Ein Ende mit Schrecken? Krieg in der Ukraine
ULRICH TEUSCH, 8. Mai 2023, 27 Kommentare, PDFIn meinem Multipolar-Artikel „Die Putin-Interviews und der Krieg“ vom 26. März 2023 habe ich mich eingehend mit den Gesprächen beschäftigt, die der US-amerikanische Filmregisseur Oliver Stone zwischen 2015 und 2017 mit dem russischen Staatspräsidenten geführt hat. Ich habe versucht, die Diskrepanz herauszuarbeiten zwischen den Einsichten, Überzeugungen und Maximen, die Putin in den Interviews offenbarte, und dem, was er heute im Konflikt mit der Ukraine und dem Westen praktisch tut. Und ich hatte angekündigt, in einem zweiten Artikel nach möglichen Gründen für diese Diskrepanz zu suchen und den mutmaßlichen Sinneswandel Putins zu erklären.
Auf meinen Text trafen zu meiner Überraschung recht viele Zuschriften ein. Sie waren durchweg kritisch bis ablehnend, auch Gegenpositionen wurden formuliert. Manchmal wurde ich von Leserinnen und Lesern direkt, persönlich angesprochen und dazu ermuntert, die Kritiken konstruktiv aufzunehmen, über meine eigenen Bewertungsmaßstäbe und unausgesprochenen Überzeugungen nachzudenken und diese offenzulegen, mich also um Transparenz zu bemühen und auf einen Diskurs einzulassen.
Auch wenn es für mich ungewohnt ist – dazu bin ich gerne bereit. Diese Bereitschaft bringt es allerdings notwendigerweise mit sich, dass mein Beitrag nun formal und inhaltlich einen etwas anderen Charakter annimmt als ursprünglich geplant. Weil diskursiv, wird er länger ausfallen, weniger strukturiert und stringent, weniger kompakt sein. „Diskursiv“ heißt für mich auch immer: offen, vorläufig, unabgeschlossen, work in progress. Die Kritiker werde ich mit den folgenden Ausführungen womöglich nicht zufriedenstellen können und ihnen vielleicht sogar neue Angriffsflächen bieten – was aber ganz in meinem Sinn wäre: denn ich will nicht in erster Linie andere von meinen Ansichten überzeugen, sondern zu einer reflektierten Urteilsbildung anregen und beitragen.
Drei Punkte vorab
Es würde den Rahmen dieses Artikels endgültig sprengen, wollte ich auf alle Einzelargumente eingehen, die in den Leserkommentaren vorgetragen wurden. Dennoch möchte ich vorab – bevor ich zum eigentlichen Thema komme – drei Punkte aus den Kommentaren kurz aufgreifen:
Punkt eins: Ich hatte in meinem Artikel festgestellt, Putin habe in den Stone-Interviews militärische Gewalt als Problemlöser in der Ukraine kategorisch ausgeschlossen. Helene Bellis widerspricht mit dem Hinweis, Putin habe einen Krieg in der Ukraine lediglich als „Worst-Case-Szenario“ bezeichnet. Ich hatte mich bei meiner Aussage allerdings auf ein anderes Putin-Zitat bezogen. Dort sagte er mit Blick auf die Eventualität eines Kriegs: „Es würde nur mehr Opfer geben, aber das Fazit wäre kein anderes als heute. Konflikte dieser Art, also Konflikte wie im Donbass, lassen sich nicht mit Waffen lösen. Da muss es schon direkte Gespräche geben.“ Eine eindeutige Aussage, wie ich finde.
Punkt zwei: Ulrich Karrasch schreibt, Wolodymyr Selenskyj habe im Februar 2022 auf der Münchner Sicherheitskonferenz – angeblich unter „standing ovations“ der Versammelten – in Aussicht gestellt, dass sich die Ukraine nicht länger an das Budapester Memorandum von 1994 gebunden fühlen und sich wieder Atomwaffen zulegen könnte. Ich kann nur dringend empfehlen, den Text von Selenskyjs Rede nachzulesen oder sich das entsprechende Video anzuschauen. Selenskyj beklagte, das Budapester Memorandum habe der Ukraine keine wirkliche Sicherheit gebracht; er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO sich als wirksamer erweisen werde. Und er kündigte eine diplomatische Initiative an: Er wolle die am Budapester Memorandum beteiligten Mächte zu einem Treffen zusammenrufen und einen letzten Versuch unternehmen, das Abkommen zu retten.
Punkt drei: Der russische Krieg ist und bleibt aus meiner Sicht eindeutig völkerrechtswidrig. Russland ist von niemandem angegriffen worden und hat das auch nie behauptet. Und Präventivkriege sind im Völkerrecht nicht vorgesehen. Alfred de Zayas ist ein renommierter Völkerrechtler, der sich in seiner Kritik an westlicher Geopolitik und in seinem Verständnis für die Situation Russlands von kaum jemandem übertreffen lässt. Doch auch für ihn unterliegt es keinem Zweifel, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig ist. Ich verweise an dieser Stelle der Einfachheit halber auf seine Argumentation, werde aber an späterer Stelle auf völkerrechtliche Aspekte noch ausführlicher zurückkommen.
Russophob und russophil
Und damit zum eigentlichen Thema! Zunächst und grundsätzlich: Ich bedarf nicht der Belehrung, dass der Westen in Sachen illegaler Kriege und Kriegsverbrechen, in Sachen Täuschung, Heuchelei und Doppelstandards seit dem Ende des Ost-West-Konflikts weit mehr auf dem Kerbholz hat als Russland. Was speziell die westliche Führungsmacht angeht, glaube ich zudem, dass man das Wesen US-amerikanischer Geopolitik weniger in der Sorge um eine „regelbasierte Ordnung“ als im Führen endloser Kriege zu suchen hat. Das entschuldigt und rechtfertigt jedoch nichts von dem, was Russland seit dem 24. Februar 2022 getan hat und weiterhin tut. Um Oliver Stone zu zitieren: „A dozen wrongs don’t make a right.“ Im Übrigen habe ich in meinem Artikel zu den Stone-Interviews nicht das Handeln Putins mit dem des Westens verglichen, sondern es an den von ihm selbst entwickelten Kriterien gemessen. Und natürlich auch, wie ich gern zugebe, an meinen eigenen Maßstäben.
Was zur Frage führt: Haben meine Grundüberzeugungen und Vorurteile in meine Analyse hineingespielt und sie möglicherweise in eine bestimmte Richtung gedrängt? Das haben sie ganz sicher getan. Sie haben es getan, obwohl ich mich in meiner Arbeit redlich bemühe, etwaige Verzerrungen zu erkennen und auszuschließen. Deshalb stelle ich mir beinahe täglich und in unterschiedlichen Zusammenhängen eine Frage (die sich, wie ich finde, jeder publizistisch Tätige von Zeit zu Zeit stellen sollte): Warum glaube ich, was ich glaube? Das heißt: Ich begebe mich immer wieder auf den Prüfstand. Aus Gründen der Selbstkontrolle nehme ich deutlich mehr Informationen aus Quellen auf, von denen ich weiß, dass sie meine Ansichten nicht teilen, als von solchen, mit denen ich in der Regel übereinstimme. Ich lebe und arbeite also nicht in einer Echokammer oder Filterblase.
Stefan Korinth hat jüngst in einem Multipolar-Artikel eindrucksvoll demonstriert, wie tief russophobe Stereotypen und Vorurteile ins westliche (Unter-) Bewusstsein eingegraben sind. Es gibt aber auch das Gegenteil, nämlich russophil eingestellte Menschen (ich zähle mich zu ihnen), die von diesem großen Land und seiner ethnischen und religiösen Vielfalt fasziniert sind oder eine besondere Zuneigung zu dessen kulturellen und künstlerischen Leistungen hegen. Eine solche Affinität kann das Urteil – auch über aktuelle politische Vorgänge – ebenso beeinflussen wie es russophobe Aversionen können, wenn auch in gegenteiliger Richtung. Man muss sich dann immer wieder disziplinieren oder selbstkritisch befragen. Habe ich aus Sympathie zu großzügig geurteilt? Oder auch: Habe ich übermäßig kritisch geurteilt, um nicht zum Opfer meiner positiven Voreingenommenheit zu werden?
Russland im Innern
Was die inneren Verhältnisse Russlands seit dem Ende der Sowjetunion angeht, unterscheide ich eine analytische und eine normative Ebene. Auf analytischer Ebene bin ich der Auffassung, dass man die Erwartungen an die politische, soziale und ökonomische Entwicklung Russlands nicht zu hoch schrauben sollte. Nach Jahrhunderten zaristischer Autokratie, nach sieben Jahrzehnten kommunistischer Diktatur, nach der für viele Russen traumatischen Jelzin-Regentschaft war nicht zu erwarten, dass sich das komplexe russische Riesenreich innerhalb weniger Jahre in einen lupenreinen demokratischen und sozialen Rechtsstaat verwandeln würde. In der langen Putin-Ära schien mir jedoch vieles – vor allem im ersten Jahrzehnt – in die richtige Richtung zu gehen.
Auf normativer Ebene sieht es anders aus. Ich bin weit davon entfernt, im heutigen Russland ein für mich attraktives gesellschaftspolitisches Modell zu sehen. Entsprechend groß ist meine Distanz – auch zu Putin. Ich halte zwar nichts davon, ihn nach Mainstream-Art zu dämonisieren, kann aber auch nicht nachvollziehen, dass er sich außerhalb des Mainstreams – nicht zuletzt links davon – teils hoher Sympathiewerte erfreut. Putin ist aus meiner Sicht ein autoritärer, konservativer, pro-kapitalistischer Machtpolitiker, wobei die autoritäre Komponente nun, da sich Russland im Krieg befindet, immer stärker zur Geltung kommt. (Um die Ukraine steht es übrigens keinen Deut besser, im Gegenteil. Sie droht als „failed state“ zu enden.)
Realismus
Damit wechsle ich zur internationalen Politik, um die es ja im Krieg in der Ukraine vorrangig geht. Auch hier unterscheide ich eine analytische von einer normativen Ebene. In analytischer Hinsicht begreife ich mich als Realist – Realist nicht im Alltagsverständnis, sondern im Sinne der „realistischen Denkschule“ in der Politikwissenschaft. Deren prominentester und einflussreichster Vertreter ist derzeit der US-Amerikaner John Mearsheimer.
