Medien aussortieren
PAUL SCHREYER, 30. März 2022, 11 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Artikel ist auch auf Englisch verfügbar.
NewsGuard wurde 2018 in New York gegründet und operiert inzwischen auch in Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Geleitet wird das Unternehmen von den beiden Journalisten und Medienunternehmern Steven Brill und Gordon Crovitz. Letzterer ist ein ehemaliger Herausgeber des Wall Street Journal. Zum Start sammelten die beiden Gründer bei Investoren sechs Millionen Dollar ein. Die Anwerbung der Finanziers organisierte Publicis, einer der größten Werbe- und PR-Konzerne der Welt, der zugleich einer der Hauptinvestoren von NewsGuard ist.
Das Unternehmen widmet sich nach eigenen Worten dem „Kampf gegen Desinformation“ und arbeitet dabei seit diesem Jahr auch mit der Europäischen Kommission zusammen. NewsGuard setzt nicht auf maschinelle Algorithmen, sondern auf Handarbeit, indem es Tausende Medien einzeln von Journalisten überprüfen lässt. Am Ende der Bewertung steht entweder ein grünes Häkchen („glaubwürdig“) oder ein rotes Ausrufezeichen („nicht glaubwürdig“). Diese Bewertungen, die fortlaufend aktualisiert werden, sind das Produkt, das NewsGuard verkauft. In der Eigenwerbung heißt es, man ermögliche damit „einer Vielzahl von Unternehmen, Institutionen und Behörden, Fehlinformationen zu bekämpfen und vertrauenswürdige digitale Umgebungen zu schaffen.“ Ein Hauptabnehmer ist Microsoft. Der Konzern hat die Bewertungen standardmäßig in seinen Internetbrowser Edge integriert. Auch eine App ist verfügbar. Das Unternehmen erklärt dazu:
„Die Bewertungen und Labels von NewsGuard können durch Anbieter von Internetdiensten, Browsern, Nachrichtenaggregatoren, Social Media-Plattformen und Suchmaschinen lizenziert werden, um ihren Benutzern die Informationen von NewsGuard zur Verfügung zu stellen. Diese Bewertungen werden den Verbrauchern über eine Browser-Erweiterung zur Verfügung gestellt, die in Chrome, Safari, Edge und Firefox verwendbar ist, sowie auf mobilen Geräten über NewsGuards iOS- und Android-Apps und über den mobilen Edge-Browser.“
Im Ergebnis werden als unglaubwürdig bewertete Webseiten von Nutzern gar nicht erst angeklickt und die „Fake News“ erreichen ihr Ziel nicht – so die Idee. Problematisch ist daran einiges, wie ein gründlicherer Blick auf das Unternehmen, die Mitarbeiter und die Bewertungskriterien zeigt.
Problem 1: Interessenkonflikte durch Sponsoren
Wie bereits erwähnt, ist einer der Hauptinvestoren von NewsGuard der PR- und Werbekonzern Publicis. In seinem letzten Geschäftsbericht weist Publicis mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz im Gesundheitssektor aus. Zu den Kunden zählen zahlreiche weltweit tätige Pharmakonzerne, darunter Pfizer, größter Hersteller von Covid-19-Präparaten. NewsGuard ist intensiv mit der Bewertung von journalistischen Inhalten zu diesen „Impfstoffen“ befasst. Wer die mRNA-Präparate kritisiert, gilt tendenziell als unglaubwürdig. Ist an dieser Stelle eine Unabhängigkeit von NewsGuard gegeben? In der Eigendarstellung der Firma heißt es zum Einfluss der Finanziers:
„Externe Investoren spielen keine Rolle bei der Bestimmung von Bewertungen oder der Erstellung von Website-Mediensteckbriefen oder sonstigen Inhalten von NewsGuard.“
Fraglos handelt es sich hier um einen schwerwiegenden Interessenkonflikt. Auf Nachfrage von Multipolar, wie NewsGuard mit diesem Interessenkonflikt konkret, also abseits von pauschalen Willensbekundungen, umgeht und wie das Unternehmen sicherstellen will, dass die Interessen eines der Hauptfinanziers keinen Eingang in die Bewertungen finden, erklärt Marie Richter, Managing Editor Germany bei NewsGuard:
