Juni 2022, 3 Kommentare, PDFIn der psychotherapeutischen Arbeit zeigte sich in den letzten Jahren, dass sich die Patienten neben den individuellen, oftmals biografischen Themen zunehmend auch von gesellschaftlichen Krisen und wahrgenommenen kollektiven Bedrohungen belastet fühlten. Vermittelt durch Leitmedien reihten sich Krisen- und Bedrohungsszenarien aneinander. Es war kaum noch möglich, ein Leben unberührt von Krisennarrativen zu führen. Gleichzeitig führte die technologische Entwicklung mit Smartphones und Social Media zu einer zunehmend durch Maschinen vermittelten Wahrnehmung der Welt.
Der bisherige Lebensstil, der Status und das Selbstverständnis der materialistischen Konsumgesellschaften Europas und Nordamerikas wurden spätestens seit der Finanzkrise 2008 brüchig. Es zeigte sich, dass die gewohnten materiellen Werte und auch der Geldwert nicht so sicher waren wie geglaubt. Als Folge entstand in vielen Menschen eine psychische und spirituelle Haltlosigkeit, die mit diffusen existenziellen Ängsten, existenzieller Scham und existenzieller Einsamkeit einherging.
Da ein Großteil der Bevölkerung es in einer langen Phase gesellschaftlicher Stabilität nicht gewohnt war, mit solch existenziellen und archaischen Emotionen umzugehen, wurden Mittel gesucht, die schwer aushaltbaren inneren Zustände mit immer höherem Einsatz kollektiv psychisch abzuwehren. Meinungen wurden im gesellschaftlichen Diskurs oftmals als Bedrohung wahrgenommen, wenn diese den Halt der kollektiven Abwehr in Frage stellten.
In der Psychoanalyse ist das Konzept der Abwehrmechanismen formuliert, mit denen Menschen versuchen, schwer aushaltbare Emotionen zu regulieren und sich von innerseelischen und zwischenmenschlichen Konflikten zu entlasten. Wenn besonders tiefgreifende Existenzängste wie materielle Verlustängste, Todesängste oder Ängste des Ich-Verlustes den Menschen bedrohen, können diese oftmals nur über frühkindliche Abwehrmechanismen reguliert werden.
Dazu gehören die Mechanismen der Spaltung, der Verleugnung, der Projektion und projektiven Identifizierung sowie der Autoaggression. Gegenwärtig manifestieren sich alle genannten Mechanismen auch als gesellschaftlich-kollektive Phänomene. Das kollektive Phänomen entsteht dabei, wenn eine ausreichende Zahl von Individuen entweder als gesellschaftliche Mehrheit oder als Mehrheit in den Machtzentren (Multiplikatoren und Entscheidungsträger) diese Abwehrmechanismen in größerem Umfang individuell nutzt.
Ursachen kollektiver Phänomene
Wie der belgische Professor für klinische Psychologie Mattias Desmet in seinem neuen Buch „The Psychology of Totalitarianism“ ausführt, werden Menschen empfänglich für kollektive Phänomene, wenn sie sich sozial isoliert fühlen, wenig Sinn in ihrem Leben empfinden und ein hohes Maß an frei-flottierender Angst einen hohen inneren Spannungsdruck erzeugt. Bei frei-flottierenden Ängsten handelt es sich um eine Form von diffusen Ängsten, die innerpsychisch ungebunden sind und kein Objekt finden, auf das sich die Angst beziehen kann. Diese Form von Ängsten erzeugen ein bewusstes oder unbewusstes Lebensgefühl der konstanten Bedrohung, in dem Ängste in verschiedensten Lebenssituationen vorhanden sind, ohne dass diese einer konkreten Bedrohung zuordenbar wären.
Oftmals äußern sich frei-flottierende Ängste als innere Unruhe, als Schlafstörungen, innere Leere, Reizbarkeit oder auch als psychosomatische Symptome. Sie stehen in Zusammenhang mit einer Regression in frühkindliche Erlebensmuster, deren Nährboden biografisch eine Atmosphäre der konstanten Bedrohung in der Kindheit sein kann. Gesellschaftlich dürfte das Ausmaß an diffusen Ängsten, sozialer Isolierung oder Sinnlosigkeit durch die Prozesse der Individualisierung, Flexibilisierung, Globalisierung, Leistungsverdichtung und Digitalisierung zugenommen haben. Der gleichzeitige Wegfall traditionell haltgebender Strukturen wie Familie, religiöse Einbindung, persönlicher Austausch, physische Präsenz, dörfliche Strukturen, regionale Bräuche oder kulturelle Eigenheiten trugen zu einem wachsenden Gefühl innerer Haltlosigkeit bei.