Aus realistischer Sicht ist das internationale System souveräner Staaten „anarchisch“. Oberhalb der Staaten existiert keine Instanz, die diesen gegenüber weisungsbefugt wäre (zum Beispiel eine Weltregierung). Anders als im innerstaatlichen Bereich fehlt auf dem internationalen Feld ein Gewaltmonopol. Das heißt: Im Rahmen des internationalen Systems sind die Staaten in letzter Instanz auf sich selbst angewiesen. Sie verfolgen ihre nationalen Interessen. Sie tun dies oft auf Kosten anderer Staaten. Sie rüsten zum Beispiel auf und nötigen damit ihre Konkurrenten oder Gegner zur Nachrüstung. Sie akkumulieren Macht, von der sich andere Staaten bedroht fühlen und also Gegenmacht bilden. Es entstehen Sicherheitsdilemmata. Einzelne Staaten streben nach regionaler oder globaler Hegemonie, während andere sich bemühen, das Gleichgewicht zu erhalten oder wieder herzustellen. Immer wieder versuchen Staaten, ihre Interessengegensätze durch Krieg zu lösen.
Trotz der anarchischen Grundkonstellation sind im Zusammenleben der Staaten im Lauf der Jahrhunderte Fortschritte erzielt worden beziehungsweise Zivilisierungstendenzen erkennbar. Es hat sich eine „Staatengesellschaft“ herausgebildet (eine „International Society“, wie man vor allem in der britischen Politikwissenschaft gerne sagt). Die Staatengesellschaft basiert auf gemeinsamen Werten und Prinzipien, die nach und nach Grenzen überschritten und schließlich globale Anerkennung gefunden haben (zum Beispiel in Gestalt von Menschenrechts-Deklarationen). Die Staatengesellschaft hat ein immer umfassenderes und differenzierteres Völkerrecht ausgebildet, eine Vielzahl internationaler Institutionen und Organisationen geschaffen, sie hat Verträge geschlossen und Vertragstreue bewiesen, ein System der Diplomatie etabliert, zahlreiche Mechanismen der Konfliktregulierung erdacht und erprobt. Auch wenn Staaten weiterhin prinzipiell unter anarchischen Bedingungen existieren, ist es ihnen doch gelungen, sich selbst zu organisieren, positive Entwicklungen in Gang zu setzen und diese zu sichern.
Russland international
Bis zum 24. Februar 2022 war ich der Überzeugung, dass Russland diese Ausprägung der Staatengesellschaft im Großen und Ganzen nicht nur unterstützt, sondern sie auch gegen Gefährdungen verteidigt: insbesondere gegen die unilateralen, global-hegemonialen Bestrebungen der USA und des Westens, gegen illegale Kriege und Völkerrechtsbrüche, gegen Versuche der Destabilisierung von Staaten, gegen die einseitige Aufkündigung wichtiger Verträge und die Erosion internationaler Organisationen. Russland tat dies natürlich nicht zuletzt aus Eigeninteresse. Denn das Land braucht, so schien mir, friedliche, stabile, zuverlässig kalkulierbare, multipolare Verhältnisse. Es braucht diese Verhältnisse vor allem, um seine inneren Ziele erreichen zu können. Unter Bedingungen der Unsicherheit und Bedrohung kann es sich nur schlecht entwickeln und kaum prosperieren.
Dies ist ein wesentlicher Grund, warum der große weltpolitische Antagonist Russlands – also die USA – vor allem als anti-russischer Störfaktor agiert. Einen geradezu paradigmatischen Stellenwert kann man hier einem umfangreichen, feindseligen Dokument aus dem Jahr 2019 zuschreiben. Darin entwickelte die Pentagon-nahe Rand Corporation mit diabolischer Kreativität eine Unzahl konkreter Vorschläge und Ideen, alle dazu gedacht, Russland im Innern und nach außen in Schwierigkeiten zu bringen. Kein Gedanke wurde an Möglichkeiten des Ausgleichs, der Verständigung, der Kooperation verschwendet. Es handelte sich um Anti-Diplomatie in Reinkultur.
Aus rein analytischer Perspektive konnte ich das Verhalten und Handeln Russlands in der Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Ende des ersten Kalten Kriegs meist ohne große Probleme nachvollziehen. Trotzdem habe ich es nicht immer gutgeheißen. Hier kommt die normative Dimension ins Spiel. Während ich auf analytischer Ebene einem realistischen Ansatz folge, verstehe ich mich auf normativer Ebene als Pazifist – und zwar als Pazifist im Sinne der UNO-Charta.
Friedenspflicht und Gewaltverbot
Die UNO-Charta ist etwas anderes als die gegenwärtig vielzitierte dubios-diffuse „regelbasierte Ordnung“. Wenn irgendwo verbindliche Regeln für das Leben und Zusammenleben von Völkern, Nationen, Staaten fixiert sind, dann doch wohl in diesem aus dem Jahr 1945 stammenden Dokument – sowie in einigen anderen völkerrechtlich verbindlichen Abkommen, wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (beide aus dem Jahr 1966).
Die UNO-Charta ist gleichsam die Grundlage aller Grundlagen. Sie legt ihren Mitgliedsstaaten eine Friedenspflicht auf und untersagt die Anwendung und Androhung von Gewalt. Und zwar in dieser Reihenfolge! Also, über allem steht die Friedenspflicht. Dann kommt das Gewaltverbot. Und noch einmal: Das Gewaltverbot beginnt nicht erst mit der Anwendung, sondern schon mit der Androhung von Gewalt.
Verletzungen des (Völker-) Rechts
In vielen Leserkommentaren zu meinem Beitrag vom 26. März wurden rechtliche beziehungsweise völkerrechtliche Fragen angesprochen. Wer den Ukraine-Konflikt unter diesem Aspekt betrachtet, läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren. Denn hier wurde und wird (Völker-) Recht permanent verletzt. Rechtswidrig beziehungsweise völkerrechtswidrig war schon die westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine im Vorfeld des Staatsstreichs 2014, war der Staatsstreich als solcher, waren die russischen Interventionen im Donbass, war die Missachtung des vom UNO-Sicherheitsrat bestätigten Minsker Abkommens, waren die Verletzungen des Waffenstillstands entlang der Kontaktlinie. Rechtswidrig beziehungsweise völkerrechtswidrig war und ist der russische Einmarsch in die Ukraine, war und ist die russische Annexion von vier Donbass-Provinzen (nachdem man zwei von ihnen kurz vorher noch als unabhängige Staaten anerkannt hatte), war und ist die Drohung mit Nuklearwaffen.
Äußerst fragwürdig ist auch das westliche Sanktionsregime. Es scheint mittlerweile völlig in Vergessenheit geraten zu sein, dass der UNO-Sicherheitsrat für die Verhängung von Sanktionen zuständig ist, unilaterale Zwangsmaßnahmen folglich gegen die Charta verstoßen. Zudem enthalten die westlichen Sanktionspakete schier unglaubliche Einzelmaßnahmen, etwa das Einfrieren der Auslandsvermögen russischer „Oligarchen“ und die geplante Zweckentfremdung der Mittel zum Wiederaufbau der Ukraine.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Ukraine das Recht hat, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Und andere Staaten dürfen ihr militärischen Beistand leisten. Aber was hat es noch mit der Treue zum Völkerrecht zu tun, wenn westliche Länder den Krieg in der Ukraine zu ihrem machen, ihn manichäisch überhöhen als Entscheidungsschlacht zwischen Demokratie und Autoritarismus, wenn sie eigene Kriegsziele definieren (die Ukraine müsse gewinnen, Russland müsse verlieren, mindestens nachhaltig geschwächt, am besten ruiniert, vielleicht sogar in kleinere Einheiten zerschlagen werden); wenn sie all dies durch zügellose und gleichfalls rechtswidrige Kriegspropaganda begleiten (lassen); und wenn sie sich nicht – wie es ihre (Friedens-) Pflicht wäre – um ein baldiges Ende des Kriegs bemühen, also ihr Möglichstes tun, um einen Waffenstillstand zu erreichen, einen Verhandlungsprozess in Gang zu bringen, sondern alle einschlägigen Bemühungen bislang sogar hintertrieben haben? Es ist durchaus vorstellbar, dass der Krieg längst zu Ende wäre, wenn die Vermittlungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett sowie das Engagement der Türkei nicht von westlichen Kräften – allen voran Boris Johnson – torpediert worden wären. Die bewusste, absichtliche Verlängerung und Intensivierung des Kriegs hat diesen in seinem Charakter verändert.
Und die Krim?
Die Krim-Problematik liegt etwas komplizierter. Im Juli 2021 veröffentlichte Wladimir Putin einen Aufsatz unter dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Kurz danach stimmten in einer Umfrage der „Rating“-Group unter der ukrainischen Bevölkerung immerhin 41 Prozent der Befragten der Aussage zu, „dass Russen und Ukrainer eine Nation sind und demselben historischen und geistigen Raum angehören“ (55 Prozent widersprachen). Vor diesem Hintergrund könnte man sarkastisch sagen, dass es doch im Grunde gleichgültig wäre, ob die Krim zur Ukraine oder zu Russland gehöre oder souverän sei. Aber solche Überlegungen sind müßig, denn auch in diesem Punkt hat der Krieg alles verändert. Die feindselige Verbissenheit auf beiden Seiten lässt keine Kompromissbereitschaft mehr zu.
Was die völkerrechtliche Seite der Krim-Frage angeht, orientiere ich mich an einer Rechtsauffassung, wie sie kürzlich der frühere serbische Ministerpräsident Tadic vorgetragen hat. Danach existiert im Völkerrecht sowohl der Grundsatz der territorialen Integrität als auch der (potentiell konkurrierende) Grundsatz des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Beide sind allerdings Tadic zufolge nicht gleichwertig; die territoriale Integrität steht zuoberst. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung wurde eingeführt mit Blick auf die Unabhängigkeitskämpfe von Kolonien oder die Befreiung militärisch besetzter Gebiete. Es deckte aber nicht ohne weiteres das Recht auf Sezession ab. Tadic wirft dem Westen vor, dass er mit der Sezession des Kosovo und dem anschließenden (nicht ganz ohne äußeren Druck erfolgten) Kosovo-Spruch des Internationalen Gerichtshofs einen Präzedenzfall geschaffen habe, auf den sich Russland später bezüglich der Krim berufen konnte. Die Fälle Kosovo und Krim unterscheiden sich zwar in mancherlei Hinsicht, aber sie gehören, völkerrechtlich betrachtet, in dieselbe Kategorie.
