Offener Brief eines Polizisten: „Ich bin erschüttert über den Zustand unserer Polizei“
SEBASTIAN GRAU, 3. März 2022, 5 Kommentare, PDFIch bin seit über 25 Jahren bei einer Landespolizei im Einsatz und seit längerem in der sogenannten mittleren Führungsebene beheimatet. Die letzten beiden Jahre sind die bisher schwierigsten meiner Berufslaufbahn, da ich – nach einer gewissen Zeit der Unsicherheit und persönlichen Meinungsbildung durch Eigenrecherche – noch nie so wenig hinter dem Inhalt meiner Arbeit gestanden habe wie derzeit, wenn es um das Thema „Pandemiebekämpfung“ geht. Intern habe ich mit Anordnungen von Vorgesetzten und „Hygieneregeln“ zu kämpfen, die teilweise absurd sind und einen geregelten Dienstablauf immer wieder stark behindern. Trotzdem wird, gerade von der Politik und der obersten Führung, so getan, als ob die Leistungsfähigkeit unserer Organisation dadurch nur bedingt belastet wird und es schon irgendwie geht.
Ich war einmal sehr idealistisch unterwegs, habe an unser Rechtssystem und Gesetz geglaubt. Ja, auch ich habe manchmal mit Kollegen etwas sehr interpretationsbedürftige Rechtsauslegungen getätigt, um Einsatzlagen zu bewältigen, oder den „Richtigen“ zu erwischen. Aber das war nie systemisch und wir haben das verantwortet. Wichtigster Grundsatz war und ist für mich immer noch die Verhältnismäßigkeit. Das Grundgesetz und unsere Idee von einem demokratischen Rechtsstaat halte ich für sehr gut. Leider ist da fast nur noch eine leere Hülle übrig, wenn es um bestimmte Themen geht.
Querdenker, Rechte, Leugner: Mich stören die Begrifflichkeiten
Mich persönlich stören ungemein die internen Begrifflichkeiten über die Demonstranten, aber da wurden von Anfang an Schlagworte eingeführt, die sich jetzt einfach verfestigt haben und natürlich von allen Kollegen und Dienststellen kritiklos übernommen wurden. Jeder Spaziergang ist eine „Querdenker-Demonstration“, wenn nicht sogar eine von Corona-Leugnern.
Was mich persönlich auch sehr stört, ist der Versuch unserer politischen Führung, alle Kritiker und Demonstranten in die „rechte Ecke“ zu stellen, ihnen Gewalttätigkeit zu unterstellen und der Versuch, sie so zu diskreditieren und delegitimieren. Wir bekommen an jedem Morgen die Zahlen und können so sagen: In den wenigsten Fällen kommt es zu Straftaten. Ja, die Auflagen der Versammlungsbehörden (Maskenpflicht und Abstand) werden schon öfter, teilweise auch sehr zahlreich, nicht eingehalten, aber unter freiem Himmel und da dies ja auch oft Inhalt des Protestes ist, durchaus nachvollziehbar. Jeder Teilnehmer weiß auch, dass er dadurch Gefahr läuft, eine Ordnungswidrigkeitenanzeige zu bekommen, aber dieses Verhalten stellt per se keine grundsätzliche Gewaltbereitschaft dar. Wenn es zu Gewalttaten – Straftaten gegen Polizeibeamte – kommt, dann fast ausschließlich bei der Ahndung der Verstöße (Beleidigungen, Widerstände) beziehungsweise bei polizeilichen Maßnahmen, um sich fortbewegende Versammlungen zu verhindern. Hier findet leider bis jetzt von Seiten der obersten Polizeiführungen und der Politik noch keine Ursachen-Wirkung-Analyse statt.
Trotzdem kann ich keinerlei Angriffe auf meine Kollegen tolerieren, mögen die persönlichen Schicksale in der Corona-Krise für den Einzelnen auch noch so schlimm gewesen sein. Aber auch wir sind Menschen, die sehr unter der Situation leiden und nicht alle stehen vorbehaltlos hinter der derzeitigen politischen Linie. Man merkt dies auch schon bei einigen Spaziergängen, wo insbesondere bei polizeilicher Zurückhaltung nichts passiert. Und das ist die Mehrzahl. Meist wird nur bei großer Kräfteanzahl in den größeren Städten „hart“ durchgegriffen, insbesondere um die oft aberwitzigen Allgemeinverfügungen durchzusetzen.