Haltlosigkeit in sich selbst
In der psychotherapeutischen Arbeit zeigt sich, dass viele Patienten mit unterschiedlichster psychischer Symptomatik sich wenig verbunden mit sich selbst, mit den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen, auch wenig verbunden mit anderen Menschen fühlen. Ebenso kommt es gerade in den letzten Jahren gehäuft vor, dass überwältigende Ängste oder gar Panik erlebt werden bei dem Gedanken an die eigene Sterblichkeit.
Oftmals erleben sich Patienten entfremdet von sich selbst, wie „in einem Hamsterrad“, in dem ein Großteil der Lebensenergie darauf verwendet wird, noch einigermaßen zu funktionieren, Leistung zu erbringen und die soziale Rolle aufrecht erhalten zu können. Dieser innere Überlebenskampf kann sich ausweiten in einen inneren Krieg mit sich selbst: In einem ständigen Kampf gegen eigene (unangenehme) Gefühle, gegen die wahrgenommene eigene Wertlosigkeit, gegen erlebte Sinnlosigkeit des Lebens, gegen den psychischen Zusammenbruch.
Wenn dieses individuelle Erleben, sich nur noch wie eine funktionierende Maschine vorzukommen und sich über einen inneren Kampf gerade noch stabil halten zu können, als gesellschaftliches Phänomen ausbreitet, kann dies in einer unbewussten, unreflektierten Form zu kollektiven Phänomenen führen, in der die Gesellschaft dankbar Kriegsnarrative als letzten Halt der Ich-Stabilität aufgreift.
Bereits seit Beginn der Industrialisierung und dem Siegeszug des Kapitalismus breitete sich ein Lebensstil des Konsums und des Materialismus aus. Schon früh im 20. Jahrhundert wurden kollektive Phänomene der Entfremdung von sich selbst, der Empathielosigkeit und Brutalität der Menschen untereinander sichtbar und spürbar. Hermann Hesse veröffentlichte 1927 seinen Roman „Der Steppenwolf“ aus seinem Unbehagen an dem rational-technischen Weltbild seiner Zeit heraus. Sigmund Freud veröffentlichte 1930 sein „Unbehagen in der Kultur“, in der er das wachsende Unbehagen der Menschen in einer Kultur beschreibt, die aggressive Impulse durch Schuldgefühle gegenüber äußeren Autoritäten einhege und individuelles Glücksgefühl dadurch vermindere. Erich Fromm veröffentlichte 1976 sein Werk „Haben oder Sein“, in dem er kritisiert, dass die materialistische Konsumgesellschaft zu einer auf Besitz und Leistung ausgerichteten Existenzweise führe. Diese behindere die Existenzweise des Seins, in der beispielsweise ausreichend Zeit zum Zuhören und Verstehenwollen gegenüber anderen Menschen ausgeprägter wäre.
Die im 20. Jahrhundert bereits formulierten Probleme des rational-technischen Materialismus haben sich im 21. Jahrhundert durch die fortschreitende Technologie und daraus resultierende Beschleunigung noch weiter verstärkt. In den vergangenen 20 Jahren wurde der Mensch durch Mobiltelefone und Internet animiert, überall und nirgends, jederzeit erreichbar und doch nie präsent zu sein. Der Mensch versucht ständig in Kontakt mit seinen digitalen Avataren in sozialen Medien und Online-Spiele-Welten zu sein, aber verliert dabei den Kontakt zur eigenen Seele.
Die aktuell kollektiv beobachtbaren Abwehrmechanismen sind auch zu früheren Zeiten kollektiv aufgetreten. In dieser Zeit zeigen die altbekannten psychischen Mechanismen jedoch durch die fortgeschrittene Technologie und die Medialisierung des Alltags spezifische Ausprägungen. Im Folgenden werden die über Leitmedien verbreiteten Narrative als Beispiele für heutige Ausprägungen kollektiver Abwehrmechanismen aufgegriffen, da diese einen starken gesellschaftlichen Einfluss ausüben. Wichtig ist aber zu betonen, dass die geschilderten Abwehrmechanismen bei Anhängern und Kritikern der Leitmediennarrative gleichermaßen kollektiv auftreten können. Die gesellschaftlichen Schichten, die Zugang zu Machtpositionen haben, haben jedoch mehr Einfluss, die Ausprägung ihrer spezifischen Abwehr gesellschaftlich zu verbreiten.