Was heißt hier „(un-) provoziert“?
Von westlicher Seite wird ohne Unterlass behauptet, der russische Angriff auf die Ukraine sei „unprovoziert“ erfolgt. Das trifft nicht zu. Die Berücksichtigung provokatorischer Momente kann einiges zur Erklärung des Angriffs beitragen (ändert aber nichts an seiner Völkerrechtswidrigkeit).
Interessant ist die Frage, was genau unter „provoziert“ beziehungsweise „nicht unprovoziert“ zu verstehen ist. Eine Möglichkeit: Jemand kann zielgerichtet provozieren, bezweckt also etwas mit der Provokation. Damit er sein Ziel erreicht, muss sein Gegenüber mitspielen, sich also zu einer bestimmten Handlung provozieren lassen. Der Provozierte darf sich im Nachhinein die selbstkritische Frage stellen, ob er mit seiner Reaktion dem Provokateur möglicherweise einen Gefallen getan hat und in eine von diesem aufgestellte Falle getappt ist. Auf unser Thema bezogen: Ist Russland in dieser spezifischen Weise provoziert worden? Ist es dem Westen in die Falle gegangen?
Meine erste These, die ich an späterer Stelle dieses Texts ausführlicher begründen werde, lautet: Der Westen hat Russland provoziert, aber er hat nicht zielgerichtet provoziert. Die Provokationen bezweckten nicht Russlands Einmarsch in die Ukraine. Insofern ist Russland auch in keine westliche Falle gegangen.
Zwischenbemerkung: In den vergangenen Wochen habe ich des öfteren Gespräche erlebt, in denen von ein und demselben Diskutanten zunächst gesagt wurde, Russland sei provoziert worden. An anderer Stelle der Diskussion warb dieselbe Person dann um Verständnis für die russische Kriegsentscheidung und legte nahe, dass sie alternativlos, letztlich unausweichlich, im Grunde genommen also richtig gewesen sei. Dieser Sichtweise zufolge hätte der Westen Russland zu einer richtigen und notwendigen Entscheidung provoziert. – Ich halte das für eher unwahrscheinlich.
Wann und warum hat Russland die Entscheidung getroffen, in der Ukraine militärisch zu intervenieren? Hier bedarf es einer differenzierenden Antwort. Auf der einen Seite stand eine vermutlich schon länger zurückliegende Grundsatzentscheidung. Mit ihr zog man ein militärisches Eingreifen ernsthaft in Erwägung, man betrachtete es als eine Handlungsoption, von der man bei Bedarf Gebrauch machen konnte. Auf der anderen Seite stand die Entscheidung, es tatsächlich zu tun, also einen konkreten Einsatzbefehl zu erteilen. Während die Grundsatzentscheidung einen längeren, mehrjährigen Vorlauf hatte und auf einem rationalen Kalkül basierte, fiel die konkrete Einsatzentscheidung kurzfristig, einige Tage oder allenfalls wenige Wochen vor dem 24. Februar 2022. Sie erfolgte unter enormem Stress und war unverkennbar emotional gefärbt.
Damit komme ich zu meiner zweiten These: Wenn es zutrifft, dass die russische Entscheidung, von der grundsätzlichen Option Gebrauch zu machen und „es tatsächlich zu tun“, kurzfristig und in einer emotionalen Ausnahmesituation fiel, bedeutet dies im Umkehrschluss: Bis wenige Tage oder Wochen vor dem 24. Februar 2022 hätte die Möglichkeit bestanden, den Krieg noch zu verhindern. Der Westen hat es (bewusst oder unbewusst) versäumt, diese Chance zu nutzen. Er hat – von einer gewichtigen Ausnahme abgesehen, auf die ich etwas später zu sprechen kommen werde – nichts getan, um den Krieg mit diplomatischen Mitteln abzuwenden. Er beließ es bei Drohungen.
NATO-Osterweiterung
Welche Rolle spielten nun bei alledem die provokatorischen Momente? Ich beschäftige mich zunächst mit den längerfristig wirksamen Provokationen. Sie waren wesentlich für die gerade angesprochene Grundsatzentscheidung des Kreml. Wie ich festgestellt hatte, handelte es sich nicht um zielgerichtete Provokationen. Das Provokatorische äußerte sich auf andere Weise: Der Westen – oder Teile des Westens – legten über viele Jahre gegenüber Russland ein Verhalten an die Tag, das von diesem als aggressiv und feindselig wahrgenommen werden musste. Russland musste sich provoziert fühlen, und der Westen musste das wissen (und wusste es!). Er ließ aber nicht von seinem Kurs ab und nahm mögliche Folgen seines Agierens billigend in Kauf.
Das provokatorische Element im westlichen Handeln bestand im Wesentlichen in der seit Mitte der 1990er Jahre vorangetriebenen NATO-Osterweiterung und ihrer Begleitumstände. Vor einer solchen Ausrichtung der NATO-Politik hatten insbesondere US-amerikanische Politiker, Diplomaten, Publizisten und Wissenschaftler eindringlich gewarnt. Bill Clintons Pentagon-Chef William Perry nahm sogar seinen Hut, weil er sich mit seiner ablehnenden Haltung nicht durchsetzen konnte. Der vielleicht renommierteste Mahner war George Kennan, Spiritus Rector der „Containment“-Politik im ersten Kalten Krieg. Am 5. Februar 1997 schrieb er in der New York Times (meine Übersetzung):
„Eine NATO-Erweiterung wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Kriegs in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht gefällt.“
Am 2. Mai 1998 bezeichnete Kennan die Osterweiterung als einen „tragischen Fehler“ und prognostizierte das Heraufziehen eines neuen Kalten Kriegs.
Die russische Sicht
Auch aus russischem Blickwinkel verhielt sich die Sache eindeutig:
Erstens brach der Westen sein Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Dass er dieses Versprechen – wenn auch nicht schriftlich fixiert – tatsächlich gegeben hatte, ist seit der umfassenden Dokumentation des National Security Archive jenseits jeden vernünftigen Zweifels belegt.
Zweitens nutzte der Westen die Unterlegenheit Russlands insbesondere in der Jelzin-Ära. Jelzin war – wie wohl die gesamte politische Führungsschicht Russlands – ein klarer Gegner der Osterweiterung, protestierte aber aus einer Position der Schwäche. Auch seine gute Beziehung zu Bill Clinton nützte ihm nichts. Wie die inzwischen veröffentlichte Kommunikation der beiden Präsidenten eindrücklich zeigt, handelte es sich nicht um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Im Grunde nahm Clinton seinen Moskauer Kollegen nicht wirklich ernst.
Drittens – und vermutlich entscheidend – widersprach die Art und Weise, wie die Osterweiterung vorangetrieben wurde, vertraglichen Vereinbarungen, die bis zur KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) zurückreichen und in der Charta von Paris (1990), in der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE-Gipfelkonferenz in Istanbul (1999) und in der Gipfelerklärung von Astana (2010) bestätigt und bekräftigt wurden. Diese Dokumente gehören in eine Reihe und dienten unter anderem dem Bemühen, zwei widerstrebende Orientierungen zu versöhnen: Zum einen sollte jeder Staat souverän über seine Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen und über die Bündniszugehörigkeit entscheiden können, zum anderen sollten derartige Entscheidungen nicht die Sicherheit eines oder mehrerer anderer Staaten beeinträchtigen oder gefährden. Man bekannte sich also zum Prinzip der „ungeteilten Sicherheit“. So heißt es in der Erklärung von Astana:
„Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden. Jeder Teilnehmerstaat hat das gleiche Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem einzelnen Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnissen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Staat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen respektieren. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität in der OSZE-Region zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil der OSZE-Region als seinen/ihren Einflussbereich betrachten. Wir werden unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen sowie der legitimen Sicherheitsanliegen anderer Staaten nur solche militärische Fähigkeiten aufrechterhalten, die mit den individuellen oder kollektiven legitimen Sicherheitserfordernissen vereinbar sind.“
Auch die NATO schien mit solch ausbalancierten Formeln einst d‵accord gegangen zu sein. In einer Erklärung der NATO-Außenminister, verabschiedet bei ihrem Treffen am 6./7. Juni 1991 in Kopenhagen, hieß es (meine Übersetzung):
„In Übereinstimmung mit dem rein defensiven Charakter unseres Bündnisses werden wir weder einen einseitigen Vorteil aus der veränderten Lage in Europa ziehen noch die legitimen Interessen irgendeines Staates bedrohen, sondern unsere Bemühungen fortsetzen, um sicherzustellen, dass alle Völker Europas in Frieden und Sicherheit leben können. Wir wollen weder ein Land isolieren noch eine neue Spaltung des Kontinents herbeiführen.“
Ungeteilte Sicherheit?
Nur ein paar Jahre später, auf ihrem Gipfel in Madrid 1997, bot die NATO Polen, Tschechien und Ungarn Beitrittsverhandlungen an; 1999 wurden diese ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts ins Bündnis aufgenommen. Interessanterweise spielte seinerzeit auch die Ukraine schon eine Rolle. In Madrid wurde ein militärischer Partnerschaftsvertrag mit dem Land geschlossen, die „NATO-Ukraine-Charta“. Sie sieht die Beteiligung ukrainischer Streitkräfte an einer NATO-geführten „Combined Joint Task Force“ vor, wenn diese über ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats oder der OSZE verfügt. Ebenso ist die Ukraine in die militärische Zusammenarbeit der „Partnerschaft für den Frieden“ eingebunden. Was zu Zeiten Jelzins begann, wurde in der Ära Putin in mehreren Schüben unverdrossen fortgesetzt – ungeachtet russischer Bedenken und Proteste.
