Kapitalismus nach Corona: Moral statt Demokratie
MONA PAULY, 9. Dezember 2020, 4 KommentareNatürlich respektiere sie das Demonstrationsrecht, sagte Merkel vor wenigen Tagen. Und sie wolle kein Kontrollsystem wie in China. Aber man müsse schon schauen, wie die wirtschaftliche Lage nach der Krise sei:
„Wo kommen wir da raus, wo kommt China raus, wo kommt Südkorea raus, wenn die alle immer viel besser die Masken tragen und nicht so viele Querdenker-Demos haben, sondern derweil schon wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung?”
Mit dieser Aussage suggerierte die Kanzlerin: Die Proteste verursachen wirtschaftliche Nachteile. Für „die Wirtschaft“ sei es besser, wenn sich alle an die neuen Regeln hielten. Meinungsfreiheit ist eine Bürde für die ökonomische Entwicklung. Deutschland wäre stärker und durchsetzungsfähiger auf den internationalen Märkten, wenn alle im Land an einem Strang ziehen würden. Gemeinsam, wie es die Kanzlerin seit Monaten predigt. Alle zusammen für ein großes Ziel.
In der zitierten Aussage bekennt sich die Bundeskanzlerin zwar zu demokratischen Grundprinzipien wie der Meinungsfreiheit, eröffnet jedoch mit dem „Aber“ zugleich eine Debatte über staatliche Strukturen. Dass sie hier Handlungsbedarf sieht, sprach sie deutlich vor ein paar Monaten in Davos aus. Im Januar hielt sie im Rahmen des World Economic Forum eine Rede vor den dort versammelten Regierungschefs und Konzernlenkern, in der sie große Visionen skizzierte. „Transformationen von gigantischem, historischen Ausmaß“ stünden bevor:
„Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen.“
Wie genau diese neuen Wertschöpfungsformen ihrer Meinung nach aussehen sollen, verriet sie in Davos nicht, aber zumindest, dass „dafür die staatlichen Rahmenvoraussetzungen geschaffen werden“ müssen. Der Gründer des World Economic Forum Klaus Schwab hat in dieser Hinsicht konkretere Pläne, die er in seinem „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World“ Konzept dargestellt hat. Dieser „Riesentransformation“ steht die Bundeskanzlerin sehr offen gegenüber. Das sei „sicherlich ein Motto, über das es sich zu diskutieren lohnt.“
Das große Schweigen
Mit wem auch immer die Bundeskanzlerin darüber diskutiert – die von ihr Regierten sind es offenbar nicht. Die Pläne des Weltwirtschaftsforums werden von der deutschen Bundesregierung nicht thematisiert. Es gibt keine Veranstaltung dazu, keine Regierungserklärung, keine Charta und keinen Podcast. Die Bundeskanzlerin vermeidet jede Verbindung ihrer aktuellen Politik mit den globalen Plänen.
Ihre jetzige Regierungspolitik begründet sie ausschließlich mit Zahlen zu den positiv ausgefallenen Tests. Die Kanzlerin bestreitet lange Pressekonferenzen mit Ausführungen über konstruierte Inzidenzwerte, aber wer sich fragt, wohin diese radikale und selbstzerstörerische Politik denn führen solle, wird auf den Pressekonferenzen nicht schlau. Der weiteste Horizont ist der Moment, in dem alle Bundesbürger geimpft sind. Darüber hinausgehende Perspektiven über eine „Welt nach Corona“ werden nicht in die Debatte gebracht.
Staatliche Transformationen laufen längst
Das steht in großem Kontrast zu der Tragweite der Maßnahmenpolitik dieses Jahres. Denn mit den vielen Grundrechtseinschränkungen, der verengten Debatte und der bislang unbekannten Wirtschaftspolitik des Lockdown hat die Regierung bereits große staatliche Transformationen eingeleitet. Diese betreffen nicht weniger als zwei grundlegende Pfeiler der bundesrepublikanischen Verfasstheit: Das Demokratieverständnis und das Wirtschaftsmodell. In diesem Zusammenhang sind zwei Dokumente aus dem Innenministerium besonders aussagekräftig, die beide schon früh (Ende April bzw. Anfang Mai) vorlagen und die neue politische Linie umrissen.
