Katastrophengesellschaft in Bestform – vorläufige Überlegungen
ULRICH TEUSCH, 7. April 2020, 6 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
I.
Beginnen wir mit dem Privaten! Die von den Regierungen im Rahmen der Corona-Krise verhängten Maßnahmen führten „Millionen Familien an den Rand des Nervenzusammenbruchs“, schrieb Paul Schreyer in seinem letzten Multipolar-Beitrag. Ich kann diese Aussage nur bestätigen und unterstreichen. Meine Familie und ich – wir sind in der Tat am Rand des Nervenzusammenbruchs, vielleicht sogar schon einen Schritt weiter.
Es ging mir in meinem Leben selten so schlecht wie gegenwärtig. Ich fühle mich komplett überfordert. Ich finde keinen ruhigen Schlaf, habe Angst- und Albträume. Ich wache nachts immer wieder mit Herzrasen auf, fürchte mich vor dem kommenden Tag.
Dabei gelten meine Sorgen und Ängste keineswegs in erster Linie dem Virus. Sie gelten auch nicht mir selbst, sondern vielmehr „den Meinen“, für die ich Verantwortung trage.
Meine Kinder (8 und 12) tun mir leid. Sie „drehen am Rad“. Das jüngere Kind ist ein soziales Wesen par excellence. Es fällt gerade in eine immer schwerere Depression, ist todunglücklich und versteht die Welt nicht mehr.
Das andere Kind benötigt dringend eine ärztliche beziehungsweise therapeutische Behandlung, die einen längeren Klinikaufenthalt erfordert. Diese Behandlung hatte vor einem Monat auch begonnen, und sie zeigte schon nach drei, vier Tagen zu unserer Überraschung und Freude erste positive Ergebnisse. Doch dann wurde sie unvermittelt abgebrochen, von einem Tag auf den anderen: „wegen Corona“.
Man müsse Betten für potentielle Pandemieopfer freihalten, hieß es. Diese Betten sind jetzt, fast drei Wochen später, immer noch nicht belegt. Unser Kind wurde – wie auch viele andere kleine Patienten der Klinik – einfach nach Hause geschickt. Sollen doch die Eltern sehen, was sie mit ihm anfangen! Wir, die Eltern, sind am Ende unseres Lateins. Wir fühlen uns im Stich gelassen und befinden uns in einer verzweifelten Situation.
II.
Mit Multipolar haben wir versucht, die Corona-Gefahr nüchtern zu analysieren, die begleitende Debatte zu versachlichen und – vor allem – offenzuhalten (oder überhaupt erst zu öffnen). Dem Zweck der Öffnung oder des Offenhaltens diente die frühe Publikation von Wolfgang Wodargs dissidenter Einschätzung der Gefahrenlage. Ihr folgten mehrere analytische Beiträge Paul Schreyers. Deren Kernaussage lautet:
„Die Coronakrise legt das öffentliche Leben lahm. Dabei ist die außerordentliche Gefährlichkeit des Virus weiterhin nicht belegt. Wichtige Daten fehlen, werden nicht erhoben oder nicht veröffentlicht. Die Medien agieren als Panikbeschleuniger und unkritische Sprecher der Behörden, während Freiheitsrechte drastisch beschränkt werden.“
Anders formuliert: Wir (von Multipolar) haben bezüglich Corona einfach noch ein paar Fragen. Und bevor hier und anderswo die Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, möchten wir diese Fragen bitte klar und überzeugend beantwortet haben. Wenn die Lage tatsächlich so ernst ist wie behauptet, warum werden wir dann tagtäglich mit zweifelhaftem, unvollständigem, häufig kontext- und sinnfreiem Datenmaterial konfrontiert? Warum tischt man uns Zahlen auf, die uns in Angst und Schrecken versetzen (möglicherweise auch versetzen sollen)? Und warum verschweigt man uns andere Zahlen, die für eine realistische Einschätzung essentiell sind? Wir blicken nicht auf ein schlüssiges Gesamtbild, sondern starren wie hypnotisiert auf Trug- und Zerrbilder.
Zudem fragen wir uns, warum derzeit Dinge, die ursächlich nichts mit Corona zu tun haben, immer wieder mit Corona in Verbindung gebracht werden, etwa der Bailout in den USA oder die sinkenden Ölpreise. Es sieht aus, als träfen zurzeit mehrere große Krisen zusammen und würden sich wechselseitig verstärken. Daher spricht einiges dafür, dass die von den Obrigkeiten verfügten massiven Einschränkungen unseres privaten und öffentlichen Lebens nicht allein mit "Corona“ zu erklären sind. (Mit diesem Problem werden wir uns in den kommenden Wochen sicher noch eingehend zu beschäftigen haben.)
