„Ich habe kein Vertrauen mehr in die Polizei“
PAUL KOMMOD, 29. August 2022, 2 Kommentare, PDFMaskenbefreiungsatteste waren in den Corona-Verordnungen der Bundesländer zwar ausdrücklich vorgesehen. Aber in der Realität wurden viele Ärzte und Patienten verdächtigt, angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt, weil sie solche Atteste ausgestellt oder vorgezeigt hatten. Der Vorwurf lautete „Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse“ nach §279 Strafgesetzbuch (StGB). Im Folgenden zeigen drei Fälle aus Hannover exemplarisch, was Bürger mit den Behörden erlebten. Keine der drei Personen war vorher strafrechtlich in Erscheinung getreten.
Fall 1: Hausdurchsuchung bei einer Schwangeren
Tatjana Bosche organisiert seit Beginn der Coronakrise Demonstrationen. Dabei wird sie mehrfach von der Polizei aufgefordert, ihr Maskenattest zu zeigen. Sie kommt diesen Aufforderungen nach. Das Attest stammt von einer bekannten Maßnahmenkritikerin und wurde nach Untersuchung und Befundung ausgestellt.
Im Juni 2022 klingelt es eines Freitagsmorgens um 7 Uhr an ihrer Tür. Die Familie mit zwei kleinen Kindern schläft noch, Tatjana Bosche ist im achten Monat schwanger. Vor der Tür stehen acht bewaffnete Polizisten in Schutzwesten mit einem Durchsuchungsbeschluss. Das Attest soll eingezogen werden, es stehe im Verdacht gefälscht zu sein. Es hatte vorher keinen Schriftwechsel mit den Behörden gegeben.
Tatjana Bosche informiert die Polizisten an der Tür, dass sie das Attest verloren habe und jetzt ein neues von einem anderen Arzt besitze. Die Beamten wollen die Wohnung trotzdem durchsuchen. Die junge Mutter fragt, ob dies angesichts der Anwesenheit ihrer Kinder nötig sei. Die Einsatzleiterin besteht darauf. Die Polizisten verhalten sich gemäß Protokoll, sagt sie und wenn Tatjana Bosche sie nicht in die Wohnung ließe, würden sie sich Einlass verschaffen.
Die Schwangere bittet darum, nach oben in ihr Schlafzimmer gehen zu dürfen, um sich den Schlafanzug auszuziehen. Es wird ihr gestattet, sie muss aber die Tür offen lassen. Nach weniger als einer Minute rufen die Polizisten, sie müsse jetzt wieder erscheinen. Die Durchsuchung beginnt. Tatjana Bosche darf keinen Raum allein betreten, sie wird von einem Polizeibeamten bewacht.
Die Beamten räumen im Wohnzimmer alle Schränke und Regale aus, durchwühlen jede Schublade und lassen alles liegen. Sie stoßen auf Bücher über den Zweiten Weltkrieg und beginnen, eine Liste der Buchtitel anzufertigen. Tatjana Bosche protestiert vergeblich.
Als sie mit der unteren Etage fertig sind, möchten die Beamten die obere Etage durchsuchen, in der die Kinder und Tatjana Bosches Partner schlafen. Sie versichert, das verlorene Attest befinde sich auch dort nicht und außerdem schliefen die Kinder noch. Die Einsatzleiterin sagt, man werde sich beeilen und die Kinder nicht wecken. Tatsächlich werfen die Beamten nur einen Blick ins Kinderzimmer, möchten aber im Elternschlafzimmer den Computer überprüfen. Die Mutter verhindert es mit dem Hinweis, es handele sich um ihren Arbeitscomputer, auf dem sich nichts Privates befinde.
Nun wacht ihr Partner auf und fragt, was los sei. Als es ihm erklärt wird, bestätigt er, dass das Attest verloren gegangen sei. Die Einsatzleiterin möchte nun das neue Attest sehen und mitnehmen. Tatjana Bosche widerspricht, denn der Durchsuchungsbeschluss beziehe sich nur auf das vorherige Attest. Außerdem brauche sie das aktuelle Attest für den täglichen Einkauf.