Spaltung
Der Abwehrmechanismus der Spaltung kann innerpsychisch Halt geben, da eine Aufteilung der Welt in „klares Gut“ und „klares Böse“ vorgenommen wird. Weil der Mechanismus meistens in der Form verwendet wird, sich selbst moralisierend auf die Seite des „Guten“ zu verorten, dient dieser Mechanismus oft zur narzisstischen Überhöhung des Selbstwertes und damit zu einer Stabilisierung eines sich in Not befindenden Ichs. Zur Aufrechterhaltung der Spaltung wird ein Großteil der psychischen Energie in einen „Kampf gegen das Böse“ oder in die „Rettung des Guten“ investiert.
Dies führt zu quasi-religiös anmutenden Narrativen, die definieren, was „das Gute“ und „das Böse“ seien. Es werden Alliierte im gemeinsamen Kampf gegen ein Feindbild gesammelt. Die Alliierten können dabei untereinander ihre Gefühle sozialer Isolation und von Sinnlosigkeit durchbrechen. Die frei-flottierende Angst findet ein Objekt, auf das sie gerichtet werden kann: Der Feind ist die Ursache für das allgegenwärtige Bedrohungsgefühl. Als kollektives Phänomen entsteht „Kameradschaft“ in der gemeinsamen „Schlacht gegen das Böse“. Die sozialen Medien erlauben die Bildung kleiner und spezifischer Gruppen mit einheitlicher „Gut-Böse“-Zuschreibung.
In den letzten Jahren waren in Leitmedien verschiedene Narrative erkennbar, in denen eine Spaltung in gut und böse durch „Kampf gegen…“ und „Rettung von...“ vorgenommen wurde: Zunächst die Rettung der Banken, dann die Rettung des Euro. Es folgte der „Kampf gegen den Terror“. Bereits während der Kriege in Afghanistan, Irak und Syrien wurde die Formulierung als „Krieg gegen den Terror“ verschärft. Als Gegenpol entstand daraus die Flüchtlingsrettung verbunden mit einem nach Innen gerichteten „Kampf gegen Rechts“. Formulierungen des Krieges wurden auch in der darauf folgenden Corona-Krise mit der Formulierung „Nous sommes en guerre“ („Wir sind im Krieg“) des französischen Präsidenten aufgegriffen, ansonsten als „Kampf gegen ...das Virus ...die Pandemie …die Querdenker“ formuliert. Gerettet werden sollte „das Gesundheitssystem vor Überlastung“. In der Ukraine-Krise behauptet eine Seite, die „russischsprachigen Ukrainer retten zu wollen“ sowie „ukrainische Strukturen des Militärs und von Nazis zu bekämpfen“. Die andere Seite will „Ukrainer vor den Russen retten“ und „Putin bekämpfen“.
Retter und Gerettete gehören in der Spaltung immer eindeutig zu den Guten, der Feind ist unter Anwendung dieses Abwehrmechanismus „eindeutig böse“. Die Annahme ist jeweils, dass nur eine mögliche Handlungsoption im „Krieg gegen…“ bestehe, die möglichst schnell umgesetzt werden müsse „bevor der Feind zu stark wird“. Auch wenn dies in getriebenen Aktionismus mündet, der oft zu dem Gegenteil des bewusst angestrebten führt, vermittelt diese Wahrnehmung der Welt doch ein Gefühl von dem Halt, den eine übersichtlich-vereinfachend aufgeteilte Welt bieten kann.
Der Vorteil der Spaltung ist, dass sich bei einem Individuum ein Ich-Anteil und in einer Gesellschaft ein Milieu stabilisieren kann. Dies wird jedoch erkauft durch den Nachteil des fortschreitenden Zerfalls der Einheit des Organismus. Durch die wiederholte Aufteilung der äußeren Welt in „Retter/Gerettete“ und „Feinde“ durch diverse Narrative setzte sich die kollektive Spaltung fort und führte zu einer Atomisierung der Gesellschaft von „Filterblasen“.