„Hier muss ich bekräftigen, was wir bereits auf unserer Webseite sagen: Investoren sind in keiner Weise in unseren Bewertungsprozess involviert, noch haben sie irgendeinen Einfluss auf oder gar Kontakt zu unseren Analysten oder Redakteuren. Unser Bewertungsverfahren ist so konzipiert, dass es frei von solchen Einflüssen ist und gewährleistet, dass unsere neun grundlegenden, unpolitischen journalistischen Kriterien fair und in gleicher Weise auf alle Webseiten angewandt werden – unabhängig von deren Thema, Tonfall oder politischer Ausrichtung, falls vorhanden.“
Problem 2: Interessenkonflikte der Mitarbeiter
Die Interessenkonflikte fangen mit den Investoren des Unternehmens allerdings erst an. Nicht weniger bedenklich erscheinen die beruflichen Verstrickungen vieler Mitarbeiter. Im Folgenden drei Beispiele:
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Die Süddeutsche Zeitung hat von NewsGuard ein Höchstranking von 100 Punkten erhalten; Kritik gibt es im Bewertungstext keine, stattdessen die pauschale, undifferenzierte Aussage: „Artikel sind ausgewogen, faktenbasiert und mit Quellen belegt.“ Mitverantwortlich für diese Bewertung ist die Journalistin Alina Fichter – die jedoch selbst schon als Redakteurin für die Süddeutsche Zeitung gearbeitet hat.
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Tagesschau.de, das Nachrichtenflaggschiff der ARD im Internet, erhielt von NewsGuard ein Rating von 95 Punkten. Auch hier gibt es fast keine Kritik. Dass die Programmbeschwerden gegen Tagesschau-Beiträge wegen journalistischer Verfehlungen inzwischen mehrere Bücher füllen, ist kein Thema. Verfasst wurde die unkritische Bewertung von der Journalistin Rebecca Kuesters – die jedoch selbst als freie Journalistin für die ARD tätig ist.
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Bild.de erhielt ein Rating von 69,5 Punkten. Die Artikel der Boulevardzeitung seien „in der Regel faktenbasiert“. Zwar findet Kritik in dieser Bewertung breiten Raum, doch am Ende steht die Einstufung mit grünem Siegel: „glaubwürdig“. Nur wer bis zum Ende des 20 Seiten langen Bewertungstextes liest, erfährt: „Gordon Crovitz, Co-CEO von NewsGuard, war ein Investor und ist derzeit Vorstandsmitglied bei Business Insider, welcher von Axel Springer übernommen wurde.“ Der NewsGuard-Chef arbeitet also zugleich für den Springer-Konzern, der die Bild-Zeitung herausgibt.
Marie Richter von NewsGuard erklärt dazu gegenüber Multipolar:
„Alle unsere Journalisten müssen auf unserer Webseite ihre früheren Arbeitgeber oder andere Tätigkeiten transparent offenlegen. Darüber hinaus fordern wir alle unsere Teammitglieder auf, sich mit unseren umfassenden Richtlinien in Form einer Einverständniserklärung und Selbstverpflichtung für Redaktionsmitglieder vertraut zu machen, an die sie sich halten müssen, während sie für uns arbeiten. Die Richtlinie enthält zwei Absätze über die Verpflichtung zur Offenlegung von Interessenkonflikten unserer Analysten selbst sowie ihrer Angehörigen.“
Doch das eigentliche journalistische Problem ist nicht das Verschweigen, sondern die Existenz von Interessenkonflikten. Notwendig wäre es, Interessenkonflikte zu vermeiden, anstatt sie nur transparent zu machen. Es ist unmöglich, dass ein Mitarbeiter oder ehemaliger Mitarbeiter eines Mediums dieses „unabhängig“ bewertet.