Der Prozess wollte und will kein Ende nehmen. Völlig klar musste sein, dass hier irgendwann Quantität in Qualität umschlagen würde. In der politischen und militärischen Elite Russlands nahm die Besorgnis zu. Erstmals für jedermann erkennbar artikulierte Putin den russischen Unmut in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Dass nur ein Jahr später, beim NATO-Gipfel in Bukarest, ausgerechnet der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive eröffnet wurde, grenzte an Unverfrorenheit. In Deutschland und Frankreich war man sich der Problematik bewusst und versuchte zu bremsen. Das hielt die USA und andere nicht davon ab, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Obendrein behauptete man, die Raketenabwehrsysteme, die man auf den Territorien der neuen NATO-Partner Rumänien und Polen zu stationieren im Begriff stand, richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen Iran. Aus Unverfrorenheit wurde Frechheit.
Dass die NATO-Osterweiterung und insbesondere die Ukraine-Politik der NATO gegen Geist und Buchstaben der eben erwähnten Abmachungen von Paris bis Astana verstießen, ist offenkundig: die Sicherheit der Beitrittsländer erhöhte sich, im Gegenzug wurde diejenige Russlands reduziert. Zwar versuchte die NATO stets glaubhaft zu machen, ihre Osterweiterung richte sich nicht gegen Russland und sei für dieses keine Bedrohung. Doch selbst wenn sie zuträfe, war und ist diese Beteuerung irrelevant. Es kommt an dieser Stelle nicht auf die Versprechungen oder die Perspektive der NATO an, sondern einzig und allein auf die Wahrnehmung Russlands. Die Perzeption Russlands ist, ob es der NATO gefällt oder nicht, ein Faktum, das in Rechnung gestellt werden muss. Um das zu begreifen, muss man nicht unbedingt „Russland-Versteher“ sein (schaden kann es freilich nicht).
Es ist in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht gelungen, die beiden potentiell konkurrierenden Prinzipien – souveräne Bündniswahl und ungeteilte Sicherheit – in einer für die russische Seite akzeptablen Weise in Übereinstimmung zu bringen. Es gab zweifellos gute, hoffnungsvoll stimmende Ansätze – NATO-Russland-Grundakte, NATO-Russland-Rat, Erweiterung der G 7 durch Russlands Aufnahme zur G 8 –, aber das Kernproblem schwelte weiter und verschärfte sich im Lauf der Jahre, insbesondere durch den Umsturz in der Ukraine und seine Folgen.
Warum im Februar 2022?
Wer, wie ich es mit meinen Erörterungen zum provokatorischen Aspekt des Ukraine-Konflikts getan habe, einen mittel- und langfristigen Vorlauf der Kriegsentscheidung unterstellt, der muss erklären: Warum eröffneten Russland und Putin den Krieg ausgerechnet im Februar 2022, warum nicht früher? Warum nicht schon 2014 oder irgendwann in den acht Jahren dazwischen? Ich vermute, dass die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens in der Ukraine seit 2014 zu verschiedenen Zeitpunkten im Raum stand, spezifische Umstände aber jeweils dazu führten, eine solche Entscheidung nicht zu treffen oder sie zu vertagen.
Im Westen wurde nicht eigentlich mit einer militärischen Aggression Russlands gerechnet. Man warf der russischen Politik vielmehr vor, sie wolle den Westen spalten. Meine Lektüre der „Putin-Interviews“ hatten mich zu der Einschätzung gelangen lassen, dass die Spaltungsversuche, die es sicherlich gab, eher defensiver Natur waren. Denn die „Einheit des Westens“ wurde ja auch und vor allem durch das gemeinsame „Feindbild Russland“ hergestellt beziehungsweise garantiert. Selbstverständlich musste Russland ein Interesse daran entwickeln, diese Phalanx aufzubrechen, um wenigstens mit Teilen des Westens, in Sonderheit den europäischen Führungsmächten, in ein ernsthaftes Gespräch zu finden und vielleicht eine europäische Sicherheitsordnung zustande zu bringen, in der Russland ein gleichberechtigter, respektierter Partner hätte sein können. Dem „Feindbild“ durch aggressive Handlungen Nahrung zu geben, wäre der russischen Sache nicht dienlich gewesen. So zumindest die Einschätzung Putins und seiner Getreuen. Die Hardliner im Land sahen das anders, zeigten sich interventionsbereit und kritisierten ihren Präsidenten für seine aus ihrer Sicht zögerliche Ukraine-Politik.
Auf die Frage, warum Russland nicht schon früher, beispielsweise 2014, eine Invasion der Ukraine gestartet oder sich zumindest die Donbass-Gebiete einverleibt hat, antwortet der Eurasien-Experte Anatol Lieven (russophober Neigungen unverdächtig), dass es in Russlands Beziehungen zum Westen seit Ende des Ost-West-Konflikts zwar viele Enttäuschungen gegeben habe, aber auch immer wieder Zeichen der Hoffnung. Eine groß angelegte Invasion der Ukraine hätte endgültig alle Chancen auf eine Verständigung zunichte gemacht. Sie hätte die Europäer in die Arme der USA getrieben (wäre also Russlands Ziel, die beiden auf Distanz zu bringen, zuwidergelaufen), sie hätte Russland isoliert und in eine Abhängigkeit von China gebracht. Auch wenn 2014 eine Invasion angesichts der Schwäche der ukrainischen Streitkräfte viel leichter zu bewerkstelligen gewesen wäre, haben sich Russland und Putin dazu nicht hinreißen lassen. Es blieb bei der Übernahme der Krim und der mehr oder weniger verdeckten Unterstützung der „Separatisten“.
Fundamentale Umorientierung
Mit dem Wahlsieg Donald Trumps Ende 2016 schien auf russischer Seite neue Hoffnung aufzukeimen. Zum einen bestand die Möglichkeit, dass Trumps Gebaren zu einer Entfremdung zwischen Europa und den USA sowie einer Schwächung der NATO führen und für Russland neue Optionen schaffen würde. Zum anderen hatte Trump versprochen, das amerikanisch-russische Verhältnis verbessern zu wollen, und er hatte sich zuversichtlich gezeigt, auch zu Putin persönlich eine vernünftige Beziehung entwickeln zu können.
Daraus wurde nicht viel. Zudem verfehlte Trump die Wiederwahl und wurde von dem in ukrainischen Angelegenheiten einschlägig vorbelasteten Joe Biden abgelöst. Die militärische Aufforstung der Ukraine, die auch und gerade unter Trump stattgefunden hatte, wurde fortgesetzt (u.a. mit Javelin-Panzerabwehrraketen), die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen stockte, von westlicher Seite blieb der Druck auf Kiew aus. Inzwischen haben sogar einige Protagonisten – Merkel, Hollande, Poroschenko – eingeräumt, dass man sich auf Minsk II nur eingelassen habe, um der Ukraine Zeit für die Aufrüstung zu verschaffen. Wobei sich die Frage stellt, welchem Zweck diese Aufrüstung diente: Wollte man die abtrünnigen Donbass-Republiken und gegebenenfalls auch die Krim zurückerobern? Oder sich vor einer russischen Aggression schützen? Oder gar Russland bedrohen?
Dass der Westen in Bezug auf Minsk II nicht ehrlich agierte, hatten die russischen Hardliner seit langem vermutet. Nun schloss sich Putin ihrer Sichtweise an – in den Worten Anatol Lievens (meine Übersetzung):
„Putin scheint nun voll und ganz mit den russischen Hardliner-Nationalisten darin übereinzustimmen, dass man keiner westlichen Regierung trauen kann und dass der Westen insgesamt Russland gegenüber unerbittlich feindlich eingestellt ist. Er ist jedoch nach wie vor anfällig für die Angriffe eben dieser Hardliner, sowohl wegen der großen Inkompetenz, mit der die Invasion durchgeführt wurde, als auch, weil sich ihr Vorwurf, er sei zuvor naiv gewesen, was die Hoffnungen auf eine Annäherung an Europa angeht, anscheinend völlig bestätigt hat.“
Nicht weniger deutlich äußert sich der Politikwissenschaftler Richard Sakwa, auch er ein ausgewiesener Russland-Kenner und (wie Lieven) alles andere als russophob (meine Übersetzung):
„Das Gleichgewicht innerhalb des Regimes war gestört, und ab Ende 2019 dominierte die Hardliner-Position. Das führte zu dem Versuch, die letzte Glut der unabhängigen politischen Opposition und des kritischen Denkens zu ersticken, zu den Verfassungsänderungen von 2020 und schließlich zur Eskalation der Konfrontation mit der Ukraine. Es ist klar, dass Putin in der letzten Phase vor dem Krieg unter enormer psychischer Belastung stand. (...) Die Entscheidung, mit einer militärischen Offensive aufs Ganze zu gehen, die möglicherweise schon im August 2021 getroffen wurde, hätte nicht risikoreicher sein können und drohte, zwei Jahrzehnte der innenpolitischen Entwicklung zu zerstören.“
Die russische Umorientierung ist inzwischen fundamental. Lieven zitiert eine Aussage Putins aus dem Jahr 2012, in der er Russland noch als untrennbaren, organischen Teil von Gesamteuropa, von einer europäischen Zivilisation im weiteren Sinne, auffasste. Die russischen Bürger fühlten sich als Europäer, versicherte er. Heute hingegen sehe Putin in Russland eine eigenständige „eurasische Zivilisation“.
Motive und Ziele
Viele Leserkommentare äußerten Verständnis für die russische Kriegsentscheidung. Aber welche Motive treiben Russland an, welche Ziele verfolgt es? Da fallen die Antworten weniger klar aus – und sie werfen aus meiner Sicht vor allem Fragen auf: Warum zum Beispiel hat Putin seiner Ankündigung, die beiden Donbass-Republiken anzuerkennen, einen ausschweifenden und partiell fragwürdigen historischen Exkurs zur Geschichte der Ukraine vorangestellt, der zur Begründung dieser Anerkennung nur einen sehr bescheidenden Beitrag leistete? Was konkret wollte Putin mit dem Einsatzbefehl vom 24. Februar 2022 erreichen? Ist er tatsächlich einem Ersuchen der gerade erst anerkannten Donbass-Republiken um Schutz nachgekommen? Ging es um die Verhinderung eines schon länger in Gang befindlichen angeblichen Genozids? Ging es um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der gesamten Ukraine? Ging es darum, Verhandlungen zu erzwingen, deren Ergebnisse zu diktieren? Ging es um einen Regimewechsel in Kiew? Oder ging es auch (und vor allem?) darum, eine Bedrohung Russlands durch eine aufgerüstete und immer stärker in NATO-Strukturen integrierte Ukraine abzuwenden? Ging es sogar um noch mehr: um das ureigene russische Interesse, die NATO-Expansion zu stoppen oder zurückzudrängen? Ging es am Ende gar darum, das Tor zu einer multipolaren Welt aufzustoßen?
