Keine Experimente – Putin auf der Zielgeraden | Teil 2
ULRICH TEUSCH, 12. März 2020, 2 Kommentare, PDFTeil 1 des Artikels ist hier zu lesen.
Nehmen wir die Mainstream-Medien: Für sie ist Putin das glatte Gegenteil des lupenreinen Demokraten. Er ist der „starke Mann“, der Autokrat: machtbewusst, zynisch, gerissen, korrupt, unberechenbar, aggressiv, gefährlich. Obendrein werden ihm sagenhafte Kräfte und abseitige Interessen angedichtet.
So manipuliert er angeblich nicht nur sein eigenes Volk, sondern entscheidet Wahlen und Abstimmungen auf der ganzen Welt zu seinen Gunsten. Wo andere – etwa die Präsidentschaftsbewerber in den USA – Millionen und Milliarden in ihre Wahlkämpfe investieren, reichen Putin wenige gezielte Low-Budget-Interventionen (hier ein paar Facebook-Posts, dort ein wenig RT-Propaganda), um die Sache in seinem Sinne herumzureißen, also dem von ihm favorisierten Kandidaten zum Sieg zu verhelfen.
Wo und wie er diese geradezu fantastischen Kampagnen-Kompetenzen erworben hat, da doch in Russland, wie jeder Mainstream-Konsument weiß, noch nie wirklich freie Wahlen stattgefunden haben (außer natürlich 1996, als die USA Jelzin zum Sieg verhalfen), bleibt ein großes Geheimnis, das Ina Ruck, Alice Bota oder Richard Herzinger hoffentlich eines Tages lüften werden.
Der linke und der rechte Putin
Wer nicht der Mainstream-Linie folgt, favorisiert naturgemäß ein anderes Bild, wobei auffällig ist, dass sich Putin sowohl im rechten als auch im linken politischen Spektrum hoher Sympathiewerte erfreut. Bis zu einem gewissen Grad sehen beide Seiten in ihm „einen der ihren“:
Viele Rechte bewundern die starke Führungspersönlichkeit, sie schätzen das vergleichsweise autoritäre russische Regierungssystem, goutieren das Festhalten an der russischen „Souveränität“. Sie glauben bei Putin eine konservativ-christliche Grundhaltung zu erkennen, freuen sich über seine Bekenntnisse zu „traditionellen Werten“ und fühlen sich durch seine gelegentliche Kritik am westlichen Liberalismus und Multikulturalismus in ihrem Weltbild bestätigt.
Viele Linke sehen in Putin jemanden, der dem US-Empire die Stirn bietet, der sich dem militärischen Interventionismus und den diversen Regimewechsel-Abenteuern entgegenstellt und an einer multipolaren, anti-hegemonialen Weltordnung bastelt, auch und vor allem durch sein strategisches Bündnis mit China. Hoch angerechnet wird ihm, dass er die Ausplünderung seines Landes in der Jelzin-Ära beendet hat. Auch dass er sich gegenwärtig dem Geschichtsrevisionismus in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg entschieden widersetzt, findet große Anerkennung. Putins Medienoffensive gen Westen, die dem hiesigen Establishment so zu schaffen macht, wird ebenfalls positiv gewürdigt, bieten doch die russischen Medien – anders als die einheimischen – linken westlichen Gesellschaftskritikern immer wieder gerne ein Forum.
Wahrscheinlich enthalten alle kursierenden Putin-Bilder trotz ihrer Verzerrungen ein Quäntchen Wahrheit. Und jedes von ihnen findet in Putins Rede vor der Föderalen Versammlung sogar eine partielle Bestätigung.
