Justizvollzugsanstalt Berlin Moabit | Bild: picture alliance/dpa | Jens Kalaene

Menschenwürdige Haft

Gefängnisse im deutschen Sprachraum sind voll, die Haftbedingungen oft menschenunwürdig. Kritiker sprechen von „Armutsbestrafung“ und verweisen auf eine Gefahr für die Gesellschaft, wenn Grausamkeit gefordert und als verdiente Strafe bejubelt wird. Es drohe „jede Perspektive von gesellschaftlicher Entwicklung, von Menschenrecht und Moral“ aus dem Blick zu geraten. Skandinavische Länder zeigen, dass es auch anders geht.

SUSANNE WOLF, 1. Oktober 2024, 0 Kommentare, PDF

Marcel S. ist dreimal ohne Fahrschein in der U-Bahn erwischt worden, das Urteil lautet: 1.350 Euro Geldstrafe. Marcel S. hat keinen Anwalt – so wie die meisten der Angeklagten am Bereitschaftsgericht Berlin-Tempelhof. Ein Pflichtverteidiger wird in solchen Fällen nur selten vom Gericht bestellt; Angeklagte, die ihre Geldstrafe nicht zahlen können, kommen oft mit einer Ersatzfreiheitsstrafe ins Gefängnis. Viele verschweigen ihre Armut aus Scham. Was ein Verteidiger bei Marcel S. feststellen würde: Der junge Mann ist wegen Drogenabhängigkeit in ärztlicher Behandlung, das Geld ist knapp. „Im Falle der Verhängung einer Geldstrafe besteht die Möglichkeit – zur Abwendung einer drohenden Ersatzfreiheitsstrafe –, diese durch die Ableistung freier Arbeit zu tilgen“, sagt Denise Schlesing von der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz Berlin.

Corona-Häftlinge

Deutschlands Gefängnisse sind voll mit Menschen, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten – oder wollten. „Pro Jahr müssen 50.000 Menschen, die zu Geldstrafen etwa wegen Schwarzfahrens verurteilt wurden, in Haft, weil sie diese nicht bezahlen können“, sagt der ehemalige Haftanstaltsleiter und Rechtsanwalt Thomas Galli gegenüber Multipolar. In Österreich ist die Situation ähnlich – und während Corona stieg die Zahl der Menschen, die aufgrund von Verwaltungsstrafen im Gefängnis landeten, noch an.

Claudia Lakatos, bis dahin unbescholtene Bürgerin, wurde während dieser Zeit zum ersten Mal straffällig. Die Niederösterreicherin hatte aus gesundheitlichen Gründen eine ärztlich bestätigte Maskenbefreiung, wurde jedoch auf einer Demo wegen fehlendem Mund-Nasen-Schutz angezeigt. „Die Polizisten meinten, dass meine Befreiung sie nicht interessiere, sondern dass ich diese bei der zuständigen Behörde vorlegen müsse.“ Es blieb nicht bei einer Behörde: „Ich musste vier Stationen durchlaufen, vom Magistrat bis zum Verwaltungsgericht, da ich mich weigerte, die Geldstrafe zu bezahlen.“

Am Ende der Odyssee stand der Exekutor, der Gerichtsvollzieher, vor Lakatos‘ Tür, der jedoch feststellte, dass die Angezeigte nicht exekutierbar war. „Eines Tages tauchte dann unangekündigt die Polizei bei mir auf, um mich zu verhaften.“ Lakatos war es nicht möglich, Angehörige zu verständigen, sie wurde umgehend ins Anhaltezentrum St. Pölten gebracht. „Ich musste dort alles abgeben und mich bis auf die Unterhose ausziehen.“ Lakatos verbrachte zwei Tage und Nächte in einer versperrten Zelle, die sie nur zum Essen verlassen durfte. Nach ihrer Entlassung schrieb sie einen Beschwerdebrief an die zuständigen Behörden und wurde vertröstet – bis heute hat sie keine Antwort erhalten.