Die Interessenverquickung des NewsGuard-Chefs Gordon Crovitz mit dem Springer-Konzern hat noch eine andere Ebene. NewsGuard bietet seine Ratings auch der Werbebranche an; wie erwähnt, hatte überhaupt erst eine Werbeagentur die Sechs-Millionen-Dollar-Finanzierung von NewsGuard organisiert – und diese Agentur ist aktuell auch einer der Hauptinvestoren. Kein Wunder: Den Werbekunden helfen die Einstufungen, da sie möglichst nicht in einem kontroversen Umfeld Anzeigen schalten wollen. Ein als unglaubwürdig eingestuftes Medium läuft daher Gefahr, in erheblichem Maße Anzeigeneinnahmen zu verlieren – was NewsGuard auch offen als Ziel seiner Arbeit angibt. Würde NewsGuard die Bild-Zeitung mit einem roten Warnschild versehen, drohten dem Springer Konzern, für den NewsGuard-Chef Crovitz auch arbeitet, finanzielle Einbußen.
Problem 3: Struktureller Interessenkonflikt
Schaut man genauer auf die Bewertungen der einzelnen Medien, dann wird ein weiterer Interessenkonflikt sichtbar, der struktureller Art ist: Bei NewsGuard warnen Journalisten, die für etablierte Leitmedien arbeiten oder gearbeitet haben, vor Oppositionsmedien, die die Erzählungen der großen Medien in Frage stellen. Anders gesagt: Man redet die Konkurrenz schlecht. Während Leitmedien so gut wie ausnahmslos als glaubwürdig bewertet werden (Spiegel: 100 Punkte – „Die Beiträge sind gut belegt und ausgewogen“), ist es bei den Kritikern aus der Nische der Oppositionsmedien umgekehrt – sie bekommen fast immer das rote Warnschild:
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Rubikon (35 Punkte) „unterstützt Narrative der russischen Regierung und veröffentlicht Verschwörungsmythen sowie falsche und irreführende Behauptungen“
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Apolut (20 Punkte) „hat mehrfach falsche und unbelegte Aussagen veröffentlicht“
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Reitschuster (59,5 Punkte) „recherchiert Informationen nicht verantwortungsvoll und präsentiert irreführende Überschriften“
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Achgut (35 Punkte) „hat zu den Themen Migration und Klimawandel falsche und irreführende Behauptungen veröffentlicht“ (Achgut hat im November 2021 eine fünfteilige Artikelserie zu seinen Erfahrungen mit NewsGuard publiziert.)
Ausnahmen sind Tichys Einblick (69,5 Punkte), Telepolis (87,5 Punkte) und die NachDenkSeiten (82 Punkte), die als glaubwürdig eingestuft werden, wenn auch mit Abstrichen. So heißt es zu den NachDenkSeiten einschränkend: „Die Seite hat unbelegte Behauptungen über COVID-19 verbreitet.“ Die NachDenkSeiten bemühten sich mit Nachbesserungen darum, die Kritik von NewsGuard zu berücksichtigen.
Die Überprüfung der Oppositionsmedien stellt sich in der Regel so dar, dass die veröffentlichten Beiträge auf Ansichten durchsucht werden, die als umstritten gelten, also etwa zum Ursprung des Coronavirus, zur Sicherheit der mRNA-Präparate oder zum Thema Russland/Ukraine. Umstrittene Ansichten zu solchen Themen werden dann in einem Faktencheck „widerlegt“, indem der verantwortliche NewsGuard-Mitarbeiter die Aussagen offizieller Regierungsstellen dazu zitiert. Dass auch die Regierung lügen oder Dinge interessengeleitet irreführend darstellen kann, liegt in dieser Sicht außerhalb des Vorstellbaren. Rubikon, Reitschuster & Co. machen sich daher prinzipiell verdächtig.