Die Überraschung vom 10. März
Nach seiner Rede Mitte Januar und den darauffolgenden Entwicklungen konnte es keinem vernünftigen Zweifel mehr unterliegen, dass Putin das Präsidentenamt 2024 verlassen würde (und würde verlassen müssen). Am 10. März dann eine überraschende Wendung: In der Duma wurde von der bekannten und populären Abgeordneten Walentina Tereschkowa ein Vorschlag eingebracht und angenommen, der es ihm erlauben würde, 2024 abermals zu kandidieren und seine Präsidentschaft über die jetzige Amtszeit hinaus fortzusetzen (im Extremfall bis 2036!). Putin selbst zeigte sich von der Idee zwar nicht sonderlich angetan, doch das mag taktisches Geplänkel gewesen sein, ein abgekartetes Spiel, in dem seine Rolle darin bestand, sich noch eine Zeitlang zu zieren, bevor er sich dann doch „in die Pflicht nehmen lässt“.
Sollten die Ereignisse in der Duma tatsächlich eine vom Kreml zu verantwortende Inszenierung gewesen sein, wäre freilich schwer zu erklären, warum in den vergangenen sieben Wochen ein ganz anderer Eindruck erweckt wurde – nämlich der eines definitiven Endes der Amtszeit in vier Jahren. Zugegeben, sieben Wochen sind in der russischen Politik eine ziemlich lange Zeit – dennoch: Wenn Putin partout nicht abtreten will, hätte er beizeiten elegantere Möglichkeiten finden können, dies zu kommunizieren. Auch die Art und Weise, wie die Duma auf die Idee Frau Tereschkowas reagierte – offenbar unvorbereitet, konfus, paralysiert – spricht nicht zwingend dafür, dass hier etwas von langer Hand geplant und dann geschickt eingefädelt wurde. Es wäre interessant zu erfahren, ob in jüngster Zeit Dinge vorgefallen sind, die den überraschenden Sinneswandel im Kreml erklären können.
Gesetzt den Fall, die jetzt von der Duma beschlossene Regelung könnte alle Hürden problemlos überwinden – öffentliche Debatten, die Prüfung durchs Verfassungsgericht, das Referendum –, so hieße das noch lange nicht, dass Putin von der ihm eröffneten Möglichkeit in vier Jahren tatsächlich Gebrauch machen würde. Möglicherweise geht es bei dem Manöver ja auch lediglich darum, ihm und dem Land zumindest die Option als solche grundsätzlich offenzuhalten – etwa für den Fall einer großen Krise, die nach einer stabilisierenden Kraft verlangt, oder um einen möglicherweise starken und aussichtsreichen oppositionellen Präsidentschaftsbewerber abzuwehren, oder um zu verhindern, dass Putin in der Schlussphase seiner Amtszeit zur „lame duck“ degeneriert.
Wenn Putin 2024 nochmals antreten und die Wahl gewinnen sollte, wäre an seiner demokratischen Legitimation nicht zu zweifeln. Allerdings: Mit Buchstaben und Geist der Verfassung wäre eine weitere Amtszeit aus meiner Sicht unvereinbar – eine Fortsetzung der Präsidentschaft Putins über 2024 hinaus demzufolge ein extrem problematischer Vorgang und kein gutes Omen für die Zukunft Russlands.
Putins Rolle nach 2024 – einige Spekulationen
Wie auch immer: Fürs erste gehe ich davon aus, dass alles so laufen wird, wie es bisher zu laufen schien, dass also Putin 2024 – trotz der jetzt von der Duma eröffneten alternativen Möglichkeit – Abschied vom Präsidentenamt nehmen wird. Welche Rolle wird er nach dieser Zäsur spielen? Er selbst hat versichert, dass er kein anderes Amt als das des Staatspräsidenten übernehmen werde. Soll das bedeuten, dass er von der politischen Bildfläche verschwinden und sich aufs Altenteil zurückziehen wird? Würden die Bürger Russlands einen solchen Totalrückzug mehrheitlich begrüßen? Wäre er aus nicht-russischer Perspektive wünschenswert?