Unser Ansatz – rein journalistisch, frei von missionarischem Eifer – brachte uns viel Resonanz und Zustimmung. Er rief aber auch Kritiker auf den Plan, die uns vorwarfen, wir wiegelten ab, beschwichtigten, verharmlosten. Doch das ist nicht wahr. Wir haben nichts verharmlost und werden nichts verharmlosen, sondern weiterhin faktenbasiert argumentieren. Es geht uns um eine nüchterne, realistische Lageeinschätzung – jenseits der Extreme, jenseits von Hysterie und Beschwichtigung.
III.
Vor genau einem Dutzend Jahren (2008) veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel „Die Katastrophengesellschaft – Warum wir aus Schaden nicht klug werden“. Das Buch gefiel zwar einigen Kritikern, aber nicht dem Publikum. Kaum einer wollte es kaufen oder lesen, und inzwischen wurde der größte Teil der Auflage makuliert (also geschreddert).
Meine These lautete: Unsere Gesellschaft ist strukturell unfähig, Katastrophen oder katastrophale Prozesse mit nüchternen Augen zu betrachten. Sie neigt zu extremen Ausschlägen, entweder zur Verdrängung und Beschwichtigung oder zur Dramatisierung und Hysterie. Die Kontrahenten werfen sich wechselseitig Panikmache oder Verharmlosung vor. Die eine Seite beschuldigt die jeweils andere, sie verhalte sich „unverantwortlich“ und betreibe „Realitätsverweigerung“. Genau dies geschieht auch jetzt, in der Corona-Krise. Beide Extremhaltungen können fatale Folgen zeitigen, wie die Katastrophengeschichte lehrt.
Einen der eindrücklichsten Belege findet man in Alessandro Manzonis berühmtem, erstmals 1827 erschienenen Roman I Promessi Sposi, zu deutsch Die Brautleute. In dieses Werk hat Manzoni eine umfangreiche Schilderung der Mailänder Pestkatastrophe des Jahres 1630 eingefügt. Die Kapitel fallen insofern aus dem Rahmen, als der Autor hier in die Rolle des akribischen Historikers, besser vielleicht: in die Rolle des historischen Soziologen schlüpft.
Manzoni schildert – anders als im übrigen Roman – kein fiktives Geschehen. Vielmehr hat er alle gedruckten historischen Quellen zu der Epidemie, deren er habhaft werden konnte, konsultiert und ausgewertet. Nach dem Vorbild des professionellen Wissenschaftlers gibt er seinen Aussagen zum Beleg sogar etliche Fußnoten bei.
Manzonis Thema sind nicht so sehr die Schrecken der Epidemie, die von ihr angerichteten Verheerungen, sondern ihre gesellschaftliche Wahrnehmung, die langwierigen Erkenntnisprozesse, die durchzustehen waren, bis man sich am Ende eingestand: Ja, tatsächlich, bei dem, was wir vor uns sehen, handelt es sich unbezweifelbar um die Pest.
Zunächst wurde nach Kräften verdrängt, geleugnet und schöngeredet, man leistete sich einen sinnlosen Streit um Begriffe, verlor kostbare Zeit. Und schließlich, kaum dass man das entsetzliche Faktum endlich zur Kenntnis genommen hatte, betrieb man schon eine verquere Sinngebung des Ereignisses oder machte Jagd auf Sündenböcke. So schlug die anfängliche Beschwichtigung unversehens in Hysterie um.