Der Mechanismus der psychischen Spaltung wird sowohl von Anhängern wie auch von Kritikern der gesellschaftlichen Leitnarrative betrieben. Eine Spaltung findet beispielsweise auch statt, wenn in Kritik an polarisierenden Leitnarrativen einzelne Akteure der Medien, der Wirtschaft oder der Politik im Gegenzug als „das Böse“ dargestellt werden.
Der Weg aus der Spaltung ist schwer, da er ein frühkindlicher Abwehrmechanismus ist und dementsprechend der Mensch bei Aufgabe des Mechanismus wieder mit seinen archaischen Ängsten der Kindheit (wie der frei-flottierenden Angst), unbändiger Wut, tiefempfundenem Hass, Gefühlen der Halt- und Wertlosigkeit, Befürchtungen des Ich-Verlustes oder gar der Urangst des Verschlungenwerdens durch eine zerstörerische Macht konfrontiert werden kann. Um selber den eigenen Mechanismus der Spaltung reduzieren zu können, braucht es andere haltgebende Strukturen, die die inneren Zustände tragen und aushaltbar machen.
Verleugnung
Der Abwehrmechanismus der Verleugnung blendet einen ganzen Ausschnitt der Realität aus. Der Mechanismus ist verwandt zur Spaltung und er dient der Abwehr von Anteilen der Realität, die als zu bedrohlich erlebt werden oder das fragile Selbstbild gefährden. Wie alle Abwehrmechanismen ist die Verleugnung ein Schutzmechanismus der Psyche und ist deshalb wichtig nach traumatischen Erlebnissen, um den Schock zu überwinden. Er dient dazu, Zeit zu gewinnen, um erst zu einem späteren Zeitpunkt in wiedergewonnener äußerer Sicherheit mit der Verarbeitung der inneren Prozesse beginnen zu können. Problematisch wird Verleugnung dann, wenn diese als zentrale Bewältigungsstrategie Überhand in verschiedensten Lebensbereichen gewinnt, nicht mehr durch Reflexions- und Verarbeitungsprozesse aufgelöst wird und somit dem Ausdruck der Seele zu wenig Raum bleibt.
Der Vorwurf der Verleugnung an andere kann leider auch als Munition verwendet werden, etwa durch den Vorwurf, ein „Corona-Leugner“ oder ein „Verschwörungs-Leugner“ zu sein. Hier wird auch dieser Mechanismus quasi-religiös anmutend verwendet als Vorwurf an andere, eine objektive Wahrheit zu bestreiten. Deshalb ist es problematisch, das Wissen über den Mechanismus der Verleugnung zu verwenden, um anderen diesen vorzuwerfen. Neben der destruktiven Wirkung auf die Kommunikation kann ein solcher Vorwurf als Abwehr verstanden werden, sich mit eigenen Feldern der Verleugnung nicht beschäftigen zu müssen.
Sinnvoller ist es hier, in einen wertschätzenden Dialog unterschiedlicher Perspektiven einzutreten und ein besseres Bewusstsein darüber anzustreben, welche Anteile der Realität man selbst manchmal ausblendet. Aus den medialen Leitnarrativen könnten (subjektiv aus Sicht des Autors) folgende Formulierungen auf Verleugnungsprozesse hinweisen: „die Finanzkrise ist überwunden“, „der Euro ist sicher“, „die Staatsverschuldung wird zu gegebener Zeit zurückgezahlt“, „die Corona-Pandemie kann nur durch die Impfung beendet werden“ oder „die Gefahr eines Atomkrieges braucht uns nicht zu beunruhigen“.
Projektion und projektive Identifizierung
Beim Abwehrmechanismus der Projektion werden eigene Anteile, zum Beispiel unmoralisches Handeln, die man bei sich selbst nicht sehen möchte, in andere Menschen hinein projiziert. Wie bei den bereits geschilderten Mechanismen ist es bei der Projektion wichtig, einen bedrohlichen Anteil in der eigenen Psyche auszublenden. Bei der Projektion wird dieser ausgelagert nach außen. Beispiele medialer Leitnarrative für Projektionen könnten Formulierungen sein wie: „den Intoleranten darf man keine Bühne bieten“, „durch die Tyrannei der Ungeimpften müssen wir 2G-Beschränkungen aufrecht erhalten“ oder auch „da wir Frieden wollen, müssen wir Waffen liefern gegen die Kriegstreiber“.