Umgekehrt gilt: Medien die diese Oppositionsstimmen scharf kritisieren, sind für NewsGuard besonders glaubwürdig, so etwa der Blog Volksverpetzer (87,5 Punkte), der im aggressiven Stil Menschen gegeneinander aufhetzt („Grenzt Impfgegner aus“, „Warum die AfD überwacht werden muss“, „Wer hat Schuld an der Impfpflicht? – Impfgegner“.) Laut NewsGuard betreibt dieser Blog einwandfreien Journalismus und „recherchiert und veröffentlicht Informationen verantwortungsbewusst“:
„Artikel sind in der Regel meinungsbetont, aber faktenbasiert, und beinhalten Quellenangaben und Links zu Originalquellen. Überschriften sind manchmal emotionsgeladen, spiegeln aber den Inhalt zutreffend wider und sind nicht irreführend.“
Problem 4: Bewertung durch journalistische Berufseinsteiger
Die oben genannte Einschätzung stammt von Marie Richter, die bereits mehrfach in diesem Artikel zitiert wurde und die als „Managing Editor Germany“ des Unternehmens firmiert. Richter ist 25 Jahre alt. Gegenüber Multipolar erklärt sie: „Als Managing Editor unseres Deutschland-Teams koordiniere ich unsere Analysen und weise sie unseren AnalystInnen zu.“ Auf einer Online-Konferenz des Aspen Instituts im Februar dieses Jahres erläuterte sie, der Analyseprozess bei NewsGuard sei deshalb so aufwändig, „weil wir uns die Mühe machen, Fachexperten heran zu setzen.“ Offenbar meint sie damit auch sich selbst, verfasste sie doch unter anderem die Bewertungen zum Rubikon, zu Telepolis und zu Achgut als Hauptautorin. An den Ratings von Apolut und Reitschuster war sie beteiligt. Die aktuell durchgeführte Bewertung von Multipolar wird von ihr überwacht.
Was qualifiziert sie für diese Tätigkeit, was macht sie zu einem Fachexperten auf dem Gebiet? NewsGuard gibt an, dass Richter auf einem privaten College in den USA einen Bachelor in „internationalen Beziehungen, Literatur und Schriftstellerei“ erworben habe sowie anschließend einen Master in Journalismus an der renommierten Columbia University. Dieser Master-Studiengang – das steht nicht in der Kurzbiografie – dauert an der Columbia University neun Monate. Richter hat keine weitere Berufserfahrung im Journalismus.
Aufgewachsen in Sachsen als Tochter eines aus Hamburg stammenden Jura-Professors, der seit 20 Jahren in Dresden einen Lehrstuhl für Wirtschaftsrecht bekleidet, hat sie einige Jahre in den USA gelebt, verschiedenes studiert und 2019, mit 23 Jahren, den erwähnten neunmonatigen Schnellkurs in Journalismus absolviert, der als „Masterstudium“ bezeichnet wird. Direkt danach begann ihre Laufbahn bei NewsGuard. Dort entscheidet die Berufseinsteigerin nun darüber, welche Oppositionsmedien in Deutschland noch Werbeeinnahmen generieren können und welche vom Werbegeld- und Leserstrom abgeschnitten werden, da sie „Desinformation“ verbreiten und vor denen daher alle Internetnutzer bereits in den Suchergebnissen gewarnt werden müssen; zumindest ist das die Idee, für die NewsGuard steht und das Ziel, auf das die Bemühungen des Unternehmens ausgerichtet sind.
Einschränkend sei erwähnt: Nicht alle Mitarbeiter sind so unerfahren. So gibt es auch ein qualifizierteres „Führungsteam“, zu dem Florian Meißner und Eric Effron zählen. Meißner hat an der TU Dortmund Journalismus studiert, dort 2018 promoviert und anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter gearbeitet. Daneben war er mehrere Jahre lang für WDR und ZDF tätig, bevor er 2019 bei NewsGuard einstieg, wo er aktuell als Senior Advisor Germany firmiert. Seit 2021 kann Meißner zusätzlich mit einem Professorentitel aufwarten („Medienmanagement und Journalistik“). Der wesentlich ältere New Yorker Journalist Eric Effron wird vom Unternehmen als Editorial Director bezeichnet. Er war unter anderem lange für die Nachrichtenagentur Reuters tätig. Meißner und Effron fällt regelmäßig die Aufgabe zu, die Bewertungen, die oft von jüngeren Kollegen verfasst werden, vor der Veröffentlichung zu überprüfen. So weist NewsGuard es zumindest aus, wobei unklar bleibt, ob Effron überhaupt Deutsch spricht – er selbst gibt zur Frage seiner Sprachkenntnisse nur Englisch an – und worin die Bearbeitungen von Meißner und Effron genau bestehen.