Am Anfang klang alles viel bescheidener. In einer Tass-Meldung vom 27. Februar 2022 hieß es (meine Übersetzung):
„Am 24. Februar erklärte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache,“ – hier der Text – „er habe auf Ersuchen der Führer der Donbass-Republiken beschlossen, eine spezielle Militäroperation durchzuführen, um die Menschen zu schützen, ′die seit acht Jahren unter den Misshandlungen und dem Völkermord des Kiewer Regimes leiden‵. Der russische Staatschef betonte, Moskau habe nicht die Absicht, ukrainische Gebiete zu besetzen. Sein Ziel sei die Entmilitarisierung und Entnazifizierung des Landes. Das russische Verteidigungsministerium versicherte, dass die russischen Truppen keine ukrainischen Städte angreifen, sondern sich darauf beschränken, die ukrainische militärische Infrastruktur chirurgisch zu treffen und außer Gefecht zu setzen. Es gibt keinerlei Bedrohung für die Zivilbevölkerung.“
Diese Aussagen sind offenkundig schon seit langem überholt. Haben sie je die russischen Kriegsziele abgebildet? Immerhin versichert John Helmer, ein mit Kreml-Interna bestens vertrauter langjähriger Moskau-Korrespondent, dass die Idee einer begrenzten Militäroperation auf Putin selbst zurückgeht. Offenbar hatte er die Vorstellung, russische Truppen seien in der Ukraine willkommen, man könne handstreichartig in Kiew einen Regimewechsel herbeiführen oder die Ukraine binnen weniger Tage, in Blitzkriegsmanier sozusagen, an den Verhandlungstisch bomben. Letzteres wäre ja auch beinahe gelungen, denn schon kurz nach Kriegsbeginn trafen sich Delegationen Russlands und der Ukraine zu Gesprächen, und auch in den Wochen danach gab es – vermittelt durch Dritte – konstruktive Verhandlungen zwischen den beiden Parteien. Doch die „Militäroperation“ nahm einen ganz anderen Verlauf als geplant. Schon nach wenigen Wochen wurden die Karten neu gemischt. Inzwischen haben wir es mit einem voll entbrannten Krieg zu tun, der ein enormes Eskalationspotential birgt.
Die große Überraschung
Ich nähere mich nun den eher kurzfristigen und emotional bestimmten russischen Beweggründen für die Invasion. In meinem ersten Beitrag zum Thema hatte ich eingeräumt, bis zum 23. Februar 2022 fest davon überzeugt gewesen zu sein, dass es nicht zu einem militärischen Eingreifen Russlands kommen werde. Warum wurde ich von der Entscheidung überrascht? Die Antwort lautet: Ich hätte eine solche (Angriffs-) Entscheidung der russischen Führung für einen verhängnisvollen, katastrophalen Fehler gehalten (und habe mein Urteil seither nicht geändert). Und ich konnte mir vor dem 24. Februar 2022 schlicht nicht vorstellen, dass sie einen derartigen Fehler begehen würde.
Es tröstet mich wenig, dass ich mit meinem irrigen Urteil nicht allein stand. Überrascht von der Intervention wurden vor allem Menschen, die kein „Feindbild Russland“ pflegen, sondern an guten, freundschaftlichen Beziehungen interessiert sind. Oliver Stone zum Beispiel. Am 11. Februar 2022 bewertete er in einem Interview mit Robert Scheer die politische und mediale Aufregung über eine angeblich bevorstehende russische Invasion als westliche Propaganda. Er befürchtete vielmehr eine Attacke der ukrainischen Seite, verbunden mit einer False-Flag-Aktion der CIA.
Nicht viel anders Mary Dejevsky. Die Kolumnistin des britischen Independent ist eine versierte Russland-Beobachterin, die ich seit vielen Jahren wegen ihrer kenntnisreichen, nüchternen und fairen Expertisen schätze. Eine gute Woche vor der russischen Intervention trat sie in einer Diskussionsrunde des Programms „Leading Britain‵s Conversation“ auf – und zeigte sich von einer Seite, die ich noch nie an ihr erlebt hatte. Sie lehnte sich denkbar weit aus dem Fenster, argumentierte hoch emotional, ja, sie ereiferte und echauffierte sich geradezu. Die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens Russlands stellte sie mit kaum zu überbietender Vehemenz in Abrede. Man muss es leider sagen: Mary Dejevsky bot, rückblickend betrachtet, eine desaströse Vorstellung.
Von US-Seite war ein russischer Angriff auf die Ukraine mehrfach vorhergesagt worden; zuletzt hatte man sogar einen konkreten (wenn auch unzutreffenden) Termin genannt. Als der vermeintliche Tag X dann ohne besondere Vorkommnisse verstrich, triumphierten all diejenigen (und es waren viele), die von vornherein die Möglichkeit eines Angriffs verneint hatten. Jens Berger schüttete am 16. Februar 2022 auf den NachDenkSeiten kübelweise Hohn und Spott über die politischen und medialen Propagandisten aus und schien den Glauben, dass es in der westlichen Geopolitik noch mit rationalen Dingen zugehe, verloren zu haben.
Ich erwähne das alles nicht, um Stone, Dejevsky, Berger und viele ihresgleichen bloßzustellen – ganz im Gegenteil. Ich habe es damals genauso gesehen. Und von Bergers wildem Kommentar war ich regelrecht begeistert. Allerdings war für mich auch klar: Wenn man so danebenliegt, muss man sich im Nachhinein doch wohl ein paar unangenehme, selbstkritische Fragen stellen. Stattdessen haben manche (nicht alle!), die einen möglichen russischen Angriff ins Reich der Fabel verwiesen hatten, nach ein paar Tagen der Schockstarre damit begonnen, nach plausiblen Erklärungen oder sogar Rechtfertigungen für den dann doch erfolgten Einmarsch zu suchen. Ich halte es demgegenüber für sinnvoller, mich mit dem großen Irrtum, der gravierenden Fehleinschätzung auseinanderzusetzen.
Ist man dazu bereit, besteht ein erster Schritt darin, noch einmal die Ereignisse und Entwicklungen Revue passieren zu lassen, die in den Monaten vor dem russischen Angriff stattfanden – nun allerdings mit dem Wissen, dass es am Ende zu eben diesem Angriff kommen würde. (Viele der im Folgenden aufgeführten Ereignisse und Entwicklungen habe ich mit Hilfe der von der Bundeszentrale für politische Bildung geführten „Chronologie des Ukraine-Konflikts“ rekonstruiert; ich verweise pauschal auf diese Publikation und verzichte in der Regel auf Einzelnachweise.)
Der fast vergessene Aufmarsch
Zunächst ist da ein Déjà-vu. Der russische Militäraufmarsch an der ukrainischen Grenze seit Herbst 2021 war nämlich nicht der erste seiner Art. Durchaus vergleichbare Truppenbewegungen hatte man auch schon ein halbes Jahr zuvor, seit Ende März 2021, beobachten können. Am 19. April sprach der EU-Außenbeauftragte Borrell von mehr als 150.000 russischen Soldaten in der Grenzregion. An der Kontaktlinie zwischen der Ukraine und den „Volksrepubliken“ kam es vermehrt zu Kämpfen. Hat schon damals ein russischer Angriff unmittelbar bevorgestanden? Im Schwarzen Meer und in der Straße von Kertsch fanden russische Militärübungen statt. Seit Ende Juni war auch die NATO im Schwarzen Meer aktiv („Sea Breeze“).
Anfang Mai begann sich die Lage wieder zu normalisieren: Russland zog Teile seiner Truppen aus der Grenzregion ab. Es blieben zwar noch einige Zehntausend Soldaten vor Ort, weshalb der G 7-Gipfel Mitte Juni das Thema noch einmal aufbrachte. Zur gleichen Zeit trafen sich Joe Biden und Wladimir Putin zu einem mehrstündigen Gespräch. Danach passierte nichts mehr. Der Truppenaufmarsch verschwand aus den Schlagzeilen. Die Krise, so schien es, war vorüber.
Die Ukraine hatte die kurze Phase der Unsicherheit genutzt, um wieder einmal auf eine baldige Aufnahme in EU und NATO zu drängen und neue Sanktionen gegen Russland zu fordern (was die EU allerdings ablehnte). Die russische Drohkulisse sorgte auch für diplomatische Aktivitäten, sogar ein Treffen zwischen Putin und Selenskyj war im Gespräch.
Auch Nord Stream 2 wurde von der Ukraine aufs Tapet gebracht – ohne Erfolg. Seit der zweiten Maihälfte verzichteten die USA – aus Rücksicht auf Deutschland – auf Nord Stream 2-Sanktionen. Nach Gesprächen zwischen Merkel und Biden im Juni und Juli einigte man sich auf die Fertigstellung der Pipeline. Der Eindruck entstand, die USA hätten sich mit dem Projekt abgefunden. Unterdessen wurde die Ukraine insbesondere von den USA weiterhin militärisch unterstützt.
Auch die Krim war ein Faktor, der beständig zu Unruhe führte. In der zweiten Maihälfte teilte die Ukraine mit, dass die Wasserversorgung der Halbinsel erst wieder aufgenommen werde, wenn deren „Entmilitarisierung“ und „De-Okkupation“ erfolgt sei. Diesen Zielen diente die „Krim-Plattform“, die im März 2021 aus der Taufe gehoben worden war und im August ihr erstes international besetztes Gipfeltreffen veranstaltete. Auch die andere Seite war aktiv: Anfang Mai berichtete Tass, dass inzwischen 530.000 Menschen in den „Volksrepubliken“ russische Pässe erhalten hätten, bis Ende des Jahres sollten es eine Million sein. Die EU war davon wenig erbaut; in einem internen Papier argwöhnte sie, Russland wolle die Gebiete schrittweise „de-facto integrieren“.
