Faktencheck: Bedeuten steigende Fallzahlen eine größere Gefährdung der Öffentlichkeit?
PAUL SCHREYER, 11. August 2020, 5 KommentareHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Die Fakten
Steigende Fallzahlen – also eine wachsende Zahl positiv Getesteter – können tatsächlich ein wichtiger Indikator für eine gefährliche Verbreitung eines Virus sein, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen:
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die Menge der durchgeführten Tests muss konstant sein; steigen hingegen nicht nur die Fallzahlen, sondern auch die Anzahl der Tests, dann liefert ein Vergleich von absoluten Fallzahlen keine aussagekräftigen Ergebnisse (wer mehr sucht, der findet auch mehr) – entscheidend ist dann die Entwicklung der Prozentrate der positiv Getesteten
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die Auswahl der Orte, an denen getestet wird, muss vergleichbar und für die Gesamtbevölkerung repräsentativ sein; es ist zum Beispiel keine Vergleichbarkeit der Zahlen gegeben, wenn in einer Woche verstärkt in Kitas und in der nächsten Woche verstärkt unter alten und kranken Menschen in Pflegeheimen getestet wird
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die Testergebnisse müssen um die falsch-positiven Ergebnisse bereinigt werden
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der Test selbst darf nicht auf Virusbestandteile jeder Art positiv anschlagen, etwa auch auf nichtinfektiöse Virusfragmente, die keine Gefahr darstellen, sondern ausschließlich auf infektiöses, also auch zur Ausbreitung fähiges Virusmaterial
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die „Fälle“, also die positiv Getesteten, erkranken auch tatsächlich zu einem Anteil und in einer Schwere, die eine ernste Besorgnis für die gesamte Bevölkerung rechtfertigt
Sind diese Bedingungen erfüllt, dann bedeuten steigende Fallzahlen eine epidemiologisch relevante Gefahr für die Öffentlichkeit. Aktuell ist jedoch keine dieser Bedingungen erfüllt:
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die Testmenge steigt Woche für Woche kontinuierlich und ist seit Mitte Juni (16.6., KW 24) um insgesamt 75 Prozent angewachsen (PDF, S. 12) – von 326.000 auf 573.000; daher ist ein Vergleich der absoluten Fallzahlen irreführend und verfälschend; im Zusammenhang mit der Testausweitung verdoppelten sich die Fallzahlen in diesem Zeitraum ungefähr, während die Rate der positiv Getesteten lediglich von 0,9 Prozent (16.6.) auf 1,0 Prozent (5.8.) angestiegen ist (siehe Grafik unten)
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über die sich im Zeitverlauf ändernde Zusammensetzung der Testorte (wo wird in welcher Woche getestet) liegen keine amtlichen Zahlen vor; hier existiert bei entsprechender politischer Absicht erheblicher Spielraum für Manipulationen, mit denen gegebenenfalls „gewünschte“ Ergebnisse erzielt werden können
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die Testergebnisse werden derzeit nicht um falsch-positive Ergebnisse bereinigt; die Falsch-Positiv-Rate liegt dabei ungefähr in der gleichen Größenordnung (etwa ein Prozent) wie der aktuelle Anteil positiv Getesteter; es ist möglich, dass sehr viele, wenn nicht die meisten positiven Tests, auf fehlerhafte Testergebnisse zurückzuführen sind, insbesondere wenn in Gebieten mit geringer Verbreitung des Virus getestet wird
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der Test erkennt sehr kleine Fragmente des Virus, auch nichtinfektiöses Virusmaterial, was für die Bewertung der Gefährlichkeit der epidemischen Situation kaum bis gar keine relevanten Aussagen erlaubt
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die Zahl der aktuell schwer Erkrankten liegt in Deutschland weiterhin im niedrigen dreistelligen Bereich (PDF S. 11, Stand 6.8.: 236 Patienten in intensivmedizinischer Behandlung), eine rasante Zunahme ist nicht zu verzeichnen; gegenüber dem Vormonat sind die Zahlen rückläufig (Stand 6.7.: 327 Patienten)
Was das bedeutet
In der politischen und medialen Öffentlichkeit ist eine gefährliche Massen(selbst)täuschung in doppelter Ausprägung zu beobachten. Zum einen beteiligen sich Gesundheitsministerium und Robert Koch-Institut (RKI), deren Fachleuten die genannten Fakten fraglos bekannt sind, mit der aus dem Kontext gerissenen Betonung „steigender Fallzahlen“ mutmaßlich vorsätzlich an einer groben Täuschung der Öffentlichkeit. Zum anderen agieren große Medien, offenbar unfähig oder unkritisch genug, die Täuschung zu erkennen oder erkennen zu wollen, als Wirkverstärker.
Im Ergebnis ist eine gefährliche Blase entstanden, in der Regierung und Medien gemeinsam gefangen sind und sich wechselseitig bestätigen: Staatliche Stellen warnen die Öffentlichkeit auf unzureichender oder falscher Grundlage und vertrauen den eigenen Fehlschlüssen um so mehr, wenn sie anschließend in der Zeitung davon lesen. Frei nach Karl Kraus: „Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie´s lesen.“ Die Folgen, insbesondere die aus den Fehlschlüssen abgeleiteten freiheitsbeschränkenden Maßnahmen beschädigen die Gesellschaft nachhaltig. Medien und Politik scheinen zu einer Selbstkorrektur nicht in der Lage.
Politische und juristische Folgen
Politische Maßnahmen, die mit aus dem Kontext gerissenen „steigenden Fallzahlen“ begründet werden – von der verschärften Maskenpflicht, insbesondere an Schulen, über Zwangstests für Urlaubsrückkehrer bis hin zur Aussetzung weiterer Lockerungen – sind wissenschaftlich nicht fundiert und damit grundsätzlich fragwürdig bis illegitim. Gerichte, die solche fragwürdigen bis illegitimen Maßnahmen mit Verweis auf die vermeintliche Expertise des RKI für legal und angemessen erklären, kommen ihrer Pflicht, Fakten und Kontext unabhängig zu überprüfen, nicht ausreichend nach.
Warum täuschen das RKI und das Gesundheitsministerium die Öffentlichkeit?
RKI-Präsident Lothar Wieler erklärte beim Pressebriefing vom 28. Juli, der Anstieg der Fallzahlen hänge „nur damit zusammen“, dass die Bevölkerung „nachlässig geworden“ sei. Wieler nannte keinerlei Belege für diese Behauptung, die nachweislich falsch ist (da unter anderem die Ausweitung der Testmenge nicht in Rechnung gestellt wird). Allem Anschein nach handelt es sich bei dieser Behauptung um eine politische Sprachregelung zur Einschüchterung der Bürger. Auf Nachfrage von Multipolar hat das RKI keine Belege für die Aussage seines Präsidenten übermittelt.
Die Frage, wie das RKI gewährleisten könne, dass die Höhe der Fallzahlen nicht in erheblichem Maße durch die Ausweitung der Testmenge sowie falsch-positive Testergebnisse bestimmt ist, wurde gleichfalls, trotz mehrfachen schriftlichen und telefonischen Nachfragen, von der Behörde nicht beantwortet.
Warum das RKI und das weisunggebende Bundesgesundheitsministerium die Öffentlichkeit in dieser Art grob täuschen, ist bislang unklar.
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