Auf Nachfrage von Multipolar stellt das Landesgericht St. Pölten fest: „Werden Verwaltungsstrafen nicht beglichen und kann der Betrag nicht exekutiv eingehoben werden, ist eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten.“ Eine Frage bezüglich der vorhandenen Maskenbefreiung wurde nicht beantwortet.

Auch in Deutschland gibt es solche „Corona-Häftlinge“: Hier werden zudem weiterhin Soldaten inhaftiert, die sich weigerten, sich ein mRNA-basiertes Corona-Präparat injizieren zu lassen.

Verletzung der Menschenwürde

Nicht nur solche Fälle und Corona-Delikte führen zu einer erhöhten Zahl an Freiheitsstrafen: Laut einem Bericht des Rechnunghofs befinden sich Österreichs Haftanstalten seit Jahren an der Auslastungsgrenze, sind teilweise überbelegt und haben mit Personalmangel zu kämpfen. In etlichen Gefängnissen fehlt es an Beschäftigungs- und Freizeitmöglichkeiten; mancherorts bleiben die Häftlinge bis zu 23 Stunden am Stück in ihren Zellen eingesperrt. Dabei seien ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten in Form von Arbeit oder Ausbildung wesentliche Faktoren für ein positives Anstaltsklima und die Resozialisierung der Häftlinge, so der Bericht. In Österreich hat sich die Zahl der Suizide in den Haftanstalten von 2023 auf 2024 verdoppelt, die Therapie- und Betreuungsmöglichkeiten sind völlig unzureichend. Die Zahl psychischer Kranker in Haft hat sich in den vergangenen 15 Jahren fast vervierfacht.

Die Volksanwaltschaft, der parlamentarische Ombudsrat zur Kontrolle der öffentlichen Verwaltung in Österreich, hat ein Papier mit 48 Empfehlungen zur Suizidprävention verfasst – umgesetzt wurde davon nur wenig, so Volksanwältin Gaby Schwarz. Aus dem Jahresbericht 2022 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter geht hervor, dass es in zahlreichen deutschen Haftanstalten Bedingungen gibt, die „eine eklatante Verletzung der Menschenwürde“ darstellen. „Sowohl im Maßregelvollzug als auch im Justizvollzug wurden Personen über mehrere Wochen, sogar Monate, von anderen Personen abgesondert untergebracht.“ Während dieser Zeit hätten sie lediglich eine eingeschränkte Betreuung erhalten, zudem seien ihnen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten worden. „Erschwerend kam hinzu, dass ihnen teilweise selbst die Möglichkeit verwehrt wurde, eine Stunde im Freien zu verbringen“, heißt es im Bericht.

Offener Vollzug

Auch in Deutschland herrscht Personalmangel in den Gefängnissen, die Gewerkschaft der Strafvollzugsbediensteten BSBD spricht von 2000 unbesetzten Stellen. Insbesondere die Unterbringung von sogenannten „Gefährdern“ strapaziere den Personalschlüssel immens, so René Müller vom BSBD. „Gefährder müssten nach dem Sicherungs- und Ordnungsgesetz untergebracht werden. Das ist eigentlich eine originäre Aufgabe der Polizei“, so Müller. Der Personalmangel hat auch Folgen für das Leben der Inhaftierten: „Wir haben weniger Möglichkeiten, mit unseren Familien, Freunden und Angehörigen in Kontakt zu treten oder ein bisschen Socializing zu betreiben“, erklärt Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft GG/BO im MDR.

Mehr offener Vollzug könnte dem Personalmangel entgegenwirken. Das bedeutet: Die Häftlinge können tagsüber einer Arbeit nachgehen und kehren abends in die Justizvollzugsanstalt zurück. Es gibt nur geringe oder keine Sicherungsvorkehrungen gegen Flucht, das Leben ist den Alltagsbedingungen in Freiheit angeglichen. „Im offenen Vollzug können Häftlinge viel besser in Arbeit vermittelt werden, oder sie behalten ihren Job sogar“, so Galli. Menschen blieben dort in der Lebensrealität und würden nicht in die Parallelwelt einer geschlossenen Anstalt gedrängt werden.