Politiker vom Format Putins sind auf dieser Welt dünn gesät. In seinen zwei Jahrzehnten an der Spitze des größten Flächenstaats der Erde hat er sich nach anfänglichen Unsicherheiten zu einem politischen Schwergewicht entwickelt, zu einem Staatsmann, der vielen seiner westlichen „Kollegen“ und „Partner“ (wie er sie gerne nennt) in beinahe jeder Hinsicht überlegen ist. Warum sollte man ohne Not auf ihn, auf seine politische Intelligenz, seine Bildung, sein Wissen, seine Erfahrung verzichten? Zudem ist Putin 67 Jahre alt, deutlich jünger als US-Präsident Trump (73) und dessen mögliche Herausforderer Biden (77) und Sanders (78).
Die eigentlichen politischen Machtzentren Russlands sind erstens die Präsidialverwaltung, zweitens der Sicherheitsrat (in dem der Präsident den Vorsitz führt) und drittens die „Silowiki“, die gerne auch etwas pauschal als Geheimdienstler bezeichnet werden, im weitesten Sinne für die Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols zuständig sind und häufig in den schwergewichtigen, mit äußerer und innerer Sicherheit befassten Ministerien anzutreffen sind.
Sollte die Ära Putin 2024 zu einem formellen Abschluss kommen, ist kaum anzunehmen, dass der Präsident a.D. eine offizielle Position in einer der genannten Einrichtungen übernehmen wird; sie wäre mit zu viel unmittelbarer Verantwortung verbunden und würde zudem dem Eindruck Vorschub leisten, dass seine Ära eben doch nicht zu Ende gegangen sei und der Ex-Präsident weiterhin die Fäden ziehe.
Trotz aller gegenwärtigen Dementis halte ich es für wahrscheinlich, dass Putin sich nicht in den politischen Ruhestand zurückziehen, sondern eine weniger zentrale Position anstreben wird, die ihm aber dennoch weiterhin einen gewissen Einfluss garantiert sowie die Möglichkeit, im Ernstfall zu intervenieren: also aus seiner Sicht ungute oder gefährliche Entscheidungen oder Entwicklungen zu verhindern, umzulenken oder abzuschwächen.
Worauf wird es ihm dabei inhaltlich ankommen? Kai Ehlers hat darauf eine präzise Antwort gegeben:
„Vermieden werden müssen aus Putins Sicht zwei mögliche Extreme. Das eine Extrem bestünde in der Ablösung Putins durch einen Nachfolger aus den Reihen der ‚Silowiki‘, der sich außenpolitisch aus der Rolle Russlands als Krisenmanager zurückzöge und innenpolitisch den labilen Konsens, insbesondere mit der nach sozialen Reformen und wirtschaftlicher Verbesserung verlangenden Bevölkerung, aufkündigte. Das andere wäre eine Schwächung des Zentrums mit daraus folgenden zentrifugalen ‚Diadochenkämpfen‘. Die könnten nicht nur den Zusammenhalt im Lande schwächen, in sie könnte auch von außen interveniert werden.“
Putin dürfte sich also von einem doppelten Interesse leiten lassen: Einerseits wird ihm daran gelegen sein, dass die von ihm vorgenommenen Weichenstellungen nach seinem Abgang nicht in Frage gestellt werden, das von ihm hinterlassene Erbe nicht verspielt wird. Andererseits wird er die von ihm geprägte Ära im Jahr 2024 als (erfolgreich) abgeschlossen betrachten und verhindern wollen, dass er für Fehler oder Versäumnisse seiner Nachfolger mit in Haft genommen wird und so nachträglich ein Schatten auf ihn und sein Wirken an der Staatsspitze fällt.
Putin im Staatsrat?
Vor diesem Hintergrund haben einige Beobachter – plausibel, wie ich finde – darüber spekuliert, dass sich Putin nach seiner Präsidentschaft im Staatsrat, möglicherweise als dessen Vorsitzender, betätigen wird. Der Staatsrat ist ein Gremium, das bislang beratende Funktion hatte und als Diskussionsforum fungierte, aber keine formalisierte Stellung im russischen politischen System einnahm; in ihm sitzen die Vorsitzenden der Parlamentskammern, die Gouverneure der Regionen, die Bevollmächtigten des Präsidenten in den föderalen Kreisen und die Fraktionschefs der Duma.