Die eigentliche Bewertungsarbeit wird bei NewsGuard aber von den jungen bis sehr jungen, meist nicht festangestellten, Kolleginnen (es handelt sich ausschließlich um Frauen) geleistet. Neben Marie Richter sind das:
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Roberta Schmid, Abitur 2014, zwischen 2018 und 2019 Praktikantin beim ZDF, der Deutschen Welle und dem Auswärtigen Amt, anschließend Studium der „Politischen Kommunikation“ in Amsterdam
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Liron Baur, ebenfalls 2019 Absolventin des neunmonatigen Journalismus-Studium an der Columbia University in New York, davor Studium der Politikwissenschaften und des Drehbuchschreibens; eine praktische journalistische Erfahrung ist aus ihrem Lebenslauf nicht ersichtlich
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Caroline Lindekamp, Diplom in Journalistik an der TU Dortmund, Praktika unter anderem bei dpa, WDR und dem Auswärtigen Amt; für die ZEIT interviewte sie 2021 den Verschwörungstheorie-Forscher Michael Butter (Überschrift: „Die Corona-Impfung ist ein Traum für Verschwörungstheoretiker“) und fragte ihn, ob denn, wenn Argumente und Warnhinweise gegen Zweifler wenig nutzten, „das Löschen der Inhalte eine Alternative“ sein könne
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Elena Bernard, 2014 Volontärin beim Wissenschaftsmagazin Spektrum, wo sie bis heute vor allem veröffentlicht; 2019 Master in Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund; das Thema ihrer Abschlussarbeit lautete „Erfolgreiche Gesundheitsbotschaften“; im gleichen Jahr erschien bei Quarks (WDR) ihr Text „Warum du Leute selten mit Fakten überzeugst“, in dem es heißt: „Wenn Menschen sich aufgrund unbegründeter Ängste nicht impfen lassen, gefährden sie nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern untergraben auch weltweite Gesundheitsziele“. Elena Bernard verfasste unter anderem die Ratings von Apolut und Reitschuster und arbeitet aktuell an der Bewertung von Multipolar.
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Karin König, 2020 Bachelorabschluss in Journalistik; danach Volontariat beim WDR, wo sie aktuell freie Mitarbeiterin ist; König verfasste unter anderem die negative Bewertung zum regierungskritischen Blog Anti-Spiegel („pro-russische Webseite, die regelmäßig fehlerhafte Behauptungen veröffentlicht“) sowie gemeinsam mit Elena Bernard die Ratings zu Tichys Einblick und den NachDenkSeiten
Problem 5: Mehrdeutige Kriterien lassen Raum für Willkür
NewsGuard gründet seine Bewertungen auf neun Kriterien, deren jeweilige Erfüllung mit einer bestimmten Punktzahl verknüpft ist. Eine Seite mit einer Punktzahl unter 60 Punkten erhält eine rote Wertung. Die Bewertung wird fortlaufend aktualisiert, Medien erhalten also immer wieder Post von NewsGuard, wenn die Firma Beanstandungen hat. So entsteht ein permanenter Rechtfertigungsdruck. Im Folgenden werden die Kriterien in der Reihenfolge ihrer Gewichtung vorgestellt. Multipolar hat zu einigen Punkten Fragen an NewsGuard gerichtet, die jeweils darunter eingefügt werden, ergänzt um die Antworten des Unternehmens, die Marie Richter übermittelte.