Unverhältnismäßig
Das eine wichtige Papier entstand im Innenministerium, allerdings distanzierte sich Minister Seehofer davon und feuerte den Oberregierungsrat Stephan K., der es verfasst hatte. Dieser hatte in einer umfassenden Analyse und unter Beratung von externen Wissenschaftlern festgestellt: Die verfügbaren Daten aus dem Robert Koch-Institut waren völlig unzureichend. Dennoch verweigerte die Regierung eine zielgerichtete Erhebung, um das Ausmaß der Gefahr realistisch einschätzen zu können. Stattdessen traf sie in großer Unkenntnis weitreichende Beschlüsse wie den Lockdown. Dabei unternahm sie noch nicht einmal den Versuch, die gesundheitlichen Gefahren durch das Virus abzuwägen gegenüber den erwartbaren Kollateralschäden durch die Maßnahmen. Eine Gefahrenanalyse fand nicht statt. Die Dynamik, die eine Wirtschafts- und Gesellschaftskrise entfalten könnte, wurde nicht ermittelt. In den ersten 17 Sitzungen des Krisenrates (Stand 7. Mai 2020) wurden die Gesamtkosten, die Neuverschuldung, die Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt und die gesundheitlichen Kollateralschäden nicht einmal thematisiert.
Mit ihrem Vorgehen drückte die Regierung deutlich aus: Wir definieren ein Ziel, dem alle politischen Bereiche untergeordnet werden. Um dieses Ziel durchzusetzen, sind uns alle Mittel recht. Verhältnismäßigkeit interessiert uns nicht mehr. Damit kippte sie den zentralen Grundsatz, dem jeder Eingriff der Regierung in die Grundrechte des Einzelnen genügen muss. Ist er überhaupt geeignet? Ist er erforderlich oder gibt es ein milderes Mittel? Und ist der Eingriff in Abwägung der betroffenen Rechtsgüter angemessen? All diese Erwägungen als Bollwerke gegen staatlichen Machtmissbrauch spielten keine Rolle mehr. Eine Politik im Blindflug und mit der Brechstange, die Zweifel aufkommen ließ, ob hier wirklich wirksamer Infektionsschutz im Zentrum stand.
Kommunikation der Angst
Diese beispiellose Politik wurde mit einer beispiellosen Kommunikationsstrategie vermittelt, die in dem zweiten wichtigen Dokument beschrieben wurde. „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“, hieß das als „Panikpapier“ bekannt gewordene Schriftstück, das im Innenministerium verfasst und später an andere Ministerien und das Kanzleramt weitergeleitet wurde. Die Verfasser arbeiteten eine Kommunikationsstrategie aus, wie die Bevölkerung gezielt in Angst versetzt werden könnte. Dazu sollten Politiker an „Urängste“ appellieren und ausdrücklich Kindern die vermeintliche Verantwortung für das Überleben ihrer Großeltern aufhalsen.
„Es ist ernst. Nehmen Sie es ernst“, äußerte die Kanzlerin und gab damit die Richtung vor. Andere Quellen als die Regierungsverlautbarungen wurden als unglaubwürdig diskreditiert, Wissenschaftler mit abweichender Meinung diffamiert und verleumdet. Damit widersprach die Regierung, unterstützt von den meisten Medien, auch noch dem ideellen Leitbild einer pluralistischen Gesellschaft.
In dieser gilt die Vielfalt einer Gesellschaft als wünschenswert. Der Wettbewerb divergierender Interessen um politischen Einfluss und Deutungshoheit wird als bereichernd eingeschätzt, weshalb abweichende Meinungen einen legitimen Platz haben. Von einer solchen Einstellung war im Verlauf der gesamten Krise nichts zu erkennen.