Als Lösung bietet die Einsatzleiterin an, der jeweilige Supermarktbetreiber könne sie ja anrufen und sie würde das Vorhandensein eines Attestes dann bestätigen. Zu diesem Zweck möchte sie ihre Visitenkarte dalassen. Tatjana Bosche lehnt die Herausgabe weiterhin ab. Nun telefoniert die Einsatzleiterin mit der Staatsanwaltschaft, die bestätigt, dass sie das neue Attest nicht einziehen darf. Die Einsatzleiterin fordert Tatjana auf, ihr eine Kopie des neuen Attestes auszuhändigen, denn das würde ihrem Fall „sehr helfen“. Tatjana fertigt eine Kopie an.
Kurze Zeit später informiert sie ein Bescheid über die Einstellung des Verfahrens.
„Ich habe mich bei meinen Begegnungen mit der Polizei missverstanden und ungerecht behandelt gefühlt“, erklärt Tatjana Bosche gegenüber Multipolar. „Ich habe mich bei den Demos an alle Auflagen gehalten, aber sie haben immer nach etwas gesucht, womit sie mich angreifen können.“ Sie erhielt unter anderem einen Strafbefehl über 4000 Euro wegen einer bei einer Demonstration getätigten Aussage.
Während der Hausdurchsuchung habe sie sich sehr aufgeregt, berichtet die junge Frau weiter. Irgendwann habe ein Polizist zu ihr gesagt: „Es reicht, Frau Bosche, auch Schwangere müssen sich ans Gesetz halten“. Die Hausdurchsuchung hat Spuren bei Tatjana Bosche hinterlassen.
„Heute früh klingelte es um 7 Uhr an meiner Tür, es war nur meine Mutter, aber ich bin mit Herzrasen aufgeschreckt, weil ich dachte, es sei wieder die Polizei. Ich möchte nichts mehr mit Polizei und Behörden zu tun haben, habe keinerlei Vertrauen mehr, dass sie zu unserem Schutz hier sind oder Recht und Gerechtigkeit durchsetzen.“
Die zuständige Polizeidirektion lehnte eine Antwort auf die Multipolar-Presseanfrage zu dem Vorgang aus „datenschutzrechtlichen Gründen“ ab.
Fall 2: Strafbefehl wegen Attest, Bußgeld ohne Attest
Im Herbst 2020 besucht Beate Krüger (Name geändert, die Identität ist der Redaktion bekannt) zwei Demonstrationen in Hannover. In der Innenstadt gilt die Maskenpflicht auch an der fischen Luft. Die Polizei fordert die Demonstranten auf, Maskenbefreiungsatteste beim Einsatzwagen vorzuzeigen. Beate Krügers Attest, von ihrem Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie ausgestellt, wird zusammen mit dem Personalausweis von der Polizei für rund zehn Minuten mit in den Einsatzwagen genommen.
Anfang 2021 ist Beate Krüger erneut auf dem Weg zu einer Demonstration – diesmal in Begleitung einer prominenten Maßnahmenkritikerin. Das Demonstrationsgelände ist mit Polizeiwagen so weiträumig abgeriegelt, dass Teilnehmer einen langen Umweg dorthin zurücklegen müssen. Drei Polizisten erkennen die bekannte Kritikerin und umzingeln sie. Beate Krüger entfernt sich, wird aber ebenfalls umzingelt. Die Polizisten verlangen ein Maskenattest. Diesmal verweigert Beate Krüger die Herausgabe, zeigt aber ihren Personalausweis. Drei Monate später erhält sie einen Bußgeldbescheid. Die Ordnungswidrigkeit: Maskenlose Teilnahme an einer Demonstration ohne Attest.
Viele Monate verstreichen. Im Dezember 2021 erhält Beate Krüger einen Strafbefehl. Die Anschuldigung: Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse bei den zwei Demonstrationen im Herbst 2020. Die Geldstrafe liegt bei rund 2500 Euro, alternativ droht eine Gefängnisstrafe von mehreren Wochen. Beate Krüger kontaktiert ihren Anwalt. Es kommt zum Prozess.