Beim Mechanismus der projektiven Identifizierung hingegen werden abgespaltene Elemente der eigenen Psyche in andere Menschen nicht nur projiziert sondern auch tatsächlich in anderen Menschen als Emotion übertragen und dort bekämpft. Das Objekt der projektiven Identifizierung wird so behandelt, als wäre der andere Mensch die Verkörperung des ungeliebten eigenen Anteils. Wenn das Objekt sich mit dem präsentierten Beziehungsangebot identifiziert, verhält dieses sich tatsächlich unbewusst in der zugeschriebenen Rolle. Wenn jemand seine unbewussten wütend-aggressiven Anteilen durch projektive Identifizierung abwehrt, fühlt sich das menschliche Gegenüber oftmals im Verlauf der Interaktion immer wütender.
Beispiele für gesellschaftliche Phänomene der projektiven Identifizierung könnten sich aus den diversen „Kämpfen gegen…“ speisen. In diesem Fall übernehmen Mitglieder einer als „Feind“ definierten Gruppe unbewusst tatsächlich die zugeschriebenen Eigenschaften. Wenn friedliche Demonstranten beispielsweise von Verwaltung und Polizei behandelt werden, als seien sie gewaltbereite Demokratiefeinde, kann bei manchen Demonstranten eine Aggressivität auf Grund der Behandlung entstehen. Dies könnte bei wiederholt wahrgenommener ungerechter Behandlung und des Umdeutens eigener Motive bei einzelnen auch zu einer Radikalisierung führen, wenn diese Prozesse nicht bewusst reflektiert werden.
Autoaggression
Als letzter Abwehrmechanismus soll hier die Autoaggression behandelt werden, auch wenn eine Vielzahl weiterer Abwehrmechanismen in der psychoanalytischen Theorie benannt wurden. Bei der Autoaggression wird der nicht aushaltbare Anteil der eigenen Psyche nicht gegen andere Menschen gerichtet, sondern gegen sich selbst. Die ursprünglich entstandene, nach außen gerichtete Wut, ist in diesem Prozess von ihren Wurzeln getrennt. Gründe dafür könnten sein, dass der Ausdruck von Wut und Aggression durch Strafen, Beschämung oder Beschuldigung für eine lange Zeit unterbunden wurde.
Aggression (im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortstamms „aggredi“ als ein sich auf etwas zubewegens) und Wut sind als emotionale Impulse jedoch wichtig, um sich für den Schutz der eigenen Grenzen zu aktivieren. Wenn die ungelebte Aggression sich gegen sich selbst richtet, führt diese zur Selbstschädigung und Verletzung der eigenen Grenzen. Einige mediale Leitnarrative könnten als kollektiver Ausdruck von Autoaggression gewertet werden: In der Banken- und Eurorettung die durch Wahlen legitimierte Handlungsweise „Gewinne privatisieren, Verluste kommunalisieren“, die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung zu Grundrechtseinschränkungen während der Corona-Krise oder zu Importverboten im Zuge des Ukraine-Krieges. Eine mögliche Schädigung von sich selbst oder den eigenen Kindern wird dabei dem höheren Ziel eines Narrativs untergeordnet.
Von Kriegsnarrativen zu Friedensnarrativen
Auch wenn zur Veranschaulichung kollektiver Abwehrmechanismen hier Beispiele aus den Leitmedien verwendet wurden, heißt dies nicht, dass alternative Medien oder regierungskritische Gruppen diese Mechanismen nicht ebenfalls verwenden würden. Abwehrmechanismen werden von allen Menschen mehr oder weniger unbewusst verwendet: Jeder Mensch spaltet, verleugnet oder projiziert potenziell dann, wenn er psychisch in große Bedrängnis gerät und das Aushalten der Realität nicht möglich ist oder wenig attraktiv erscheint. Im richtigen Maß und mit ausreichender Selbstreflexion sind diese Mechanismen ein wirksamer Schutz der Psyche und somit auch zeitweilig hilfreich. Problematisch werden diese, wenn zu viele Menschen in einer Gesellschaft entfremdet von sich selbst sind und immer neue Wege suchen, wie sie ihre unangenehmen Gefühle von sich fernhalten können.