Der nächste Aufmarsch
Nachdem der Frühjahrsaufmarsch fast schon in Vergessenheit geraten war, kam es ab Ende Oktober 2021 erneut zu russischen Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze. Am 20. November warnten die USA ihre Verbündeten vor einem möglichen russischen Angriff auf die Ukraine. Der ukrainische Außenminister hielt eine solche Entwicklung damals für unwahrscheinlich. Zwei Tage später wurden die Amerikaner konkreter: Die US-Geheimdienste gingen angesichts des russischen Truppenaufmarschs von einer möglichen Offensive an mehreren Fronten aus. Russland habe inzwischen mehr als 92.000 Soldaten an der Grenze stationiert und plane eine Invasion Ende Januar oder Anfang Februar 2022.
Dmitri Peskow, der russische Präsidentensprecher, dementierte das selbstredend, sprach von „Hysterie“ und antwortete mit dem Gegenvorwurf, die Ukraine plane ihrerseits eine Invasion der „Volksrepubliken“. Völlig abwegig war diese Unterstellung nicht. Denn auch die Ukraine hatte zur Zeit des russischen Aufmarschs – was in westlichen Medien kaum bis gar nicht berichtet wurde – zehntausende gut ausgebildete und ausgerüstete Soldaten an der Westgrenze des Donbass zusammengezogen.
Welchen Zweck verfolgten diese ukrainischen beziehungsweise russischen Aufmärsche? Das war zum damaligen Zeitpunkt schwer einzuschätzen. Möglich, dass die Aktivitäten defensiver Natur waren, dazu gedacht, bei einer Offensive der anderen Seite schnell eingreifen zu können, möglich aber auch, dass offensive Absichten dahintersteckten.
Anders als im Frühjahr gab es im Herbst und Winter kaum Anzeichen für eine Entspannung der Lage. Schon Ende August hatten der US-amerikanische und der ukrainische Verteidigungsminister ein strategisches Rahmenabkommen unterzeichnet; abermals bekannten sich die USA bei dieser Gelegenheit zur euro-atlantischen Integration der Ukraine. Am 10. November folgte – beglaubigt durch die Außenminister der beiden Länder – die Charta über strategische Partnerschaft zwischen der Ukraine und den USA.
In den „Volksrepubliken“ wurden derweil schwere Waffen an die Kontaktlinie geschafft, immer wieder wurde über – vermutlich von Russland ausgehende – Cyberangriffe auf die Ukraine berichtet. Der Druck schien stetig anzusteigen. Untrügliche Anzeichen: Von verschiedenen Ländern wurde Botschaftspersonal aus der Ukraine abgezogen oder in westliche Landesteile verlegt, Landsleute wurden zum Verlassen der Ukraine aufgefordert, im Donbass gab es groß angelegte Evakuierungen. Die OSZE-Mission wurde des öfteren behindert, bedroht oder angegriffen. Die Aufrüstung der Ukraine lief unterdessen unvermindert weiter. Im Februar 2022 wurde bekannt gegeben, dass das Land seit Beginn des russischen Aufmarschs Militärhilfen im Wert von 1,5 Mrd. Dollar erhalten habe.
Die Krise verschärft sich
Gleichwohl blieben die Einschätzungen im Hinblick auf ein mögliches russisches Eingreifen weiterhin widersprüchlich. Am 14. Januar 2022 erklärte US-Sicherheitsberater Sullivan auf der Basis von Geheimdienstinformationen, Russland bereite in der Ostukraine eine Sonderoperation unter falscher Flagge vor, um einen Angriff auf russische Streitkräfte vorzutäuschen. Dieser ließe sich dann der Ukraine zur Last legen und könne als Vorwand für eine Invasion dienen.
Einige Tage später wiegelte Selenskyj ab. Es gebe keinen Grund zur Panik, die Medien würden Aufregung verbreiten. Der ukrainische Sozialist Volodymyr Artiukh sagte in einem Interview (März 2022), die Eliten seines Landes hätten bis zuletzt nicht an einen Krieg geglaubt. Die abtrünnigen Regionen im Osten seien schon lange wie Ausland behandelt worden, und als Putin sie am 21. Februar 2022 anerkannte, habe man einen kurzen Moment des Aufatmens spüren können – eine Erleichterung, dass man diese Problemregionen endlich losgeworden war.
Am 2. Februar traten auch die USA einen Schritt zurück; Jen Psaki, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, sah einen Einmarsch Russlands nicht mehr als „unmittelbar bevorstehend“ an. Am 11. Februar klang es dann wieder alarmistischer: Russland, so verlautete aus Washington, könne die Ukraine „jederzeit“ angreifen. Es sei zwar unklar, ob Präsident Putin eine Entscheidung bereits getroffen habe, militärisch habe Russland aber alle Voraussetzungen für eine kurzfristige Attacke geschaffen.
Im Gefolge der Truppenaufmärsche kam es zu häufigeren Verletzungen des Waffenstillstands, besonders seit Beginn der zweiten Februarhälfte, also unmittelbar vor der Invasion. Die Mehrzahl der Attacken ging – wie auch in all den Jahren seit Beginn des Konflikts – von ukrainischer Seite aus. Allerdings muss man festhalten, dass die Kampfhandlungen schon seit längerem, eigentlich seit drei, vier Jahren, deutlich abgenommen hatten und es kaum noch zivile Opfer gab. Und auch jetzt spielte sich alles – verglichen mit dem ersten und zweiten Jahr des Konflikts – auf einem sehr niedrigen Niveau ab. Von einem Genozid konnte nicht ernstlich die Rede sein.
Diplomatische Aktivitäten
Wie schon der Aufmarsch im Frühjahr, so waren auch die Truppenbewegungen im Herbst und Winter von diversen diplomatischen Aktivitäten begleitet. Es fanden Treffen etwa im Normandie-Format statt oder im NATO-Russland-Rat. Auch von ukrainischer Seite, also von Selenskyj, gingen Initiativen aus; der ukrainische Präsident wurde aber auch mit Protesten und Rücktrittsforderungen konfrontiert, weil er sich angeblich gegenüber dem Kreml zu nachgiebig zeige.
Am 7. Dezember 2021 kam es zu einem etwa zweistündigen virtuellen Treffen zwischen Biden und Putin. Danach kündigte Biden an, dass es hochrangige Gespräche mit Russland und mindestens vier großen NATO-Verbündeten geben werde, um „die Zukunft der russischen Bedenken gegenüber der NATO im Allgemeinen“ zu erörtern und um zu prüfen, ob man sich auf eine „Senkung der Temperatur an der Ostfront“ einigen könne. Im Fall einer russischen Invasion der Ukraine seien amerikanische Bodentruppen „not on the table“. Allerdings drohte Biden Russland für den Fall des Falles schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen an.
Mitte Dezember legte Russland zwei Entwürfe von Sicherheitsabkommen vor, gerichtet an die NATO und an die USA, in denen es im Wesentlichen um eine garantierte Neutralität der Ukraine und eine Revision der NATO-Osterweiterung ging. Die beiden Vertragsentwürfe knüpften an eine (erfolglose) Initiative an, die der damalige russische Präsident Medwedew im Jahr 2009 ergriffen hatte. Die Antwort der USA auf den neuerlichen Versuch fiel etwas konzilianter aus als die der NATO. Man kann nicht unbedingt behaupten, dass Washington die Moskauer Forderungen arrogant vom Tisch gewischt hätte. Die US-Regierung nannte einige Punkte, über die sie zu verhandeln bereit war. Und doch: Russlands zentrale Anliegen ließ sie links liegen.
Die Schuld des Westens
Die Vertragsentwürfe präsentierten sicherlich ein russisches Maximalprogramm. Es war von vornherein klar, dass die Forderungen nicht allesamt durchsetzbar sein würden, sondern eine Kompromisslinie gefunden werden müsste. Wie mögen wohl die russischen Erwartungen ausgesehen haben? Hat die Führung des Landes nach all den Jahren der Zurückweisung ernstlich auf eine konstruktive Antwort des Westens gehofft? Oder war die russische Initiative vielleicht sogar auf Ablehnung berechnet? Hat man eine negative Antwort provoziert, um anschließend andere Saiten aufziehen zu können?
Diese Fragen wird man vielleicht nie mit letzter Sicherheit beantworten können. Klar ist lediglich, dass es sich um russische Krisendiplomatie handelte – oder um „Diplomatie mit der Brechstange“, wenn man so will. Auch wenn sie rustikal daherkam, bot die Initiative – etwas guten Willen auf westlicher Seite vorausgesetzt – die große Chance, einen Prozess in Gang zu setzen. Trotz ihres ultimativen Charakters eröffnete sie eine der letzten Gelegenheiten, noch zu einer Verständigung zu gelangen und einen Krieg zu vermeiden. Alles hing nun am seidenen Faden, nämlich einer konstruktiven Antwort des Westens, insbesondere der USA. Eine verständigungsorientierte Reaktion hätte der Diplomatie zum Durchbruch verhelfen können. Die westliche Antwort hätte Russland eine Verhandlungsperspektive eröffnen, ihm Vorschläge unterbreiten müssen, denen es sich nicht glaubwürdig hätte entziehen können, die es vielmehr im eigenen Interesse hätte aufgreifen müssen.
Doch die USA und der Westen haben nichts dergleichen getan. Und sie haben es sehenden Auges nicht getan – trotz der Hochspannung, trotz der Vorkriegssituation. Statt auf Diplomatie setzte man auf Drohungen. Dass man mit diesem Ansatz Schiffbruch erleiden würde, hätte spätestens klar sein müssen, als Putin am 21. Dezember 2021 „mit angemessenen militärisch-technischen Vergeltungsmaßnahmen“ drohte. Das war einer der letzten Momente, an denen man das Ruder noch einmal hätte herumreißen können. Stattdessen nahmen die Dinge ihren Lauf. Nicht nur Russland, auch der Westen ging „volles Risiko“.