Anfang 2022 gilt im Gerichtssaal 3G und Maskenpflicht. Beate zeigt am Haupteingang ihr Maskenattest und ihren PCR-Test vor und darf das Gebäude betreten. Hinter dem Eingang wird sie von einem Mitarbeiter abgefangen und zum Gerichtssaal begleitet. Maskierte Prozessteilnehmer dürfen unbegleitet durch das Gebäude gehen.
Beim Betreten des Saales erblickt der Richter einen maskenlosen Prozessbeobachter und empört sich. Der junge Mann möchte sein Attest vorzeigen, wird aber mit den Worten: „Das interessiert mich nicht!“ vom Richter aus dem Saal geworfen.
Beate Krüger muss dem Richter ihr Attest aushändigen. Dieser übergibt es dem Staatsanwalt, der feststellt, es sei veraltet. Dennoch lässt er es fotokopieren. Im Zuge der Verhandlung droht der Richter mehrfach damit, das Attest einzuziehen. Letztendlich tut er es nicht, sondern stellt fest, der Prozess werde ohnehin in einer Verurteilung münden, wogegen Beate Krüger in Berufung gehen werde. Man werde sich also wiedersehen.
Ihr Anwalt stellt daraufhin einen Befangenheitsantrag gegen den Richter. Die Verhandlung wird unterbrochen. Die bei Gericht für Befangenheitsanträge zuständige Person ist nicht auffindbar, die Verhandlung wird vertagt und die Zeugen, mehrere Polizisten sowie Beate Krügers Psychiater, werden ungehört entlassen.
Beim nächsten Gerichtstermin im Frühjahr 2022 gilt im Gericht keine Maskenpflicht mehr. Beate Krüger darf nun unbegleitet zum Gerichtssaal gehen. Der gleiche Richter führt den Vorsitz. Eine Befangenheit wurde anscheinend nicht festgestellt. Anwesend ist erneut der Psychiater, in Begleitung seiner Anwältin. Er hat in der Zwischenzeit selbst einen Strafbefehl erhalten. Das Vergehen: Ausstellen eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses „aus ideologischen Gründen“.
Als Zeugen geladen sind außerdem erneut mehrere Polizisten. Erwartet wird weiterhin ein vom Staatsanwalt bestellter Gutachter, der dem Gericht Beate Krügers psychischen Zustand darlegen soll. Richter, Staatsanwalt, Protokollant und sämtliche Polizisten tragen FFP2-Masken.
Der Staatsanwalt fragt Beate Krüger, warum sie von ihrem alten Psychiater zum jetzigen gewechselt sei. Auf die Aussage, das Wartezimmer beim vorherigen sei immer sehr voll gewesen und die Wartezeit lang, fragt er, warum sie an Demonstrationen teilnehmen könne wenn schon ein volles Wartezimmer sie überfordere.
Der geladene Gutachter erscheint nicht. Beate Krügers Anwalt argumentiert, dessen Aussage sei nicht erforderlich. Der Staatsanwalt widerspricht. Die Verhandlung wird erneut vertagt, diesmal auf den Herbst.
Bevor es zu diesem dritten Gerichtstermin kommt, klingelt es im Mai 2022 um 7.15 Uhr morgens an Beate Krügers Tür. Sie ist dabei aufzustehen, als bereits an die Tür gehämmert wird. Draußen stehen sieben Polizisten, teils in Uniform und bewaffnet, teils in Zivil. Alle tragen FFP2-Masken und Handschuhe. Sie zeigen einen Durchsuchungsbeschluss für Wohnung, Keller und Auto. Gesucht wird das Maskenattest.
Im Durchsuchungsbeschluss steht, es gebe „kein milderes Mittel“ für die Sicherstellung des Attestes. Datiert ist der Beschluss auf wenige Tage nach dem ersten Gerichtstermin, bei dem das Attest fotokopiert aber nicht eingezogen worden war. Beate Krüger händigt das Attest aus und muss nunmehr in ihrem Alltag darauf verzichten.
Kurz darauf erhält sie den Bescheid über die Einstellung des Verfahrens. Zahlen muss sie trotzdem: 300 Euro an eine vom Gericht festgelegte Wohltätigkeitsorganisation.