In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung hatte Putin angekündigt, den Staatsrat zukünftig ins Institutionengefüge einbinden zu wollen und seine Zuständigkeiten gesetzlich zu fixieren. Die Aufgaben des Staatsrats würden voraussichtlich darin bestehen, das reibungslose und produktive Zusammenspiel der staatlichen Organe zu gewährleisten und sich um die längerfristigen Zielsetzungen und Orientierungen der Innen- und Außenpolitik sowie der sozioökonomischen Entwicklung zu kümmern. Auffällig ist, dass die so definierten Funktionen des Staatsrats diejenigen des Präsidenten duplizieren beziehungsweise sich mit ihnen überschneiden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Konstellation das staatliche Handeln vereinheitlichen oder vielmehr für Reibungen und Konflikte sorgen wird.
Abschied von neoliberalen Dogmen?
Genug der Spekulation über die Person Putin und ihre Pläne – und zurück zur konkreten Politik! Der Publizist Mike Whitney hat sich mit Putins Ankündigung beschäftigt, zahlreiche Sozialleistungen verbessern sowie erhebliche Summen in „Nationale Projekte“ und Infrastrukturen investieren zu wollen. Ist das eine Abkehr von neoliberalen Gewissheiten, eine Rückkehr zu Keynes und zu einem aktiven Staat?
Es ist noch mehr, meint Whitney. Für ihn steht fest, „dass sich Putin vom westlichen Kapitalismus-Modell abwendet und in eine völlig andere Richtung steuert. Putin setzt nun auf die Stärkung von Sozialstaatsprogrammen, die Menschen aus der Armut helfen, ihren Lebensstandard heben und die wachsende soziale Kluft verringern“. Es gehe ihm darum, „die Öffentlichkeit vor der Brutalität der Marktkräfte und vor der ewig zermalmenden Austerität zu schützen“, ein System zu schaffen, um „den normalen Menschen zu helfen, nicht der Wall Street oder der globalen Bank-Mafia“.
Ist das glaubhaft? Immerhin, Putin bisheriger Wirtschaftsberater, der als ausgabenfreudig und interventionistisch geltende Andrei Beloussow, ist zum Ersten Stellvertreter des Premierministers befördert worden (Beloussows Wirken ist zudem eng mit den „Nationalen Projekten“ verbunden). Andererseits: Es sind – etwa im Finanzministerium oder in der Zentralbank – nach wie vor auch restriktiv orientierte Kräfte präsent.
Von daher erscheint mir Whitneys leicht euphorische Einschätzung fragwürdig, vielleicht ist sie auch ideologisch bedingt beziehungsweise von Wunschdenken geprägt. Zumindest darf man fragen, wie er dazu kommt, seine These mit derartiger Selbstsicherheit vorzutragen. Denn: Könnte es nicht auch eine profanere Erklärung für die Kurskorrektur geben?
Russland hat viele Jahre einer zurückhaltenden Ausgaben- und Finanzpolitik hinter sich. Die Inflationsbekämpfung ist so erfolgreich verlaufen, dass sie inzwischen sogar die Zielvorgaben übertrifft. Die Haushaltslage ist stabil, die Überschüsse sind beachtlich. Nach Jahren der Vorsorge, der Bildung von Rücklagen (auch durch das Auffüllen der Goldbestände), der Absicherung gegen mögliche und tatsächliche Attacken von außen (Sanktionen, Wirtschaftskriege), gegen Turbulenzen des Weltmarkts und Krisen des Kapitalismus – nach all dem wäre es doch durchaus vorstellbar, dass Putin und andere nunmehr zu der Auffassung gelangt sind, dass man eine Kurskorrektur angesichts der unbefriedigenden Konjunktur und des unübersehbaren Investitionsbedarfs nicht länger aufschieben dürfe. Und dass man sich diese Korrektur angesichts der umsichtigen Politik der vorangegangenen Jahre nun auch leisten könne.