Der Westen wollte keinen Krieg
Um Missverständnisse zu vermeiden: Mit diesen Feststellungen behaupte ich keineswegs, dass der Westen einen Krieg wollte. Ich bin vielmehr überzeugt, dass er ihn nicht wollte, dass er auch versucht hat, ihn zu verhindern – dies allerdings mit untauglichen Mitteln.
Welches Interesse hätten die USA, welches Interesse hätten andere westliche Länder oder gar die Ukraine an einem russischen Angriff haben sollen? Man war sich vor dem Krieg sowohl in Russland als auch im Westen unter Militärexperten, Analytikern aus Think Tanks etc. einig, dass die Ukraine trotz aller Rüstungsanstrengungen der vorangegangenen Jahre gegen die russische Militärmacht chancenlos wäre. Wenn die Russen ernst machen, so die allgemeine Annahme, wäre der Krieg eine Angelegenheit von wenigen Tagen, allenfalls ein paar Wochen. Auf westlicher Seite musste man also damit rechnen, die Ukraine im Kriegsfall zu verlieren – jene Ukraine, in die man so viele Ressourcen gesteckt hatte und die man mit solcher Mühe zu einem „Anti-Russland“ aufgebaut hatte.
Einige Autoren sehen das anders. Sie verweisen auf die Sanktionspakete, auf den Wirtschaftskrieg, der schon unmittelbar nach der Anerkennung der „Volksrepubliken“ und dann in voller Härte nach der Invasion vom Zaun gebrochen wurde. Dass der Westen diese anti-russischen Maßnahmen von jetzt auf gleich aus der Tasche ziehen konnte, belege, dass sie von langer Hand vorbereitet worden seien – und das wiederum zeige: „Sie wussten, was kam. Sie hatten es ja genau darauf angelegt.“
Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Sie wäre es nur dann, wenn der Westen die Sanktionen heimlich, still und leise vorbereitet und Russland dann am Tag X mit einem Wirtschaftskrieg sondergleichen überrascht hätte. Davon kann aber keine Rede sein. Im Gegenteil, Russland wurde keinesfalls im Unklaren gelassen über die westliche Reaktion im Fall eines Angriffs auf die Ukraine.
Schon Ende April 2021 verabschiedete das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag, der harte Konsequenzen forderte, sollte es zu einer russischen Invasion kommen. Im Einzelnen: ein sofortiger Stopp der EU-Importe von russischem Öl und Gas, der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem sowie das Einfrieren von Vermögenswerten russischer Oligarchen. In den Folgemonaten wurden Russland von westlichen Spitzenpolitikern immer wieder Höllenqualen angedroht, sollte es die Ukraine attackieren.
Es leuchtet unmittelbar ein: Hätte der Westen ein Interesse an Russlands Einmarsch in die Ukraine gehabt, hätte er Russland zu diesem Schritt verlocken oder provozieren wollen, dann wäre die Drohung mit härtesten Sanktionen sicherlich nicht zielführend, sondern geradezu kontraproduktiv gewesen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Sanktionsdrohungen Russland vom Invasionsschritt abschrecken sollten.
Um es zu wiederholen: Was man dem Westen vorwerfen kann und vorwerfen muss, ist die Tatsache, dass er in Sachen Kriegsverhinderung nicht auf ernsthafte Diplomatie setzte, sondern ausschließlich mit Drohungen arbeitete. Damit ging er ein enormes Risiko ein und handelte unverantwortlich. Russland wird sich angesichts dieser intransigenten Politik in seiner Haltung, dass man mit dem Westen ohnehin nicht vernünftig reden könne, bestätigt gefühlt haben.
Auftritt Macron
An dieser Stelle wird es höchste Zeit, eine wichtige Differenzierung vorzunehmen: Der Westen sprach (und spricht) mit Blick auf den russisch-ukrainischen Konflikt nicht mit einer Stimme. Großbritannien, die USA und die Länder des „neuen Europa“ (Donald Rumsfeld) agieren unverkennbar militanter und weniger kompromissbereit als die Vertreter des „alten Europa“. Unter letzteren scheint vor allem Frankreich stärker als viele seiner Verbündeten an einer diplomatischen Lösung interessiert (gewesen) zu sein.
Präsident Macron, der bis in die jüngste Vergangenheit immer mal wieder außenpolitische Duftmarken setzte, traf am 7. Februar 2022 Wladimir Putin in Moskau (man erinnert sich an den langen Tisch) und deutete im Vorfeld seiner Reise an, der Westen müsse im Hinblick auf berechtigte russische Sicherheitsbedürfnisse verständigungsbereit sein. Tags darauf besuchte er erstmals (!) die Ukraine und betonte in einer Pressekonferenz im Beisein Selenskyjs, die Minsker Vereinbarungen seien der einzige Weg, einen drohenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu verhindern. Eine Woche später berichtete der Kyiv Independent, Macron habe Selenskyj während seines Besuchs gedrängt, mit den Führern der „Volksrepubliken“ direkt zu verhandeln – was Putin ebenfalls immer wieder gefordert hatte, Selenskyj aber stets ablehnte.
Es ist interessant, dass Macron noch weitere Versuche unternahm, den Ausbruch eines Kriegs zu verhindern. Am 20. Februar 2022 (einem Sonntag) telefonierte er zweimal mit Putin und einmal mit Biden. Er wollte ein Treffen der beiden vermitteln. Diese Bemühungen sind bekanntlich gescheitert. Die US-Präsidentensprecherin Jen Psaki sagte am 22. Februar (Dienstagabend, Ortszeit) das in Aussicht genommene Gespräch ab; auch zwischen den beiden Außenministern Lawrow und Blinken kam keine Unterredung mehr zustande.
Eines der beiden Telefonate zwischen Macron und Putin wurde im Juni 2022 im Wortlaut veröffentlicht. Es ist höchst aufschlussreich, sich die Unterredung der beiden genauer anzusehen. Sie zeigt auf der einen Seite einen Macron, der alles in seiner Kraft Stehende versucht, um eine Eskalation zu verhindern, auf der anderen Seite einen Putin, der sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befindet und sich einem rationalen, ergebnisorientierten Gespräch beinahe unzugänglich zeigt. Während Macron durchweg die Nerven behält und erkennbar um eine Verständigung bemüht ist, zeigt sich Putin meist ungeduldig, unwirsch und destruktiv.
Bedenkt man, dass es in der Kommunikation der beiden Präsidenten um Krieg und Frieden ging, ja, um eine der letzten Gelegenheiten, den Frieden zu retten, dann erscheinen die Umstände, unter denen sie ihre Unterredung führten, einigermaßen bizarr. Wie sich gegen Ende des Telefonats herausstellte, befand sich Putin gerade im Fitness-Studio und machte sich bereit für ein Eishockeyspiel...
Macron und Putin telefonieren
Macron eröffnet den Austausch mit der Beobachtung, dass die Spannungen im Ukraine-Konflikt ständig wüchsen. Er versichert Putin, dass er (Macron) fest entschlossen sei, den Dialog zu suchen und fortzusetzen. Dann will er von Putin dessen Einschätzung der Lage erfahren. Putin eröffnet seinen Part mit einem leicht ratlosen „Was soll ich sagen?“. Er erinnert daran, dass Macron und Scholz versichert hätten, Selenskyj sei bereit, einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen vorzulegen. Doch nichts dergleichen geschehe – Selenskyj lüge. Und jetzt wolle er auch noch Atomwaffen. (Putin spielt hier auf die Rede Selenskyjs vor der Münchner Sicherheitskonferenz an; eine Beraterin Macrons flüstert diesem zu, die Behauptung Putins sei unzutreffend.)
Schließlich unterstellt Putin, Macron habe auf seiner Pressekonferenz in Kiew gefordert, die Minsker Vereinbarungen müssten überarbeitet werden, um umsetzbar zu sein. Macron entgegnet, dass er niemals eine Revision der Minsker Vereinbarungen verlangt habe, weder in Kiew noch in Berlin oder Paris. Er sei vielmehr der Überzeugung, dass die Vereinbarungen umgesetzt werden müssen. Aber er deute die vergangenen Tage anders als Putin.
Putin fragt dann, welches Problem Macron eigentlich mit den Separatisten habe. Diese hätten doch wenigstens – auf Moskaus Drängen – alles Erforderliche getan, um einen konstruktiven Dialog zu eröffnen. Macron entgegnet, nicht die Separatisten hätten der Kiewer Regierung Vorschläge für Gesetze zu unterbreiten, sondern, umgekehrt, die Regierung den Separatisten. Putin weist diesen Einwand zurück. Macron beharrt auf seiner Sichtweise. Er habe die Minsker Vereinbarungen vor sich liegen, und im Paragrafen 9 sei klar geregelt, dass die demokratisch gewählte Regierung in Kiew mit Gesetzentwürfen in Vorlage trete, um dann mit der anderen Seite zu verhandeln.
Nun vollzieht Putin eine überraschende Rochade. Man könnte auch sagen, er geht zurück auf „Los“, ins Jahr 2014. Er behauptet, die Regierung in Kiew sei gar nicht, wie Macron gesagt hatte, demokratisch legitimiert, sondern sie sei das Ergebnis eines Staatsstreichs (in seinen Ansprachen vom 21. und 24. Februar wird Putin mit Blick auf die Wahlen in der Ukraine arrogant und herabsetzend von „rein dekorativen Wahlprozeduren“ und „elektoralen politischen Prozeduren“ sprechen). Sie habe Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt (ein Hinweis auf das Massaker von Odessa) und ein Blutbad angerichtet. Selenskyj sei einer der Verantwortlichen. Putin weist dann nochmals darauf hin, die Separatisten hätten Vorschläge unterbreitet, aber keine Antwort erhalten. Wo also sei der Dialog?
Macron wiederholt: Die Minsker Vereinbarungen legten fest, dass die Regierung Vorschläge unterbreite, auf welche die Separatisten antworten. Im Übrigen stelle sich die Frage, ob Putin überhaupt noch zum Minsker Abkommen stehe, wenn er die Regierung in Kiew für illegitim und terroristisch halte. Nunmehr behauptet Putin – immer noch sehr gereizt – die Separatisten hätten ja auf Vorschläge der Regierung reagiert, aber dann sei Kiew nicht mehr darauf eingegangen (hier konzediert Putin überraschenderweise genau das, was er zu Beginn und im bisherigen Verlauf des Gesprächs noch bestritten hatte: dass Kiew den Separatisten Vorschläge unterbreitet hatte).