„Ich habe es nie für möglich gehalten, dass Menschen in diesem Staat so ausgegrenzt, erniedrigt und kriminalisiert werden könnten aufgrund einer Erkrankung und weil man nicht im Gleichschritt mitgeht“, sagt Beate Krüger im Gespräch mit Multipolar. Für die Polizei, die sich zum Gehilfen dieses Staates mache, habe die Frau nur noch Verachtung übrig.
„Der Richter und der Staatsanwalt in meinem Prozess haben mich gezwungen, mein ganzes Leben vor ihnen auszubreiten – wegen eines Attestes.“
Wenn man der Polizei sein Attest nicht vorzeige, müsse man „nur“ ein Bußgeld zahlen, so Beate Krügers Erfahrung. Wenn man es hingegen ordnungsgemäß zeige, lande man vor Gericht. Sie vermutet, es liege daran, dass ihr Arzt bei den „Ärzten für Aufklärung“ (ÄfA) aktiv sei. Diese Mediziner und ihre Patienten würden von den Behörden massiv verfolgt, erläutert Beate Krüger. Menschen mit Maskenbefreiung aus ihrem Bekanntenkreis, deren Ärzte nicht bei den ÄfA sind, passiere nichts, wenn sie ihre Atteste zeigten.
„Viele sagen, woanders ist es noch schlimmer, aber das tröstet mich nicht. Ich bin wütend und verzweifelt und ich habe Angst vor dem, was im Herbst und danach noch kommt.“
Eine Presseanfrage wurde im Fall Beate Krüger nicht gestellt, um ihre Identität zu schützen. Ihr stehen weitere Gerichtsprozesse bevor.
Fall 3: Verurteilung trotz Kurzatmigkeit
Carlo Westphal wird im Juli 2020 und im April 2021 bei Demonstrationen von der Polizei aufgefordert, sein Maskenbefreiungsattest zu zeigen. Bei Versammlungen im Freien gilt die Maskenpflicht. Sein erstes Attest (Juli 2020) enthält gemäß den damals geltenden Bestimmungen keine Diagnose. Im zweiten Attest (April 2021) steht, die Diagnose könne in der Arztpraxis eingesehen werden. Die Polizei zieht die Atteste ein.
Im Juli 2021 wird Carlo ein Strafbefehl zugestellt. Die Anschuldigung: Er habe bei beiden Demonstrationen die „Behörde über seinen Gesundheitszustand getäuscht“. Der Tatvorwurf im Wortlaut:
„[Sie] wussten, dass der Ausstellung des Attestes keine Untersuchung und ordnungsgemäße Befundung zugrunde lag und das Attest aus rein ideologischen Gründen ausgestellt worden war und bei Ihnen keine schwerwiegende Erkrankung vorlag, die eine Befreiung von der Maskenpflicht rechtfertigen konnte und verwendeten das Attest auch in Kenntnis dieser Sachlage, um den Eindruck einer ordnungsgemäßen Befreiung zu erwecken.“
Die Geldstrafe beträgt 2200 Euro, alternativ drohen 55 Tage Haft. Die Verfahrenskosten habe er zu tragen. Carlo Westphals Anwalt teilt ihm nach einem kurzen Schriftwechsel mit dem Gericht mit, die Richterin sei bereit, das Verfahren gegen eine Zahlung von 1000 Euro einzustellen. Der Angeklagte lehnt ab, er ist von seiner Unschuld überzeugt.
Im Gerichtssaal darf Carlo Westphal ohne Maske nicht neben seinem Anwalt sitzen, sondern muss im Zuschauerraum neben dem offenen Fenster Platz nehmen. Es ist Februar. Carlo Westphal friert. Sein neues Maskenattest, ausgestellt von einem HNO-Arzt, nimmt Richterin Schlenker mit den Worten entgegen: „Mal sehen, ob das echt ist.“
Carlo Westphal lässt durch seinen Anwalt Folgendes erklären: Als Folge wiederholter häuslicher Gewalt in der Kindheit leide er seit vielen Jahren bei Aufregung unter Atemnot, ausgelöst durch eine Lähmung der Stimmbänder. Er habe dies 1996 diagnostizieren lassen und es sei auf die Kindheitserfahrungen zurückgeführt worden. Alle Behandlungsversuche, zuletzt vor zwölf Jahren, seien gescheitert. Im Jahr 1998 sei zudem eine Kurzatmigkeit diagnostiziert worden. Stress verursache bei ihm Atemnot. Diese Probleme seien chronisch.