Manzonis großartige Darstellung ist ebenso erschütternd wie lehrreich, zumal sie Mechanismen und Muster des „Katastrophen-Managements“ freilegt, die bis heute ihre Wirkung tun. Am Ende des Pestkapitels steht, wie in jeder guten wissenschaftlichen Abhandlung, ein Summary der Befunde:
„Am Anfang also keine Pest, auf keinen Fall und in keiner Weise; sogar das Wort ist verboten. Dann pestartige Fieber: die Vorstellung schleicht sich durch ein Adjektiv ein. Dann keine richtige Pest; soll heißen: Pest schon, aber nur gewissermaßen; nicht eigentlich Pest, sondern etwas, für das man keinen anderen Namen finden kann. Schließlich ganz zweifellos und unbestreitbar Pest, aber schon hat sich eine andere Vorstellung damit verbunden, nämlich die der Hexerei und Giftmischerei, die den Sinn des nicht mehr abweisbaren Wortes verwirrt und verfälscht.“
Auch viele andere Vorstellungen und Wörter, so Manzoni, hätten einen ähnlich dornenreichen Weg zurückgelegt – was ihn zu einer unvermindert aktuellen Nutzanwendung seiner Betrachtungen inspiriert. Man könnte, stellt er fest, den langen und gewundenen Weg zur adäquaten Wahrnehmung und Anerkennung der Realität erheblich abkürzen, würde man eine „seit langem schon vorgeschlagene Methode“ befolgen: „zu beobachten, hinzuhören, zu vergleichen und nachzudenken, bevor man redet.“
IV.
Noch vor wenigen Wochen stand der bedrohliche Klimawandel im Zentrum der Aufmerksamkeit. Jetzt ist es eine Seuche, die uns überall bedroht. Und was kommt morgen? Die Auswahl ist groß: Finanzkrise-II, Weltbevölkerungswachstum, Flucht und Migration, Megacities, Hunger und Verelendung, Artensterben, Vernichtung der Regenwälder, Ausbreitung der Wüsten, Terror, Krieg, Atomkrieg...
Warum fällt es so schwer, reale Bedrohungen nüchtern in ihrer tatsächlichen Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung zu stellen? Vielleicht sogar Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen zu erkennen? Warum muss man die einen herunterspielen und die anderen hochspielen? Und warum muss man sie gegeneinander ausspielen?
Warum muss man – zum Beispiel – so argumentieren wie der Soziologe und Publizist Wolfgang Sofsky? In seinem 2005 erschienenen Buch „Das Prinzip Sicherheit“ schrieb er zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986):
„Die Auswirkung der radioaktiven Wolke auf Westeuropa wurde (...) heillos übertrieben. (...) In manchen Milieus grassierten apokalyptische Ängste, obgleich die Wahrscheinlichkeit, bei einem Reaktorunfall verletzt zu werden, um viele Größenordnungen geringer ist als der Tod im täglichen Straßenverkehr.“
Über die Anschläge des 11. September 2001 heißt es dagegen wenige Seiten später:
„Der Angriff auf New York und Washington markiert (...) den Übergang vom Terrorismus zu einer neuen Form des Krieges. (...) Bis Ende 2004 wurden über 400 Anschläge in Regionen registriert, die sich offiziell nicht im Kriegszustand befanden. Dabei starben Tausende. Trotz aller Kontrollen ist kein Flugzeug und keine Bahnlinie, keine Gesandtschaft, keine Bankfiliale, keine Straßenkreuzung, kein Ferienort vor dem Terror sicher.“
Sofsky argumentiert nicht, er suggeriert. Seine Schlussfolgerungen sind vollkommen willkürlich. Man könnte sie problemlos umkehren. Etwa so: In manchen Milieus grassieren apokalyptische Ängste vor dem Terror, obgleich die Wahrscheinlichkeit, bei einem Anschlag verletzt zu werden, um viele Größenordnungen geringer ist als der Tod im täglichen Straßenverkehr. Oder so: Trotz aller Vorkehrungen ist man nirgendwo auf der Welt vor radioaktiver Verstrahlung sicher. Diese beiden Aussagen sind ebenso unbestreitbar richtig wie die gegenteiligen Behauptungen Sofskys. So kann man nach Gutdünken dramatisieren oder verharmlosen, Hysterie erzeugen oder beschwichtigen.
Die Katastrophengesellschaft ist ein guter Nährboden für Schwarzmaler und Schönredner. Oft geht der Riss durch ein und dieselbe Person – eine ideologisch bedingte Schizophrenie, wenn man so will. Ein fest gefügtes Weltbild bestimmt, worüber man sich aufregt und worüber nicht, wovor man Angst hat und wovor nicht. Besonders ernst nehmen muss man weder die Schwarzmaler noch die Schönredner, auch nicht, wenn sie in einer Person daherkommen.
V.
Das Beispiel Sofsky zeigt: Es ist nicht nur das „einfache Volk“, das allzu Unangenehmes zuweilen verdrängt. Nein, auch die gebildeten Leute tun es. Freilich tun sie es auf gebildetere Weise. Nachdem der Philosoph Hans Jonas in seinem 1979 erschienenen hellsichtigen Werk „Das Prinzip Verantwortung“ neben vielem anderen auch vor einer bedrohlichen Klimaerwärmung gewarnt hatte, reagierte sein Fachkollege Hans Lenk beschwichtigend („Mir scheint diese Gefahr vorerst noch erheblich überdramatisiert zu werden“) und verwies zur Begründung auf Erkenntnisse, die ihm beim Blick aus dem Flugzeug gekommen waren.