Macron wird konkret
Macron, eindeutig in dem Bestreben, zu konkreten Ergebnissen zu gelangen, übergeht den Widerspruch stillschweigend und schlägt vor, dass aufgrund des von Putin angesprochenen Regierungsentwurfs sowie der Antwort der Separatisten schon am nächsten Tag die trilaterale Kontaktgruppe zusammentreten und verhandeln solle. Er werde Selenskyj dazu explizit auffordern. Putin solle entsprechenden Druck auf die Separatisten ausüben.
Putin scheint bereit, auf den Vorschlag einzugehen, betont aber, dass man von Anfang an einen Druck dieser Art auf die Ukrainer hätte ausüben müssen – aber niemand habe das tun wollen. Macron erwidert, er habe seit jeher maximalen Druck auf Kiew ausgeübt, und Putin wisse das auch ganz genau. Abermals überraschend: Putin bestätigt, dass er von Macrons Engagement weiß, fügt aber hinzu, dass dieser leider keinen Erfolg gehabt habe.
Macron betont, dass es jetzt vor allem wichtig sei, die angespannte Situation an der Kontaktlinie zu stabilisieren. Er habe „gestern“ in diesem Sinne auf Selenskyj eingewirkt. Man müsse nicht nur die Kombattanten beruhigen, sondern auch die sozialen Medien, einfach alle. Dann will er von Putin wissen, wie die Militärmanöver an der Grenze laufen. „Nach Plan“, antwortet dieser. „Sie enden also diesen Abend, richtig?“, fragt Macron. „Ja, wahrscheinlich heute Abend“, bestätigt Putin (eine Lüge, wie sich bald herausstellen sollte). Man werde aber ein gewisses Kontingent an der Grenze belassen, bis sich die Lage beruhigt hat.
Gipfeltreffen Biden/Putin?
Macron versichert Putin, dass ihm alles daran liege, die Diskussion in den richtigen Rahmen zu bringen und Spannungen zu vermeiden. Es gehe darum, die Situation unter Kontrolle zu behalten. Er verlasse sich auf Putin. Und er bittet ihn, sich nicht provozieren zu lassen. Sodann schlägt Macron ein Treffen zwischen Putin und Biden vor. Es solle „in den nächsten Tagen“ stattfinden. Dazu wörtlich:
„Ich habe am Freitagabend mit ihm [Biden, U.T.] gesprochen und ihn gefragt, ob ich Dir diesen Vorschlag machen kann. Er hat mir gesagt, ich solle Dir sagen, dass er dazu bereit sei. Präsident Biden hat auch darüber nachgedacht, wie man die Situation glaubwürdig deeskalieren, Deine Forderungen berücksichtigen und die Frage der NATO und der Ukraine sehr deutlich ansprechen kann. Nenne mir einen Termin, der Dir passt.“
Putin antwortet nun erstmals in einem konzilianten Ton:
„Vielen Dank, Emmanuel. Es ist mir immer ein großes Vergnügen und eine große Ehre, mit Deinen europäischen Amtskollegen sowie mit den Vereinigten Staaten zu sprechen. Und es ist mir immer eine große Freude, mit dir einen Dialog zu führen, weil wir in einer vertrauensvollen Beziehung zueinander stehen. Deshalb, Emmanuel, schlage ich Dir vor, die Dinge umzukehren. Zuallererst müssen wir dieses Treffen im Vorfeld vorbereiten. Erst danach können wir reden, denn wenn wir einfach so kommen, um über alles und nichts zu reden, wird man uns das wieder vorwerfen.“
Die beiden einigen sich im Prinzip auf ein baldiges Gipfeltreffen Biden/Putin; sie delegieren die Vorbereitung und die noch zu klärenden Details an ihre Mitarbeiter. Macron verabschiedet sich mit den Worten „Wir bleiben in ständigem Kontakt. Sobald etwas ist, rufst Du mich an.“ Putin verabschiedet sich auf Französisch: „Je vous remercie Monsieur le président.“
Einen Tag nach dem Telefonat mit Macron erkannte Putin die „Volksrepubliken“ als unabhängige Staaten an, nach weiteren drei Tagen gab er den Befehl zum Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine.
Es ließen sich weitere Beispiele für die von mir behauptete hohe Emotionalität Putins im unmittelbaren Vorfeld des Kriegs anführen. Da ist zum Beispiel die (im Fernsehen übertragene) Zusammenkunft des russischen Sicherheitsrats, in der die Anerkennung der „Volksrepubliken“ beschlossen wurde. Putin thronte dort wie ein Zirkusdirektor auf der einen Seite der Manege, auf der anderen Seite – in gehörigem Abstand – saßen im Halbkreis die Mitglieder des Rats. Jeder einzelne musste vortreten und die zu treffende Entscheidung gutheißen. Als der Chef des Auslandsgeheimdienstes an der Reihe kam, lief die Sache nicht ganz nach Plan. Sergei Naryschkin war offenkundig nervös, verhaspelte sich, schien Dinge ausführen zu wollen, an denen Putin kein Interesse hatte. Also unterbrach er ihn, gab ihn der Lächerlichkeit preis, demütigte ihn nach allen Regeln der Kunst – bis Naryschkin schließlich seinen Spruch zur Zufriedenheit des Präsidenten aufgesagt hatte. Es war abstoßend. Wer da immer noch überzeugt ist, der russische Angriff sei allein das Ergebnis einer rationalen, wohlüberlegten Kollektiventscheidung gewesen, sollte sich diese Szene zu Gemüte führen.
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Der Rest ist schnell erzählt. Die „Spezielle Militäroperation“ scheiterte schon nach kurzer Zeit. Der Konflikt hat seinen anfänglich vielleicht noch begrenzten Charakter längst verloren. Als klar wurde, dass Russland keinen schnellen Sieg erringen würde, nutzte der Westen die Gunst der Stunde, warf sich ins Zeug und tat alles, um den Krieg zu verlängern, auszuweiten, zu intensivieren. Er wird zwar (bislang nur) in der Ukraine ausgetragen, doch es steht viel mehr als bloß die Ukraine auf dem Spiel. Die Auseinandersetzung ist vierdimensional: es handelt sich um einen ukrainischen Bürgerkrieg, um einen russisch-ukrainischen Krieg, potentiell um einen Krieg zwischen Russland und der NATO und potentiell um einen Krieg zwischen Russland und den USA.
Oder in den Worten von Ned Price, dem Sprecher des US-Außenministeriums (schon am 21. März 2022): „...dies ist ein Krieg, der in vielerlei Hinsicht größer ist als Russland, größer als die Ukraine...“. Oder in den Worten von Sergei Lawrow: „alles, was in der und um die Ukraine herum geschieht, ist Teil des sich entfaltenden Kampfes um die künftige internationale Ordnung“. Oder in den Worten der Publizisten Jeffrey Goldberg und Anne Applebaum: „Das Schicksal der NATO, die Stellung Amerikas in Europa, ja die Stellung Amerikas in der Welt, all das steht auf dem Spiel.“ „Dies ist ein Krieg um eine grundlegende Definition nicht nur der Demokratie, sondern der Zivilisation."
Die Ukraine, die vor dem Krieg und unmittelbar nach Kriegsausbruch vielleicht kompromissbereit gewesen wäre, ist es inzwischen nicht mehr. Sie hat die Befreiung aller besetzten Gebiete einschließlich der Krim auf ihre Fahnen geschrieben. Zudem hat sie offenkundig ein Interesse daran und tut einiges dafür, den Krieg auszuweiten und westliche Länder, insbesondere die USA, immer tiefer hineinzuziehen. Das US-Magazin The American Conservative hat die Ukraine kürzlich als „in die Enge getriebenes Tier“ beschrieben, das bereit sei, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren.
Ist vor diesem Hintergrund vorstellbar, dass Russland in absehbarer Zeit – und unter der Voraussetzung, dass es die jetzt annektierten vier Regionen gesichert hat – die „Militäroperation“ beendet? Und dass man in Kiew oder im Westen generell eine solche Wendung einfach hinnähme und die Kampfhandlungen ebenfalls einstellte?
Das ist aus meiner Sicht unwahrscheinlich. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Russland mit einem solch bescheidenen Ergebnis zufriedengäbe. Das Land wäre zwar ein Stück nach Westen vorgerückt, hätte aber nach wie vor eine gemeinsame Grenze mit der (nunmehr tief verfeindeten) Ukraine und also mit potentiellem oder faktischem NATO-Land. Die russische Sicherheitslage hätte sich durch den Krieg nicht verbessert, sondern – zieht man den NATO-Beitritt Finnlands mit in Betracht – sogar verschlechtert.
Kein erkennbarer Ausweg
Beide Konfliktparteien haben die Latte extrem hoch gelegt, vermutlich unerreichbar hoch. Russland will letztlich eine grundlegend veränderte Sicherheitsarchitektur, der US-geführte Westen sieht sich ebenfalls in einer geopolitischen Auseinandersetzung und zielt darauf ab, Russland eine strategische Niederlage beizubringen oder das Land zumindest nachhaltig zu schwächen. Das große Dilemma besteht darin, dass keine der beiden Seiten sich wird durchsetzen können; keine wird einen wie auch immer gearteten oder definierten „Sieg“ erringen.
Wohl aber verfügen beide Seiten über die Kraft, eine Niederlage zu verhindern – und sie werden diese mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwenden wissen. Hier liegt die eigentliche Gefahr. Wir haben es mit einem Konflikt zu tun, der für beide Parteien existentiell ist. Im Fall einer westlichen Niederlage wäre der Westen nicht mehr der Westen. Und im Fall einer russischen Niederlage wäre Russland nicht mehr Russland. Beide Seiten haben die Einsätze derart gesteigert, dass eine Niederlage schlicht nicht mehr in Betracht kommt. Sie ist keine Option.
Ein Ausweg ist für mich derzeit nicht zu erkennen. Aus diesem Grund teile ich die düstere Prognose des Realisten John Mearsheimer: „The Ukraine war will end in horror.“
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