Betrachtet man die Dinge aus diesem Blickwinkel, würde es sich bei der jetzt eingeleiteten Wende nicht um eine ideologisch gefärbte Entscheidung handeln, nicht um eine prinzipielle, programmatische Abgrenzung gegen die wirtschafts- und finanzpolitischen Orientierungen des Westens, sondern um eine Maßnahme, die dem Motto des chinesischen Reformers Deng Xiaoping folgt: „Es ist unwichtig, ob die Katze weiß oder schwarz ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse.“ Eine solche Deutung entspräche meines Erachtens auch eher dem politischen Naturell Putins, der nur ungern große Risiken eingeht und dessen Stärken im Krisen-Management und im pragmatischen Zugriff liegen.
Russisches Recht geht vor!
Noch eine weitere Ankündigung Putins hat das Wohlgefallen Whitneys gefunden und ihn zu einer gewagten Interpretation animiert. Putin will, dass die russische Rechtslage Vorrang vor internationalem Recht habe. Internationale Verpflichtungen sollen künftig in Russland nur dann Rechtswirkung entfalten können, wenn sie der russischen Gesetzgebung und der Verfassung des Landes nicht widersprechen. Auch bei diesem Vorhaben unterstellt Whitney dem russischen Präsidenten kapitalismuskritische Beweggründe; er präsentiert ihn als vehementen Gegner von globalistischen Handelsgesetzen, die dazu führen, dass Arbeitsplätze verloren gehen, dass Umweltbestimmungen unterlaufen, die Lebensmittelsicherheit gefährdet oder sogar elementare Menschenrechte durch kapitalistische Ausbeutung verletzt werden. Das wolle Putin den Russen ersparen.
Tatsächlich dürften hinter seinem Vorhaben jedoch ganz andere Motive stecken. Selbst russlandfreundliche Beobachter sind sich ziemlich einig, dass es hier nicht darum geht, die Auswüchse eines globalisierten Kapitalismus zu bekämpfen, sondern den Einfluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beschränken. Die in Aussicht genommene Regelung, so Reinhard Lauterbach,
„zielt auf die zahlreichen Klagen, die russische Oppositionspolitiker, Justiz- und Polizeiopfer regelmäßig vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg gegen die Regierung in Moskau erheben. Diesen Klagen gibt das Gericht in den meisten Fällen statt und verurteilt die Regierung zu Entschädigungszahlungen. Ein direkter Zwang, Politik oder Gesetzgebung zu ändern, folgt daraus nicht. Russland nennt diese Urteile trotzdem schon seit längerer Zeit ‚politisiert‘, und Putin will das Land nun dagegen abschotten.“
Avancen an die Zivilgesellschaft?
Mehrfach bemerkte Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung, dass sich in der russischen Gesellschaft ein starkes Bedürfnis gebildet habe, sich einzubringen, zu beteiligen, mitzutun. „Die russische Gesellschaft wird reifer, verantwortungsbewusster und anspruchsvoller.“ Dieses Potenzial dürfe nicht länger brach liegen, es müsse genutzt werden. Und weiter:
„Unsere Gesellschaft fordert eindeutig Veränderungen. Die Menschen wollen Entwicklung, und sie streben danach, in ihrer Karriere und ihrem Wissen, bei der Erzielung von Wohlstand voranzukommen, und sie sind bereit, Verantwortung für bestimmte Arbeiten zu übernehmen. Oft haben sie bessere Kenntnisse darüber, was, wie und wann dort, wo sie leben und arbeiten, also in Städten, Bezirken, Dörfern und im ganzen Land, verändert werden sollte. Das Tempo der Veränderungen muss jedes Jahr beschleunigt werden und zu greifbaren Ergebnissen bei der Erreichung eines würdigen Lebensstandards führen, der von den Menschen klar wahrgenommen wird. Und, ich wiederhole, sie müssen aktiv in diesen Prozess einbezogen werden.“
Es ist durchaus vorstellbar, dass Putin durch die jetzt stattfindende Verfassungsdiskussion auch die russische Zivilgesellschaft in seinem Sinne mobilisieren und für sich und seine Politik einnehmen will. Seit er seine Reformvorschläge verkündet hat, ist er jedenfalls häufiger vor normalen Bürgerversammlungen aufgetreten. Man kann seine eben zitierten Äußerungen als Ermutigung der Zivilgesellschaft deuten, als Einladung zu mehr politischer Partizipation.