Das erste Maskenattest (ohne Diagnose) habe auf einem Gespräch mit der ausstellenden Ärztin am Rande einer Demonstration beruht, bei dem er seine medizinischen Unterlagen gezeigt und seine Beschwerden geschildert habe. Er habe die Ärztin angesprochen, weil ein anderer Arzt ein Attest mit der Aussage verweigert habe, er stelle grundsätzlich keine Maskenatteste aus. Carlo Westphal sei aber im Alltag auf ein Attest angewiesen.
Die Ärztin habe die Unterlagen fotografiert und ihm ein Attest ausgestellt. Nach Verschärfung der Regelungen habe er sie erneut kontaktiert, um eine konkrete Diagnose zu erhalten. Da man sich damals jederzeit bei Verdacht auf Corona telefonisch, also ohne Untersuchung, von einem Arzt krankschreiben lassen konnte, habe er keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Vorgehensweise und der Atteste gehabt.
Das Gericht stellt fest, in der Arztpraxis seien keine Untersuchungsunterlagen gefunden worden. Carlo Westphal hat die Unterlagen dabei und möchte sie dem Gericht zeigen, doch Richterin Schlenker lehnt ab.
Staatsanwältin Streufert fragt, warum Carlo Westphal seit Feststellung der Atembeschwerden nicht laufend in Behandlung gewesen sei. Der Mann wiederholt, das Problem sei nach Aussage der Ärzte chronisch und nicht behandelbar. Richterin Schlenker fragt, wie es sein könne, dass er trotz der körperlichen Einschränkung einer Arbeit nachgehe. Die Einschränkung erschwere seine Berufsausübung (das Auflösen von Wohnungen) zwar, mache sie aber nicht unmöglich, antwortet Carlo Westphal.
Polizeikommissar (PK) Weiß sagt folgendermaßen aus (Zitate inklusive der Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler entstammen dem Gerichtsprotokoll): Westphal habe „keinen Kurzatmigen Eindruck gemacht“ und nicht ausgesehen „als ob er eine Erkrankung hätte“, sein Attest habe ausgesehen „wie eine Vorlage die man selber ausfüllen kann“. Weiterhin, so PK Weiß, habe der Angeklagte „Verschwörungstheorien abgegeben“.
Carlo Westphal berichtet, die Richterin sei ihm durchaus verständnisvoll erschienen, als er seine körperlichen Beschwerden beschrieb. Umso erstaunter ist er, als er am 9. März seine Verurteilung wegen des „Gebrauchs falscher Gesundheitszeugnisse in zwei Fällen“ per Post erhält. Die Strafe lautet 55 Tagessätzen zu je 15 Euro. Den ursprünglichen Tagessatz hat das Gericht verringert, da Carlo Westphal sich aufgrund der Corona-Maßnahmen mittlerweile in einer prekären finanziellen Lage befindet. Die Kosten des Verfahrens muss er trotzdem tragen.
Das siebenseitige Urteil zitiert den Tatvorwurf aus dem ursprünglichen Strafbefehl wortwörtlich (siehe Zitat oben). Als Begründung für die Verurteilung werden unter anderem die Aussagen von PK Weiß genannt sowie „Ergebnisse der Durchsuchung bei der gesondert verfolgten Ärztin“ und die „Verlesung aus der medialen Berichterstattung“ über diese Ärztin.