Bei vielen Kollegen reift schon die Erkenntnis, dass die überwiegende Mehrheit der Demonstranten normale, besorgte Bürger sind und (nicht tolerierbare) Gewalttätigkeit oftmals erst durch das Eingreifen der Kollegen wegen Auflagenverstößen zustande kommt.
Mich erschreckt die völlige Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen
Ich komme immer wieder auf die selben Punkte zurück. Mich erschreckt diese völlige Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen, diese nahezu kritiklose Umsetzung und mangelnde Remonstration, insbesondere hochrangiger Polizeiführer. Allein wenn ich daran denke, wie die Ausgangssperre in Bayern verkündet wurde und ich reflexartig gesagt habe: „Das geht nicht durch, das ist verfassungswidrig und unverhältnismäßig.“ Und trotzdem wurde sie umgesetzt und überwacht. Ich bin so erschüttert über den Zustand unserer Polizei. Für mich ein systemisches Versagen. Ein Zusammenspiel aus einigen willfährigen Erfüllungsgehilfen der Politik, vielen Mitläufern und Technokraten und einigen Überzeugten. Das Schlimmste ist die Ohnmacht. Zu wissen, dass „Aufstehen“ vermutlich das Karriereende bedeuten würde.
Ich spreche seit 20 Monaten sehr viel mit Kollegen, streite mich auch hin und wieder (konstruktiv), versuche zu argumentieren und stoße auf unterschiedliche Reaktionen. Jedoch ist entgegen dem Bild von der geschlossenen Staatsmacht durchaus eine heterogene Meinung erkennbar. Leider meist nur privat, denn ein Faktor wiegt unheimlich schwer und der verhindert fast vollständig jeglichen Widerstand: Das Berufsbeamtentum, die Dienstpflicht und die große Abhängigkeit der Kollegen vom Staat. Der Umgang des Dienstherren mit den kritischen Geistern schreckt nahezu alle Kollegen ab, über persönliche Meinungsäußerungen intern im geschützten Rahmen hinaus, weitere Schritte zu wagen.
Ich kann nicht sagen, wie viele Kollegen wirklich kritisch sind, wie viele „Hardliner“ und wer Unbehagen hat, aber eben mitmacht. Es gibt ja auch in der Kritik nicht nur Schwarz und Weiß, alles richtig oder alles völlig falsch. Ja, da gibt es Kranke, Schwerkranke, auch Menschen die versterben. Aber so verbissen, wie die Politik ihre Regeln und Verordnungen durchsetzt, das sollte doch mehr Kollegen zum Nachdenken bringen. Ich glaube jedoch, die meisten machen einfach mit. Wir sind halt ein zutiefst hierarchisches System. Und wenn nicht ganz oben in der Hierarchie jemand widerspricht, der auch Gewicht und Durchhaltevermögen hat, gibt es kaum Chancen, dass sich etwas in der Polizei tut. Ich setze da eher auf die „kleinen“ Widerstände. Einmal wegsehen – nicht anzeigen, ein Lächeln hier oder eine interne Regel, die nicht so strikt befolgt wird.
Nicht unerheblicher Teil der Maßnahmen verfassungswidrig
Viele erfahrene Kollegen wissen instinktiv, dass ein nicht unerheblicher Teil der Maßnahmen nach unserem gesunden Rechtsempfinden eigentlich „rechtswidrig“ beziehungsweise „verfassungswidrig“ ist. Das haben wir alle einmal gelernt. Wenn wir mit solchen Ideen in unserer Ausbildung zur „Lösung“ einer Einsatzlage angekommen wären: setzen, 6! Durchgefallen! Nicht verfassungskonform und nicht verhältnismäßig. Gerade diese – für mich nicht gegebene – Verhältnismäßigkeit stört mich ungemein, denn für sie ist nicht nur der Gesetzgeber oder Verordnungsschreiber zuständig, sondern jeder Beamte, der eine Maßnahme umsetzt. Aber, wie gesagt, wir sind ein hierarchisches System – und haben wenig selbstbewusste Vorgesetzte mit „gesundem Menschenverstand“. Bei den meisten hat man das Gefühl, je weiter sie nach oben kommen, desto mehr wollen sie auch noch erreichen. Bloß nicht mit der Hand anlegen, die Dich füttert.