Doch darf man sicher sein, dass sie auch wirklich so gemeint sind? Könnte es nicht sein, dass der Präsident hier gar nicht primär die politische Partizipation im Blick hat, sondern es ihm vielmehr darum geht, die kreativen Potentiale des Landes in den Dienst des ökonomischen Wachstums, des technischen Fortschritts, der Modernisierung zu stellen? Dass seine Avancen also eher dem Zweck dienen, die kreativen und gut ausgebildeten Menschen zu motivieren, sie im Land zu halten, ihre Abwanderung ins Ausland (mit besserer Bezahlung und größeren beruflichen Möglichkeiten) zu verhindern?
Mehr Demokratie? Mehr Liberalität?
Putin ist weder ein „lupenreiner Demokrat“, noch sträubt er sich grundsätzlich gegen „mehr Demokratie“. Jedoch, zwei andere Felder sind ihm wichtiger: Zum einen die innere und äußere Sicherheit sowie die Stabilität des Landes, zum anderen eine dynamische technisch-ökonomische Entwicklung und die mit ihr einhergehende Erhöhung von Lebensstandard und –qualität. Wenn diese beiden Primärziele mit mehr Demokratie kompatibel sind oder sogar mehr Demokratie erfordern – kein Problem! Wenn Putin die Ziele aber durch mehr Demokratie eher gefährdet sieht, stellt er sich quer.
Die jetzt vorgeschlagenen Änderungen und Ergänzungen der Verfassung haben mit einem Zuwachs an Demokratie – verstanden als demokratische Teilhabe, als Partizipation – oder auch nur mit einer politischen Liberalisierung nichts zu tun. Es würde an dieser Stelle zu weit führen (wäre auch ein wenig langatmig), die sich abzeichnenden Neuregelungen im Einzelnen zu mustern und zu bewerten. Daher will ich die Quintessenz festhalten:
Welche der drei Gewalten (Exekutive, Legislative, Judikative) man auch betrachtet, welche der politischen und administrativen Ebenen (Bund, Region, Kommune) man in den Blick nimmt oder welche der verschiedenen Institutionen (Präsidialverwaltung, Regierung und Ministerien, Duma, Föderationsrat, Staatsrat, Gerichtssystem, Staatsanwaltschaften) – immer hat man den Eindruck eines Gebens und Nehmens. An der einen Stelle gewinnt eine Institution ein wenig an Unabhängigkeit, an der anderen verliert sie ein wenig, hier werden ihre Kompetenzen und Rechte ein wenig ausgeweitet, dort ein wenig beschnitten, hier wird die zentrale Kontrolle gelockert, dort wird sie verstärkt. In manchen Fällen handelt es sich nicht einmal um echte neue Befugnisse, sondern nur um neue Rollen (etwa für den Föderationsrat).
Wir erleben also gerade vorsichtige Gewichtsverlagerungen im Institutionengefüge, eine Neujustierung der checks and balances. Durch einige zusätzliche Verschränkungen zwischen den Institutionen wird sich das politische Spiel etwas komplexer gestalten, der Abstimmungsbedarf sich erhöhen. Und vermutlich dürften durch die wechselseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen etwaige Alleingänge oder institutionelle Verselbständigungen unwahrscheinlicher werden.
Sollte Putins Nachfolger sich als starker Präsident entpuppen, würden sich autokratische oder usurpatorische Neigungen durch die neuen Regelungen leichter unterbinden lassen; sollte er sich hingegen als schwacher Präsident erweisen, könnte das modifizierte Institutionengefüge leichter für einen Ausgleich dieses Defizits sorgen, indem es die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt.