Deshalb sollten Vorwürfe zur Verwendung von Abwehrmechanismen nicht als „Waffen“ gegen andere verwendet werden. Debattenbeiträge wie „Hier verleugnen Sie die Realität!“ oder „Sie spalten mit ihren Äußerungen die Gesellschaft!“ führen meistens nur zu einer Vertiefung der Spaltung. Hilfreich hingegen wäre es, wenn mehr Menschen beginnen, sich selbst auch in ihren „bösen“ oder unangenehmen Anteile zu reflektieren und beobachten, welche Abwehrmechanismen sie selber einsetzen. Wer eine Ahnung davon bekommt, welche Anteile des eigenen Selbst er lieber nicht wahrhaben möchte, kann beginnen in „Friedensverhandlung“ mit sich selbst einzutreten.
Kriegsnarrative in der Gesellschaft haben ihre Wurzeln in einer ausreichenden Zahl von Individuen, die ihren inneren Krieg nur zu gerne nach außen verlagern und dadurch innerlich Entlastung finden. Aus psychotherapeutischer Sicht wäre es hilfreich, wenn mehr Menschen realisierten, dass sie mit ihren durch Materialismus, Technik und schnellen Konsum geprägten Abwehrimpulsen unangenehmer Gefühle nicht mehr weiterkommen und beginnen, sich selbst besser kennenzulernen, eigene Abgründe zu erkennen und sich mit sich selbst zu versöhnen. Es ist nicht einfach, sich mit eigenen Ängsten, eigenen Wut- und Hassgefühlen, Scham- und Schuldgefühlen oder Enttäuschung und Traurigkeit auseinanderzusetzen. In der psychotherapeutischen Arbeit ist dies jedoch regelmäßig ein gangbarer Weg aus individuellen Krisen und dieser Weg ist nicht auf formale Psychotherapien beschränkt.
Anstatt anderen Menschen ihre Abwehrprozesse oder Ängste vorzuwerfen, wäre es hilfreicher empathisch zu versuchen die Not des anderen zu verstehen, die bei diesem zu Spaltung, Verleugnung oder Projektion führt. Dann kann gegenseitig versucht werden, die Ängste ernstzunehmen und die innere Not zu lindern. Jeder Bürger kann für sich selbst entscheiden, eigene Zuschreibungen von „eindeutig gut“ und „eindeutig böse“ zu hinterfragen und in Formulierungen auf solche Zuschreibungen zu verzichten. Der Zweifel gegenüber den eigenen Einschätzungen kann als Tugend kultiviert werden, benötigt aber ein ausreichendes Maß an innerem Halt.
Psychotherapeuten und Ärzte sollten sich mit der Frage beschäftigen, wie sie ihre Erfahrung und Expertise bei der Begleitung individueller und familiärer Reintegration von gespaltenen Strukturen einbringen können in einen gesellschaftlichen Prozess der Reintegration der gespaltenen Milieus. Durch welche Initiativen könnte eine gespaltene Gesellschaft zu einer Art „kollektiver Reintegration“ finden? Welche Strukturen für aktiv gelebten Dialog unterschiedlicher Perspektiven können im eigenen Umfeld aufgebaut werden? Welche Rahmenbedingungen sind hilfreich für gegenseitiges Zuhören und Bemühung um Verständnis? Psychotherapeuten und Ärzte haben Kompetenzen in der Begleitung von Heilungsprozessen und sollten diese zunehmend auf gesellschaftlicher Ebene einbringen.
Über den Autor: Andreas Heyer, Jahrgang 1973, studierte Psychologie und arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut mit tiefenpsychologisch-fundierter Fachrichtung in eigener Praxis. Er möchte den Austausch zwischen Kolleginnen und Kollegen der Heilberufe anregen, wie diese sich aus ihrem beruflichen Selbstverständnis heraus für eine gesellschaftliche Reintegration durch Dialoginitiativen einbringen könnten. Der Autor erklärt sich bereit, die Koordination für den Austausch von approbierten Ärzten und Psychotherapeuten zu übernehmen. Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Sinne aktiv werden möchten oder bereits selber Dialogformate erproben, können den Autor per Mail kontaktieren.
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