1.) Es werden nicht regelmäßig Falschinformationen veröffentlicht: In den vergangenen drei Jahren hat die Webseite nicht wiederholt Beiträge veröffentlicht, die NewsGuard-Analysten oder andere Faktenchecker widerlegt haben und die nicht rasch und deutlich richtig gestellt wurden. (22 Punkte)
Dazu hat Multipolar das Unternehmen gefragt, welche konkreten Organisationen mit „andere Faktenchecker“ gemeint sind und um eine vollständige Auflistung gebeten sowie um eine Begründung für die Auswahl dieser Organisationen. NewsGuard antwortete:
„Wir haben keine vollständige Liste der von uns berücksichtigten Faktenchecker, zumal wir solche Faktenchecks als Indikatoren verwenden und unsere Analysten alle Faktenchecks auch selbst überprüfen. Wir verlassen uns nie nur auf eine Quelle oder einen Faktencheck, um zu bestimmen, ob eine Behauptung irreführend oder falsch ist, sondern konsultieren mehrere solcher und anderer Quellen. Zu den von uns häufig zitierten Faktencheckern gehören unter anderem Correctiv, BR Faktenfuchs, Faktenfinder (Tagesschau), AFP und dpa.“
Hier entsteht ein neues Problem: Da die genannten Faktenchecker-Organisationen finanziell nicht unabhängig sind oder zu bestimmten Medienhäusern gehören, zielen deren Faktenchecks immer auf Konkurrenzmedien und nie auf die eigenen Geldgeber und Medien. NewsGuard bezieht sich somit einseitig auf parteiische Bewertungen. Ein Faktencheck von Multipolar oder den NachDenkSeiten etwa hat bislang keinen Eingang in eine NewsGuard-Bewertung gefunden. Warum eigentlich nicht?
2.) Verantwortungsbewusste Recherche und Aufbereitung von Informationen: Journalistinnen und Journalisten bemühen sich um akkurate, unabhängige und ausgewogene Recherchen, die auf einer Vielzahl von Quellen beruhen, bevorzugt auf Original- oder auf glaubwürdigen Sekundärquellen. Die Berichterstattung verzerrt Informationen nicht oder stellt diese falsch dar, um den eigenen Standpunkt zu unterstützen. (18 Punkte)
Dazu hat Multipolar nachgefragt, wie NewsGuard die Begriffe „glaubwürdige Quellen“ und „verzerrte Informationen“ genau definiert. Das Unternehmen antwortete:
„Glaubwürdige Quellen sind Quellen, die die grundlegenden Standards des Journalismus in Bezug auf Glaubwürdigkeit und Transparenz einhalten und die keine falschen Behauptungen verbreiten oder einseitig/mit einer versteckten Agenda berichten. Verzerrte Informationen beziehen sich auf Behauptungen, die nicht per se falsch sind, sondern aus dem Zusammenhang gerissen oder in einen irreführenden oder falschen Kontext gestellt.“
Hier wird nun ein ungenauer Begriff einfach durch einen anderen ersetzt. „Verzerrte Informationen“ sind Fakten in einem „irreführenden Kontext“. Was aber soll das sein? „Irreführend“ legt nahe, es gäbe einen einzigen „wahren“ Zusammenhang, in den die Fakten gehören und alle anderen Deutungen der (sachlich zutreffenden) Fakten seien daher falsch. Diese Definition bietet viel Raum für Willkür, da eine Bewertung dann weniger an den Fakten, als an der eigenen Haltung hängt. Medien eine „versteckte Agenda“ zu unterstellen, ist zudem kein objektiv überprüfbares Kriterium.