Zu einem sehr frühen Zeitpunkt war damit erkennbar, dass die Bundesregierung wichtige Grundprinzipien der bundesrepublikanischen Verfasstheit abräumte. Die neue politische Herangehensweise in der Infektionsschutzpolitik markierte tiefgreifende Einschnitte: Das Ende der Verhältnismäßigkeit und das Ende eines pluralistischen Selbstverständnisses.
Verschobene Maßstäbe
Die neue Linie zeigte Wirkung. Sie drang in jede Pore des gesellschaftlichen Alltags. Überall neue Regeln, Plastikscheiben und Polizeikontrollen. Selbst die Bereiche des öffentlichen Lebens, die stattfinden durften, wurden von vermeintlichem Infektionsschutz geprägt. Die Schulöffnungen bedeuteten gerade nicht, dass Kindern der angstfreie Raum zugestanden wird, den sie dringend bräuchten, sondern die Schultage werden dominiert von Desinfektionen, Masken und Lüften. Es gab und gibt keine „covid-freien“ Bereiche mehr, noch nicht einmal im sozialen Umgang miteinander oder in den privaten Räumen.
Das neue Rechtsverständnis, nach dem im Zeichen von Covid 19 alles erlaubt sei, sickerte durch die behördlichen Hierarchien und verschob die Maßstäbe. Schulleiter schufen über die Vorgaben hinausgehende Regelungen und fingerten damit massiv in den Persönlichkeitsrechten von Kindern herum. Extra-Maskenpflicht hier, abgelehnte Atteste da, Aufrufe zur Denunziation der Mitschüler und isolierte Kinder, die nicht mehr mit ihren Freunden spielen durften. Wenn Schüler in den vergangenen Monaten etwas in der Schule lernten, dann das: Wer Macht hat, kann diese beliebig einsetzen. Und die juristische Abwehr ist nur eingeschränkt möglich, da sich die Regeln ständig ändern und auch an vielen Gerichten die verschobenen Maßstäbe zur Verhältnismäßigkeit nicht spurlos vorbeigingen.
Das bedeutet nicht, dass der juristische Weg nicht notwendig ist und in vielen Fällen erfolgreich war. Nichtsdestotrotz war die Konsequenz, mit der selbst evidenzbasierte wissenschaftliche Argumente weggewischt wurden, ebenso ein Novum wie die Akzeptanz gegenüber solchen Verhaltensweisen. Ist ja grad Corona.
Totalitaristische Argumentation
Im November erklärte die Kanzlerin vor dem Parlament:
„Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: In der Pandemiebekämpfung geht es nicht um Gesundheit oder Wirtschaft, Gesundheit oder Bildung, Gesundheit oder Kultur, Gesundheit oder Soziales. In solchen Gegensätzen zu denken, ist ein häufiges Missverständnis.“
Solche Gegensätze galten bislang als Wesensmerkmal einer pluralistischen Demokratie. Doch genau diese Konkurrenz, dieser Widerstreit der Interessen und die wichtige Güterabwägung wurden aufgehoben. Daraus lassen sich neue wirtschaftspolitische Grundlinien ableiten, wie die Kanzlerin im weiteren Verlauf ihrer Rede andeutete. So geht das Zitat weiter:
„Immer geht es um beides: um Gesundheit und Wirtschaft, Gesundheit und Bildung, Gesundheit und Kultur, Gesundheit und Soziales. Denn was in der Pandemiebekämpfung dem Ziel dient, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, das dient auch allem anderen und damit ganz besonders dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Das dient auch allem anderen. Aus dem Euphemismus der Bundeskanzlerin lässt sich hier ein wirtschaftspolitischer Bezug herauslesen, der auch zu dem eingangs zitierten China-Vergleich passt. Alle zusammen für das Wirtschaftswachstum. Weniger Protest, weniger Diskussion sei ökonomisch profitabel.