Die Richterin bemängelt wiederholt, dass keine ausreichende Untersuchung des Patienten stattgefunden habe. Die „Untersuchung des Halses und ein Abhorchen der Lunge“ seien mindestens erforderlich gewesen, denn eine Maskenbefreiung komme nur „bei schwerstkranken Patienten und auch nur nach erheblicher Diagnostik und veranlasster Behandlung“ in Betracht. Dies hätten die Ärztin und der Angeklagte gewusst, weshalb Letzterer sich „vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft“ und „in der Absicht der Täuschung“ verhalten habe, als er die Maskenatteste vorzeigte. Beide hätten aus „übereinstimmender ideologischer Gesinnung“ gehandelt, nicht aufgrund einer „zwingenden medizinischen Indikation“. Gleichzeitig beteuert Richterin Schlenker, das Gericht maße sich keinerlei medizinisches Urteil an.
Carlo Westphal sei in der Lage, Demonstrationen zu besuchen, körperlich zu arbeiten und sogar beim Aufbau der Anlagen bei Protesten zu helfen, so das Urteil weiter. Dies „passe nicht zu dem Umstand einer ernsthaften Kurzatmigkeit“. Es sei Carlo Westphal einfach „subjektiv unlieb [...] zum Schutz aller eine Maske zu tragen“. Seine Aussage, er sei von der Richtigkeit der Atteste ausgegangen, sei eine „bloße Schutzbehauptung“. Er hätte sich problemlos in medizinische Behandlung begeben können, sofern „die Folgen des Maskentragens für ihn tatsächlich unerträglich gewesen seien“.
Carlo Westphal geht in Berufung. Es mache ihn betroffen, wenn er einer Ärztin medizinische Unterlagen zeige und dann von den Behörden gesagt bekomme, das zähle nicht und man glaube ihm nicht, dass er eine Erkrankung habe. „Das ist eine ignorante Bevormundung“, kritisiert er im Gespräch mit Multipolar.
„Bei Gericht wurde mir gesagt, man merke mir meine Atemnot an und im Urteil steht dann das Gegenteil. Es wird den Menschen, die wirklich unter der Maske leiden, unglaublich schwer gemacht. Ich hatte hohe Kosten wegen des Prozesses und ich hatte auch wirklich Angst. So etwas kann existenzbedrohend sein, vor allem, wenn eine Haftstrafe im Raum steht.“
Die Behörden verängstigten die Menschen und hielten sie so davon ab, zu protestieren.
Eine Multipolar-Anfrage an das Gericht unter anderem zur behördlichen Definition einer „ideologischen Gesinnung“, zur Frage, inwieweit die Presseberichterstattung über eine Ärztin als Beweis für deren Gesinnung taugt sowie zum Kenntnisstand der Richterin über die Studienlage zur Wirksamkeit von Masken im Freien blieb unbeantwortet.
Andere Stimmen aus Polizei und Justiz
In einem wahrscheinlich richtungweisenden aktuellen Urteil hat das Bayerische Oberste Landesgericht im Juli 2022 eine Frau vom Verdacht freigesprochen, ein unrichtiges Gesundheitszeugnis gebraucht zu haben, obwohl dem Attest keine ärztliche Untersuchung vorangegangen war. Maßgeblich, so das Gericht, sei allein die Tatsache, dass die geschilderten Symptome tatsächlich vorlagen. Dies wurde im vorliegenden Fall von einem Arzt attestiert, der das Attest selbst nicht ausgestellt hatte.
In etwa zeitgleich erhielt eine Ärztin vom Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen eine zweijährige Haftstrafe ohne Bewährung und ein dreijähriges Berufsverbot wegen des Ausstellens von Maskenattesten.
In einem Interview mit dem Magazin „Vier“ vom 17. August 2022 berichtet ein Berliner Polizist, dass seine Kollegen bei mindestens einer Demonstration in Berlin „zahlreiche Gesundheitszeugnisse willkürlich als Fälschungen oder Gefälligkeitsatteste“ einstuften. Der Polizeiführer habe wohl angeordnet, Atteste „mit der noch so abwegigsten Begründung einzuziehen“, vermutet der interviewte Polizist. Tausende von Verfahren wegen des Gebrauchs „unrichtiger Gesundheitszeugnisse“ sind in Deutschland weiterhin anhängig.
Zum Autor: Der Name ist ein Pseudonym. Der Autor lebt und arbeitet in Hannover.
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