3.) Unterlaufene Fehler werden regelmäßig richtiggestellt. Die Redaktion hat wirkungsvolle Standards für Klar- und Richtigstellungen sowie Korrekturen etabliert. Auf der Seite ist eindeutig zu erkennen, wie Nutzerinnen und Nutzer redaktionell Verantwortliche kontaktieren können. (12.5 Punkte)
4.) Klare Unterscheidung zwischen Nachricht und Meinung: Webseiten, die sowohl Nachrichten als auch Kommentare veröffentlichen, unterscheiden diese deutlich voneinander. Die Berichterstattung greift nicht auf eine einseitige Auswahl an Fakten zurück, um einen bestimmten Standpunkt zu unterstützen. Webseiten, die eine bestimmte Sichtweise vertreten, legen diese offen. (12.5 Punkte)
Eine Trennung von Nachrichten und Kommentaren – das klingt auf den ersten Blick gut und sinnvoll. In der Medienwelt gibt es allerdings nicht nur eine Dualität aus Nachrichten und Kommentaren, sondern auch eine Fülle von Texten, die sowohl Fakten recherchieren als auch diese wertend einordnen. Erklärt NewsGuard diese Texte sämtlich für journalistisch mangelhaft? Wenn ja, auf welcher Grundlage? Auf diese Fragen antwortete das Unternehmen:
„Bei der Bewertung dieses Kriteriums berücksichtigen wir die folgenden Punkte: 1) Wenn die Webseite eine Mischung aus Nachrichtenartikeln und Kommentaren veröffentlicht, prüfen wir, ob diese eindeutig als solche gekennzeichnet sind, 2) Wenn die Webseite insgesamt meinungsbetont ist, prüfen wir, ob dies für die Leser erkennbar ist, und 3) Wenn die Webseite in ihrer Berichterstattung eine allgemeine politische Tendenz oder Perspektive erkennen lässt, prüfen wir, ob dies offengelegt wird. Die von Ihnen beschriebenen Texte würden wir von Fall zu Fall betrachten. Darauf gibt es keine pauschale Antwort, und es hängt auch von der allgemeinen Natur der Webseite ab. Wenn zum Beispiel die meisten Artikel auf einer Webseite gut recherchiert sind, aber dazu dienen, die Meinung des Autors oder der Webseite zum Ausdruck zu bringen, und die Webseite dies nicht als ihre allgemeine Aufgabe/ihr Format offenlegt, dann würden wir das als einen Mangel an Transparenz betrachten und das Kriterium als nicht erfüllt ansehen.“
Hier wird es nun endgültig willkürlich: Wenn NewsGuard die Artikel eines Magazins inhaltlich nicht gefallen, das Unternehmen sie aber mit sauberer Sachkritik nicht widerlegen kann, dann können die zu vergebenden Punkte trotzdem wegen einer „nicht offengelegten politischen Tendenz“ abgezogen werden. Eine nicht offengelegte Tendenz ist jedoch schon ein Widerspruch in sich. Denn wenn ein NewsGuard-Prüfer diese Tendenz erfassen kann, dann können die Leser – als mündige, selbstständig denkende Bürger – das selbstverständlich auch. NewsGuard hat hier offenbar ein anderes, elitäres Menschenbild, wonach die Öffentlichkeit vorsichtshalber in die „richtige“ Richtung gelenkt und vor strittigen Deutungen „geschützt“ werden muss. Spätestens an dieser Stelle überschreitet das Unternehmen klar die Schwelle zum „Meinungsmanagement“.
5.) Vermeiden irreführender Überschriften: Es werden keine Überschriften veröffentlicht, die falsche Informationen enthalten, erheblich sensationalisieren oder übertreiben oder die nicht den tatsächlichen Inhalt des Beitrags wiedergeben. (10 Punkte)
6.) Die Webseite veröffentlicht Eigentumsverhältnisse und Finanzierung: Eigentumsverhältnisse und/oder Finanzierung werden ebenso veröffentlicht wie ideologische Standpunkte/Positionen, die mit den Interessen der Eigentümerinnen und Eigentümer verbunden sind. Dies geschieht in einer nutzerfreundlichen und transparenten Art und Weise. (7.5 Punkte)
7.) Werbung wird als solche gekennzeichnet: Die Seite zeigt deutlich, welche Inhalte bezahlt sind und welche nicht. (7.5 Punkte)
8.) Offenlegen der redaktionell Verantwortlichen, einschließlich möglicher Interessenskonflikte: Informationen über Verantwortliche und mögliche Interessenkonflikte sind auf der Webseite zugänglich. (5 Punkte)
9.) Informationen über Journalistinnen und Journalisten: Informationen über Personen, die die Inhalte des Mediums erstellen, sind auf der Webseite zugänglich. (5 Punkte)
Es fällt auf, dass die fragwürdigen Kriterien vor allem jene sind, für die es die meisten Punkte gibt. Die Möglichkeiten zu einer Bewertung nach Gesinnung sind damit von vornherein umfassend.