„Wer die unermeßlichen Eisweiten der Arktis überflogen und einige Zeit die ebenso scheinbar unermeßlichen Grünzonen des Amazonasgebiets besucht hat, kann die Behauptung, die Wärmeproduktion (...) (stelle) in absehbarer Zeit einen nennenswerten Gefahrenfaktor für den Wärmehaushalt der Erde dar, nur als eurozentrische Übertreibung ansehen (...).“
Man sieht: Es ist nicht ganz ungefährlich, sich auf den bloßen Augenschein zu verlassen. Und selbst beim Blick aus großer Höhe hat manch einer schon die Übersicht verloren. Gerade philosophisch gebildete Menschen sollten das eigentlich wissen. Aber nein, wenn sie einen Fensterplatz ergattern, sind sie nicht mehr zu halten – auch der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme nicht.
„Wenn man auf der Strecke von Tokyo nach London in 11 km Höhe über die Weiten Sibiriens fliegt, nur dann und wann die unverkennbar geometrischen Zeichen der Zivilisation entdeckt, die gewaltigen Flusstäler überblickt, die unter den endlosen Eisflächen eingefroren sind, dann begreift man zweierlei: auch sechs Milliarden zählend ist der Mensch im Reich der Natur nur eine Minderheit, so triumphal er sich als ‚Herr und Besitzer der Erde‘ (René Descartes) aufspielen mag. Und: die Flüsse, von hier oben betrachtet, sind sie nicht mehr als Einkerbungen in die Landmassen. Und diese wiederum sind nicht mehr als Erdschollen im Rund der Ozeane.“
Heureka! Zu welch bahnbrechenden Erkenntnissen doch die Vogelperspektive manchmal verhilft. Bleibt zu hoffen, dass unsere beiden philosophierenden Überflieger ihre Erkenntnisse auf Dienstreisen gewonnen haben – und nicht etwa auf klimaschädigenden privaten Urlaubsflügen.
VI.
„In der Katastrophe schlägt die Stunde des Staates“, hört und liest man immer wieder. So ganz stimmt das nicht. Zunächst einmal, ganz am Anfang, ist die Katastrophe in aller Regel nicht die Stunde des Staates, sondern des Staatsversagens. Denn bis sich der Staatsapparat auf die neue Lage eingestellt hat, dauert es meist eine Weile.
Die Katastrophe ist für den Staat nicht ungefährlich. Sie kann ihn in Turbulenzen stürzen, seine Schwächen bloßlegen, seine Repräsentanten fahrlässig oder unfähig erscheinen lassen. Andererseits kann eine Regierung, wenn sie es geschickt anstellt, aus der Katastrophe auch politisches Kapital schlagen. So zum Beispiel:
Einerseits muss sie hoffen und auch einiges dafür tun, dass eine echte Katastrophe nicht stattfindet. Andererseits kann sie aber auch mit der möglichen Katastrophe Politik machen, also die Angst vor der Katastrophe schüren, so tun, als stehe sie unmittelbar bevor, als sei sie bereits eingetreten oder finde permanent statt. Genau dies geschieht seit einiger Zeit (und nach wie vor) im Angesicht der terroristischen Bedrohung und ihres katastrophischen Potenzials. Die dort erkennbaren Muster lassen sich ohne weiteres auf andere Felder, aktuell etwa das der Seuchenbekämpfung oder Volksgesundheit, übertragen.
Es gilt (und wird „nach Corona“ gelten): Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe. Nach dem Virus ist vor dem Virus. Nach dem Anschlag ist vor dem Anschlag. Nur noch eine Frage der Zeit, bis dem konventionellen der nukleare Terror folgt. Die terroristisch induzierte Apokalypse ist jederzeit möglich. Inzwischen ist so oft vor ihr gewarnt worden, dass niemand mehr überrascht sein dürfte, wenn sie tatsächlich einträte. Doch fürs erste bleibt es bei der bloßen Möglichkeit.