Es gibt teilweise im Dienstbetrieb, fast wie in der gesamten veröffentlichten Meinung der „Gesellschaft“, nur mehr Schwarz und Weiß, Fakten und Fake, Gute und Böse. Man könnte als fast folgerichtige Konsequenz der aufziehenden digitalen Diktatur sagen: 0 oder 1. Keine Zwischentöne mehr, keine oder kaum Differenzierung. Damit nichts Menschliches mehr. Viele würden sicherlich sagen: Du siehst viel zu schwarz, so schlimm ist es nicht. Doch, finde ich schon. Gerade wir als Polizei sollten Garant von Rechtsgrundsätzen und Grundrechten sein und nicht reine Erfüllungsgehilfen der Politik. Denn die kann ihre Meinung, ihre Ausrichtung schnell ändern, und damit die Anordnungen und Leitlinien. Die daraus resultierende Unsicherheit bei den Bürgern zerstört das Vertrauen in die Grundsätze des Rechtsstaates und damit das Vertrauen der Bürger in uns.
Wir Kritiker innerhalb der Polizei sind mehr, als wir glauben
Jedoch bin ich der Meinung, wir Kritiker innerhalb der Polizei sind mehr, als wir glauben. Wie oft habe ich schon in Dienst- oder Abschnittsbesprechungen die verdrehten Augen von Kollegen bei der Nennung bestimmter „Fakten“ wahrgenommen. Leider keine Stimmen. Ja, auch ich habe meist geschwiegen. Aber nach mehr als 20 Jahren im Einsatzgeschehen, teilweise in der gesamten Republik, habe ich noch nie so eine große Diskrepanz zwischen meinen täglichen Erfahrungen und der „offiziellen“ dienstlichen Meinung wahrgenommen.
Wir bräuchten eine Stimme, die man nicht so einfach verstummen lassen kann. Es wäre sicher eine Aufgabe, die kritischen Kollegen zu vernetzen und ihnen die Möglichkeit zu geben, anonym, aber zahlenmäßig Gesicht zu verleihen. Denn wie gesagt, viele können beziehungsweise wollen sich ein Karriereende (noch) nicht leisten. Wenn wir (die kritischen Polizisten) jedoch merken würden, dass unsere Zahl so groß ist, dass wir die Funktionsfähigkeit der Polizei und damit des Staates beeinflussen können, würden sich vielleicht noch mehr trauen, Farbe zu bekennen!
Ich habe nicht zufällig ausgerechnet hier auf Multipolar den ersten Schritt gewagt. Ich bin überzeugt von der sachlichen Herangehensweise in diesem Online-Magazin, die auch Kritik an getätigten Äußerungen zulässt und sich mit ihr auseinandersetzt. Deswegen mein Aufruf an alle Kollegen (natürlich auch immer Kolleginnen):
Lasst mich wissen, ob ich so total falsch liege mit meinem Gefühl, meiner Einschätzung, dass wir als Polizei auf einem bedenklichen Weg sind und etwas ändern müssen. Oder irre ich mich, ist meine Sichtweise völlig abwegig, bin ich der Geisterfahrer und „Nestbeschmutzer“? Es ist so schwer einzuschätzen, insbesondere über die Ländergrenzen hinweg, wie viele wir sind.
Lasst uns die Stimme erheben, schreibt Multipolar und lasst uns versuchen, konstruktiv zu bleiben. Ich möchte wieder mit einem guten Gefühl auf das Grundgesetz in meinem Bücherregal im Büro schauen können, das mich seit meiner Ausbildung begleitet.
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