Ökonomische Entwicklung und gesellschaftlicher Zusammenhalt entstehen demnach nicht aus der Vielfalt, sondern dann, wenn sich alle einem durch die Regierenden definierten Ziel unterordnen. Das kann man nicht anders bezeichnen als eine totalitaristische Argumentation. Das bedeutet nicht, dass sich Totalitarismus durchgesetzt hätte, aber die Art und Weise der Argumentation widerspricht deutlich einem demokratischen und pluralistischen Selbstverständnis.
Der „verantwortungsvolle Kapitalismus“
An dieser Stelle kommt man dann doch schlecht an Klaus Schwab vorbei, einfach, weil er die Dinge beim Namen nennt. Sein „verantwortungsvoller Kapitalismus“ beinhaltet genau eine solche Interessenverschmelzung.
Der Neoliberalismus habe ausgedient, nun müsse „der Kapitalismus neu definiert“ werden. Denn „Unternehmen, die heute erfolgreich sein wollen, müssen alle diese Komponenten („das Sozialkapital, das Naturkapital und das menschliche Kapital“) in ihre Strategie einbeziehen.“ Profitmaximierung mit einem moralischen Überbau. Gewinne werden nicht wegen der Gewinne gemacht, sondern um die Gesellschaft vor schlimmen Krankheiten oder ökologischen Katastrophen zu schützen. Das ist der Weg, wie heute Profite realisiert werden.
Dieses Modell funktioniert nicht für alle Unternehmer. Der mittelständische Fabrikant oder der Gastronom an der Ecke wird mehr Probleme mit solchen Geschäften zur Weltrettung haben als ein international agierender Konzern. Doch das sind die falschen Fragen. Mittelstand oder Konzern. Arbeiter oder Investor. In solchen Kategorien soll ja nicht mehr gedacht werden. Lieber richten Vordenker wie Klaus Schwab ihren Blick auf das große Ganze und entwickeln einen „verantwortungsvollen Kapitalismus“, der moralisch so überlegen ist, dass er sich über seine hehren Ziele legitimiert.
Die Übermutter
Die Bundeskanzlerin würde das K-Wort nie in den Mund nehmen. Ihre Kommunikationsstrategie ist eine andere. Sie triggert immer wieder den vermeintlichen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Miteinander. Füreinander. Solidarisch.
In vielen Medien wird sie daher als fürsorglich und besonnen dargestellt und von weiten Teilen der Bevölkerung auch so wahrgenommen. Der Begriff von „Mutti Merkel“ ist kein Zufall und die positive Konnotation im Sinne einer Fürsorge scheint zu funktionieren.
Gleichzeitig reagiert sie autoritär und übergriffig, wenn jemand aus der Reihe springt. Demonstranten und Maskenverweigerer müssen sich anhören, sie würden der Gemeinschaft schaden. Das passt zum Bild der strengen Mutter.
Diese Art der Ansprache ist nicht demokratisch, aber offensichtlich beabsichtigt. Schon im sogenannten Panikpapier aus dem April enden die Vorschläge mit der visionären Hoffnung:
„Nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsam distanziert voneinander kann diese Krise (...) zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat.“
Wie diese neue Beziehung nach dem Wunsch der Kanzlerin aussehen soll, kann man sich denken: Nicht mehr so viel Proteste und Rechtsstreitereien, dafür „eine große Zahl der Menschen (die) einfach vernünftig ist, mitmacht und damit auch andere Menschenleben rettet und hilft.“
Zur Belohnung gibt es von der Bundeskanzlerin dann bestimmt ein dickes Lob.
Über die Autorin: Mona Pauly ist ein Pseudonym. Die Autorin studierte Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften. Sie arbeitete wissenschaftlich zu europäischen Wirtschaftsstrukturen. Derzeit befasst sie sich mit globaler Energiepolitik. Zur Corona-Krise hat sie sich mehrfach im Freitag geäußert.
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