Es bleibt, anders gesagt, bei einer Art Schwebezustand, und der ist für die Politik ein Idealzustand. Sie deklariert es zu ihrer Pflicht und Verantwortung, ein ganzes Volk fürsorglich zu belagern. Die Gesellschaft wird in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt, in ein kollektives Frühwarnsystem umfunktioniert. Die Sicherheitsexperten entdecken ständig neue Fenster der Verwundbarkeit und machen sich daran, sie zu schließen. Alle paar Tage fällt ihnen ein neuer Grund ein, warum sie die Schraube noch fester anziehen müssen. Alles selbstverständlich zum Wohle der Bürger. Und da von Washington bis Moskau lauter lupenreine Demokraten regieren, braucht niemand zu befürchten, hier gehe es womöglich nicht mit rechtsstaatlichen Dingen zu.
Im Schwebezustand zwischen zwei Krisen, zwischen zwei Katastrophen kommt der Staat zu sich selbst, hier schlägt seine eigentliche Stunde. Er wird zum Präventionsstaat. Der politische Ausnahmezustand – antizipiert, provoziert, jedenfalls konstruiert – wird zu seiner Legitimationsbasis. Er begründet die reale Steigerung staatlicher Macht. Auch wenn die Entwicklung in dieser Form neu sein mag, greift sie doch auf ein historisch bewährtes Muster zurück.
VII.
Der Staat hat insbesondere im Lauf des 20. Jahrhunderts seine Macht immer mehr ausgeweitet und intensiviert. Man spricht von Staatswachstum, Big Government, Etatismus. Ihren Höhepunkt erreichte die Machtsteigerung in den totalitären Systemen. Aber sie hat auch in den selbst ernannten Demokratien stattgefunden, und das nicht zu knapp. Dort nahm sie allerdings keine despotischen, also willkürlichen und terroristischen Züge an. Vielmehr steigerte der Staat seine infrastrukturelle Macht, griff also regelnd, steuernd, gestaltend, kontrollierend, ordnend, verwaltend in gesellschaftliche Prozesse ein.
Das Staatswachstum ist teils das Ergebnis einer bürokratischen Eigendynamik, teils strukturell bedingt, also Folge der Krisenanfälligkeit kapitalistischer Wirtschaftssysteme. Eine wesentliche Frage ist damit aber noch nicht beantwortet. Denn schaut man genauer hin, fällt auf, dass die Machtsteigerung nicht kontinuierlich verlief, sondern diskontinuierlich. Dass also das Staatswachstum zeitweise stark, dann wieder nur gering ausfiel, manchmal auch stagnierte oder sogar zurückging. Wie ist das zu erklären?
Hier wird es interessant. Um solche Vorgänge zu verstehen, muss man die Faktoren Krise und Katastrophe in die Betrachtung einbeziehen. In Krisenzeiten nämlich gewinnt die Machtsteigerung des Staates eine außergewöhnliche Dynamik. In Europa profitierte die Staatsmacht vor allem von der Überdrucklage der Weltkriegsepoche. In den USA entfaltete der Sezessionskrieg eine entsprechende Wirkung, dann die beiden Weltkriege, die Interventionen in Korea und Vietnam, der Kalte Krieg, die diversen Wirtschaftskrisen, allen voran die Weltwirtschaftskrise und die sich anschließende Ära des New Deal. Betrachtet man den Zusammenhang von Krise und Staatswachstum genauer, kann man Mechanismen und Muster erkennen:
Erstens: Im Verlauf der Krise weitet sich der Aktionsradius des Staates erheblich aus. Ist die Krise überwunden, wird er jedoch nur teilweise wieder reduziert. Auch wenn sich die Verhältnisse wieder stabilisiert haben, bewegt sich die staatliche Dominanz also auf erkennbar höherem Niveau als vor Eintritt der Krise.
Zweitens: Das Staatswachstum in Krisenzeiten erfolgt in der Regel nicht gegen den Willen der Zivilgesellschaft, sondern wird von dieser vielmehr lebhaft und mit Nachdruck gefordert. Gerade in Krisenzeiten besteht rege Nachfrage nach „mehr Staat“ – „The Government must do something!“
VIII.
„Corona“, das ist schon jetzt klar zu erkennen, wird zu einer weiteren staatlichen Machtsteigerung, insbesondere zu einem massiven Ausbau des staatlichen Repressionsapparates führen. Wenn man in diesen Tagen immer wieder den Satz hört, die Welt nach Corona werde nicht mehr so sein wie die Welt vor Corona, dann klingt das in meinen Ohren nicht wie eine simple Prognose – sondern wie eine düstere Drohung.
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