2023 kam eine Vergleichsstudie im Auftrag des niedersächsischen Wissenschaftsministeriums zu dem Schluss, dass „Personen aus dem offenen Vollzug signifikant seltener erneut zu einer unbedingten Gefängnisstrafe verurteilt wurden“. Anders gesagt: Mehr offener Vollzug reduziert die Rückfallquote. Dennoch sinkt der Anteil der Gefängnisinsassen, die ihre Haftstrafe im offenen Vollzug absitzen. Das geht aus einer Recherche des ARD-Politikmagazins Kontraste bei den Justizministerien der Länder hervor. Während 2012 das Verhältnis von offenem zu geschlossenem Vollzug bundesweit noch bei 14,2 Prozent lag, sank es 2022 auf 11,6 Prozent.

Der Strafvollzug in Deutschland wird laut Thomas Galli zunehmend rigider gehandhabt, auch aus Angst: „Ich bin letztlich immer auf der sicheren Seite, wenn ich sage, ein Gefangener kriegt keinen Ausgang.“ Das Einzige, was einen Justizminister den Stuhl kosten könne, sei, „wenn im Strafvollzug irgendetwas Schlimmes passiert“. Dennoch ist der ehemalige Haftanstaltsleiter davon überzeugt, dass es nicht sinnvoll ist, mehrere Hundert meist jüngere Männer gemeinsam in einer geschlossenen Anstalt einzusperren. „Das weckt vor allem Aggression und Frustration und reißt diese Menschen heraus aus ihren sozialen Bezügen.“ Man erreiche das Gegenteil von dem, was man wolle: die Täter richtig zu sozialisieren.

„Die Resozialisierung im Justizvollzug ist ein komplexer Prozess, der eine enge Zusammenarbeit verschiedener Akteure erfordert“, meint Denise Schlesing von der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz Berlin. „Neben den Justizvollzugsanstalten gehören auch externe Partner wie zum Beispiel Beratungsstellen, Bildungseinrichtungen und Arbeitgeber dazu.“

Humaner Strafvollzug

Dass Resozialisierung gut funktionieren kann, machen Länder wie Norwegen und Schweden vor. Die Rückfallquoten sind dort deutlich niedriger. Norwegen gilt als Musterbeispiel für einen humanen Strafvollzug, der vom ersten Tag an auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft ausgerichtet ist. „Häftlinge leben in offenen Wohngemeinschaften, empfangen Besuch, haben bezahlte Arbeit und Kontakt zur Gemeinschaft außerhalb der Haftanstalten“, erläutert die Juristin Federica Coppola, die zu den Themen Strafrechtstheorie, Strafjustiz sowie Inhaftierung und Einzelhaft forscht. Sie spricht sich für einen menschenwürdigen Strafvollzug auch in Deutschland aus. Der Erfolg bestätige das Konzept der Skandinavier: „Es gibt deutlich weniger Gewalt und weniger Übergriffe des Personals auf die Gefangenen sowie weniger Ausbruchsversuche“, so Coppola. Die Rückfallquote liege bei unter 20 Prozent gegenüber 50 Prozent oder mehr in Ländern mit einem konventionellen, vor allem auf Entmündigung und Strafe ausgerichteten Vollzug.

„Die Aufseher aller norwegischen Gefängnisse, darunter 40 Prozent Frauen, haben eine zweijährige Ausbildung durchlaufen, in der sie gelernt haben, dass Häftlinge auf einen freundschaftlichen Umgang besser reagieren als auf Gängelei und Demütigungen“, schreibt Rutger Bregman in seinem Bestseller „Im Grunde gut“. „Die Aufseher betrachten es als ihre Pflicht, die Insassen so gut wie möglich auf das normale Leben vorzubereiten.“ Und weiter: „In den Vereinigten Staaten sitzen 60 Prozent der Gefangenen nach zwei Jahren wieder hinter Schloss und Riegel, in Norwegen sind es 20 Prozent.“ Ein Team aus Wirtschaftswissenschaftlern habe zudem belegt, dass die norwegische Methode letztendlich günstiger ist als andere: „So kostet der Aufenthalt in einem norwegischen Gefängnis durchschnittlich 60.515 Dollar pro Verurteilung, fast doppelt so viel wie in den Vereinigten Staaten. Dem steht jedoch innerhalb des norwegischen Rechtssystems eine zukünftige Einsparung von 71.226 Dollar gegenüber, weil die Exhäftlinge weniger Straftaten begehen“, schreibt Bregman.