Also: Es geht nicht um mehr Demokratie, sondern um effektives und effizientes politisches Management, um Machtkontrolle, vor allem um die Sicherung politischer Kontinuität. Letztere ist insbesondere im Übergangsprozess von einem derart dominanten Präsidenten wie Putin zu seinem noch unbekannten (und womöglich schwächeren) Nachfolger ein schwieriges und riskantes Unterfangen.
Der Anti-Revolutionär
Das 20. Jahrhundert war für Russland eine Epoche der Revolutionen von unten und von oben, eine Zeit der Kriege, der Katastrophen und Krisen. Die politische, ökonomische und soziale Stabilisierung des Landes seit dem Jahr 2000 ist zweifellos eine große Leistung, an der Putin maßgeblichen Anteil hatte (und hat) und die vor allem mit seinem Namen verbunden ist.
Putin ist ein Anti-Revolutionär und Stabilitätsanker. Es ist ihm immer wieder gelungen, einen relativ breiten Konsens innerhalb der russischen Elite herzustellen, die verschiedenen Strömungen (von rechts bis links, von weltoffen bis nationalistisch, von europäisch-atlantisch bis eurasisch, vom Zentrum bis in die Regionen et cetera) sowie die verschiedenen Machtgruppierungen in Politik, Ökonomie, Bürokratie, Militär oder Geheimdiensten auszubalancieren, zudem die kulturelle, ethnische, religiöse Vielfalt des Landes zu respektieren. Er ließ die Interessen und Wünsche vieler Akteure in die Entscheidungsprozesse einfließen und berücksichtigte sie, erlaubte aber keiner Strömung oder Gruppe einen übermäßig privilegierten Zugriff. Niemand musste sich ausgeschlossen fühlen – und niemand konnte über die anderen dominieren.
Die Veränderungen an der Verfassung, aber auch die übrigen Reformen sollen zum einen die prinzipielle Fortsetzung dieses Erfolgsmodells (auch ohne seinen Erfinder und bisherigen Manager) garantieren, zum anderen einer Verkrustung des Modells vorbeugen.
Innere und äußere Souveränität
Warum lassen die nachhaltige Demokratisierung und Liberalisierung des russischen politischen Systems auf sich warten? Will man diese Frage beantworten, stößt man früher oder später auf das Konzept der staatlichen Souveränität. Souveränität ist ein zentrales Anliegen der russischen Politik. Das wird auch zukünftig so bleiben – ob mit oder ohne Putin. Auch wenn Souveränität ein zweidimensionales Konzept ist, man also die innere Souveränität von der äußeren Souveränität unterscheiden kann, handelt es sich doch im Grunde um zwei Seiten einer Medaille. Innere Souveränität ist ohne äußere nicht zu haben – und umgekehrt.
Nun hatte Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung außenpolitische beziehungsweise internationale Fragen fast ganz ausgeklammert. Dennoch waren sie natürlich unausgesprochen präsent. Zudem hatte er in den vergangenen Jahren mehrfach programmatische Reden zur internationalen Politik gehalten, in denen er seine Sicht der Dinge deutlich herausarbeitete. Ich will abschließend kurz auf dieses Thema eingehen, weil sich hier, wie ich glaube, der Schlüssel zur Erklärung der inneren Entwicklung Russlands findet.
Man kann Putins Sicht auf die internationale Politik als „weichen Realismus“ bezeichnen – im Unterschied zu einem „harten Realismus“. Ein harter Realismus begreift das internationale System primär als eine anarchische Staatenwelt – anarchisch insofern, als es oberhalb der Staaten keine Instanz gibt, die diesen gegenüber weisungsbefugt wäre (zum Beispiel eine Weltregierung). Innerhalb dieses Systems sind die Staaten letztlich auf sich selbst angewiesen.