Problem 6: Objektivitätsmythos
Die NewsGuard-Bewertung basiert ganz allgemein auf der Annahme, es gäbe die Möglichkeit, Journalismus „objektiv“ zu betreiben und dabei eigene politische Ansichten vollkommen außen vor zu lassen. Michael Meyen, Professor für Kommunikationswissenschaften an der LMU München kommentiert diese Annahme auf Multipolar-Nachfrage so:
„Hier (vermeintlich objektive) Nachrichten, dort Meinungen: Dieses Trennungsgebot ist Teil einer Ideologie, die die Interessen hinter der Berichterstattung der Leitmedien verschleiert. Journalismus ist Selektion. Das beginnt bei der Entscheidung, was überhaupt zum Thema wird, und endet längst nicht bei der Gewichtung (was steht groß vorn, was eher klein weiter hinten) oder bei der Berufung auf opportune Zeugen. Wertungen werden über Sprache transportiert – auch und gerade im 'Nachrichten'-Teil. Die Forschung hat vielfach nachgewiesen, dass dort die gleiche Botschaft zu finden ist wie in den Kommentaren. Wer wie NewsGuard das Gegenteil behauptet und auf dieser Basis auch noch Gütesiegel verteilt, wird zum Wächter der herrschenden Meinung. Es ist deshalb kein Zufall, dass diese Organisation überhaupt keinen Wert auf Vielfalt legt und das Kriterium Transparenz (wer schreibt hier, wer bezahlt und wer liefert warum zu) unter ferner liefen behandelt.“
Problem 7: Politische Berater
NewsGuard beschäftigt zahlreiche ehemalige Politiker und hochrangige Beamte der US-Regierung sowie der Nato in einem Beirat, der das Unternehmen „strategisch berät“, darunter:
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Michael Hayden, NSA- und CIA-Direktor unter US-Präsident George W. Bush
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Tom Ridge, Minister für Heimatschutz unter George W. Bush
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Elise Jordan, Redenschreiberin für US-Außenministerin Condoleezza Rice
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Don Baer, PR-Chef („White House Communications Director“) im Weißen Haus unter Bill Clinton
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Richard Stengel, PR-Chef („Undersecretary of State for Public Diplomacy“) im US-Außenministerium unter Minister John Kerry
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Anders Fogh Rasmussen, Ex-Generalsekretär der Nato
Auf Nachfrage von Multipolar, wie die Beschäftigung dieser politischen Berater zum Anspruch von journalistischer Objektivität und Unabhängigkeit passt, erklärt NewsGuard:
„Unsere Berater sind weder an unserem Verfahren zur Bewertung von Webseiten beteiligt, noch haben sie die Befugnis, redaktionelle Entscheidungen oder Geschäftsentscheidungen zu treffen. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, Ratschläge und Einblicke in wichtige Fragen im Zusammenhang mit Desinformation in verschiedenen Bereichen zu geben.“
Doch wozu werden die „Ratschläge und Einblicke“ der Ex-Chefs von Nato und CIA sowie von diversen US-Regierungsexperten für PR überhaupt benötigt – wenn nicht dazu, deren politisch gefärbte Sicht auf Desinformation zum Standard der eigenen Ratings zu machen? Wozu sonst sollen sich Journalisten von PR-Experten der Regierung „helfen“ lassen?
Worum geht es eigentlich bei NewsGuard?
Die Liste der Berater, dazu die oben aufgeführten zahlreichen Interessenkonflikte des Unternehmens sowie schließlich die geschilderten schwerwiegenden Probleme bei den Bewertungskriterien lassen kaum einen anderen Schluss zu, als dass NewsGuard selbst ein Instrument politischer PR ist.
Den jungen und engagierten Mitarbeitern des Unternehmens sei nahegelegt, sich vielleicht einmal selbst die Frage zu stellen, warum die Geschäftsleitung einer Firma mit millionenschweren Investoren und internationalen politischen Schwergewichtern im Hintergrund die besonders heikle Aufgabe der Medienbewertung so gut wie ausschließlich wenig erfahrenen Nachwuchskräften anvertraut – und worum es bei dem Produkt „NewsGuard“ eigentlich geht.
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