„Mit ihrem Fokus auf Vergeltung, Abschreckung und Ausgrenzung erzeugt oder zumindest begünstigt die strafrechtliche Praxis genau die Probleme, die sie zu beheben vorgibt“, ist die Juristin Federica Coppola überzeugt. Aus Isolation erwachse kein Gefühl für Mitmenschlichkeit und Verantwortung, aus Erniedrigung kein Bedürfnis, sich einer Gemeinschaft einzugliedern, anderen zu helfen und selbst Hilfe zu erfahren. Coppola verweist darauf, welch konkreter Gefahr sich eine Gesellschaft aussetzt, die menschenverachtende Grausamkeit fordert und vielleicht sogar als verdiente Strafe bejubelt. Es bestehe die Gefahr, „jede Perspektive von gesellschaftlicher Entwicklung, von Menschenrecht und Moral aus den Augen zu verlieren“, so der Journalist Martin Tschechne in einem Bericht über Coppolas Forschung.

Zukunftsorientierte Maßnahmen

Rechtsanwalt Thomas Galli fordert neben Gefängnisaufenthalten andere Formen von Strafe: „Ich habe einen Klienten vertreten, der im Supermarkt geklaut hatte, ein Brötchen und eine Tüte Nüsse im Wert von 2,89 Euro.“ Weil der drogenabhängige Mann schon öfter kleine Diebstähle begangen hatte, entschied das Gericht, dass er drei Monate in Haft müsse, ohne Bewährung. „Da frage ich mich: Was soll das? Das hilft dem Mann nicht und wird ihn auch nicht abschrecken.“ Galli kritisiert, dass diese Vorgehensweise den Steuerzahler viel Geld koste. Er fordert zukunftsorientierte Maßnahmen, unter Einbeziehung der Geschädigten. „Mein Klient könnte zum Beispiel dazu verurteilt werden, einen halben Tag in dem Geschäft auszuhelfen, das er beklaut hat.“ Auch eine Suchttherapie könne helfen.

Unter dem Schlagwort „Armutsbestrafung abschaffen“ fordert die Fraktion Die Linke die Entkriminalisierung des Drogenkonsums sowie des Schwarzfahrens. Zudem soll die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft, die Prozesskostenhilfe und das Recht auf Verteidigung gestärkt sowie die Systematik der Geldstrafe überarbeitet werden. Wenn es nach den Linken und den Grünen ginge, würden Schwarzfahrer wie Marcel S. In Zukunft keine Gefängnisstrafe mehr riskieren. Sie kritisieren seit Jahren die Unverhältnismäßigkeit des Strafausmaßes: Wer bei Rot über die Ampel fährt, riskiert ein Bußgeld und Fahrverbot; Schwarzfahrern droht im schlimmsten Fall Gefängnis.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will das Schwarzfahren im Zuge einer Strafrechtsreform ebenfalls entkriminalisieren und zur Ordnungswidrigkeit machen. „Die Fortentwicklung des Strafrechts ist eine Kernaufgabe der Rechtspolitik. Daher müssen wir fragen: Setzt der Staat im Strafrecht die richtigen Prioritäten? Passen unsere Straftatbestände noch ausnahmslos in die Zeit?“, so Buschmann in einer Presseaussendung. Ob der Justizminister mit seinen Reformplänen Erfolg hat, bleibt abzuwarten, sie sind innerhalb der Koalition umstritten.

Über die Autorin: Susanne Wolf, Jahrgang 1968, arbeitet seit über 10 Jahren als freie Journalistin und Autorin mit den Schwerpunkten Umwelt, Nachhaltigkeit und Transformation. Sie ist Autorin der Bücher „Nachhaltig Leben“ und „Zukunft wird mit Mut gemacht“.

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