Sie kümmern sich um ihre Sicherheit und verfolgen ihre nationalen Interessen, dies oft auf Kosten anderer Staaten. Sie akkumulieren Macht, von der sich andere Staaten bedroht fühlen und also Gegenmacht bilden. Sie streben nach Hegemonie, während andere Staaten versuchen, das Gleichgewicht zu erhalten oder wieder herzustellen. Sie rüsten auf, andere Staaten rüsten nach. Immer wieder versuchen Staaten, ihre Interessengegensätze durch Krieg zu lösen. Kriegs- und Friedenszustände gehören im internationalen System zum Lauf der Dinge.
Vergegenwärtigt man sich Putins programmatische Äußerungen zur internationalen Politik, dann zeigt sich, dass er all die gerade erwähnten Mechanismen zwar in Rechnung stellt, aber einen vergleichsweise weichen Realismus vertritt. Was heißt das genau?
Staatensystem und Staatengesellschaft
In der Politikwissenschaft kennt man die Unterscheidung zwischen „Staatensystem“ und „Staatengesellschaft“. Putin (und viele andere russische Außenpolitiker) sind Anhänger des Konzepts einer „Staatengesellschaft“.
Die Staatengesellschaft hat sich über mehrere Jahrhunderte aus dem Staatensystem heraus entwickelt. Anders als ein bloßes Staatensystem basiert die Staatengesellschaft auf gemeinsamen Werten und Prinzipien, die zunächst übernationale, schließlich globale Anerkennung gefunden haben (zum Beispiel in Gestalt von Menschenrechts-Deklarationen). Die Staatengesellschaft hat ein immer umfassenderes und differenzierteres Völkerrecht herausgebildet, eine Vielzahl internationaler Institutionen und Organisationen geschaffen, Verträge geschlossen und Vertragstreue bewiesen, ein System der Diplomatie etabliert, zahlreiche Mechanismen der Konfliktregulierung erdacht und erprobt. Auch wenn die Staatengesellschaft weiterhin prinzipiell unter anarchischen Bedingungen existiert, ist es ihr doch gelungen, sich selbst zu organisieren, positive Entwicklungen in Gang zu setzen und diese zu sichern. Die Staatengesellschaft ist gegenüber einem bloßen Staatensystem ein manifester Fortschritt.
Diesen Fortschritt sehen Putin und die aktuelle russische Außenpolitik durch die unilateralen, global-hegemonialen Bestrebungen der USA und des Westens, durch die ständigen Völkerrechtsbrüche und Destabilisierungsversuche, durch die Erosion und Zerstörung internationaler Organisationen und Verträge im Kern bedroht. Der russischen Politik liegt daran, die Staatengesellschaft zu restaurieren und ihren Regeln wieder Geltung zu verschaffen.
Auch wenn dies die Artikulation geopolitischer Interessen, Rüstungsanstrengungen oder Militäreinsätze nicht ausschließt, ist Russlands Außenpolitik alles in allem nicht aggressiv, destabilisierend, unberechenbar oder bedrohlich. Eher ist das Gegenteil der Fall: Russland braucht eine intakte Staatengesellschaft, es will und braucht friedliche, stabile, zuverlässig kalkulierbare, anti-hegemoniale, multipolare Verhältnisse, um seine inneren Ziele erreichen zu können. Unter Bedingungen der Unsicherheit und Bedrohung kann sich das Land nur schlecht entwickeln und kaum prosperieren.
Und soll sich Russland weiter öffnen, liberalisieren und demokratisieren, ist Druck (gar Regimewechseldruck) von außen ebenso wenig förderlich. Hätte der Westen ein aufrichtiges Interesse an einer gedeihlichen Entwicklung in Russland, würde er ganz anders agieren und eine konziliante Politik der Kooperation und des Dialogs verfolgen. Stattdessen lässt er keine Gelegenheit aus, dem Land Schwierigkeiten zu bereiten. Er betreibt eine Politik, die Russland notwendig als Bedrohung deuten muss. Solange sich daran nichts ändert, solange der internationale Spannungszustand also bestehen bleibt oder sich gar steigert, werden Demokratisierung und rückhaltlose Öffnung nicht oben auf der russischen Agenda stehen. Weder jetzt – noch in der Ära nach Putin.
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