Zerstörtes Gebäude in Kiew nach nächtlichem Drohnenangriff, 8. Mai 2023 - picture alliance / AA | Andre Luis Alves

Ein Ende mit Schrecken? Krieg in der Ukraine

Wann und warum hat Russland beschlossen, Krieg gegen die Ukraine zu führen? Auf der einen Seite stand eine vermutlich schon länger zurückliegende Grundsatzentscheidung. Mit ihr zog man ein militärisches Eingreifen ernsthaft in Erwägung, man betrachtete es als eine Handlungsoption, von der man bei Bedarf Gebrauch machen konnte. Auf der anderen Seite stand die Entscheidung, es tatsächlich zu tun, also einen konkreten Einsatzbefehl zu geben. Während die Grundsatzentscheidung einen mehrjährigen Vorlauf hatte und auf einem rationalen Kalkül basierte, fiel die konkrete Einsatzentscheidung kurzfristig, einige Tage oder allenfalls wenige Wochen vor dem 24. Februar 2022. Sie erfolgte unter enormem Stress und war unverkennbar emotional gefärbt.

ULRICH TEUSCH, 8. Mai 2023, 27 Kommentare, PDF

In meinem Multipolar-Artikel „Die Putin-Interviews und der Krieg“ vom 26. März 2023 habe ich mich eingehend mit den Gesprächen beschäftigt, die der US-amerikanische Filmregisseur Oliver Stone zwischen 2015 und 2017 mit dem russischen Staatspräsidenten geführt hat. Ich habe versucht, die Diskrepanz herauszuarbeiten zwischen den Einsichten, Überzeugungen und Maximen, die Putin in den Interviews offenbarte, und dem, was er heute im Konflikt mit der Ukraine und dem Westen praktisch tut. Und ich hatte angekündigt, in einem zweiten Artikel nach möglichen Gründen für diese Diskrepanz zu suchen und den mutmaßlichen Sinneswandel Putins zu erklären.

Auf meinen Text trafen zu meiner Überraschung recht viele Zuschriften ein. Sie waren durchweg kritisch bis ablehnend, auch Gegenpositionen wurden formuliert. Manchmal wurde ich von Leserinnen und Lesern direkt, persönlich angesprochen und dazu ermuntert, die Kritiken konstruktiv aufzunehmen, über meine eigenen Bewertungsmaßstäbe und unausgesprochenen Überzeugungen nachzudenken und diese offenzulegen, mich also um Transparenz zu bemühen und auf einen Diskurs einzulassen.

Auch wenn es für mich ungewohnt ist – dazu bin ich gerne bereit. Diese Bereitschaft bringt es allerdings notwendigerweise mit sich, dass mein Beitrag nun formal und inhaltlich einen etwas anderen Charakter annimmt als ursprünglich geplant. Weil diskursiv, wird er länger ausfallen, weniger strukturiert und stringent, weniger kompakt sein. „Diskursiv“ heißt für mich auch immer: offen, vorläufig, unabgeschlossen, work in progress. Die Kritiker werde ich mit den folgenden Ausführungen womöglich nicht zufriedenstellen können und ihnen vielleicht sogar neue Angriffsflächen bieten – was aber ganz in meinem Sinn wäre: denn ich will nicht in erster Linie andere von meinen Ansichten überzeugen, sondern zu einer reflektierten Urteilsbildung anregen und beitragen.

Drei Punkte vorab

Es würde den Rahmen dieses Artikels endgültig sprengen, wollte ich auf alle Einzelargumente eingehen, die in den Leserkommentaren vorgetragen wurden. Dennoch möchte ich vorab – bevor ich zum eigentlichen Thema komme – drei Punkte aus den Kommentaren kurz aufgreifen:

Punkt eins: Ich hatte in meinem Artikel festgestellt, Putin habe in den Stone-Interviews militärische Gewalt als Problemlöser in der Ukraine kategorisch ausgeschlossen. Helene Bellis widerspricht mit dem Hinweis, Putin habe einen Krieg in der Ukraine lediglich als „Worst-Case-Szenario“ bezeichnet. Ich hatte mich bei meiner Aussage allerdings auf ein anderes Putin-Zitat bezogen. Dort sagte er mit Blick auf die Eventualität eines Kriegs: „Es würde nur mehr Opfer geben, aber das Fazit wäre kein anderes als heute. Konflikte dieser Art, also Konflikte wie im Donbass, lassen sich nicht mit Waffen lösen. Da muss es schon direkte Gespräche geben.“ Eine eindeutige Aussage, wie ich finde.

Punkt zwei: Ulrich Karrasch schreibt, Wolodymyr Selenskyj habe im Februar 2022 auf der Münchner Sicherheitskonferenz – angeblich unter „standing ovations“ der Versammelten – in Aussicht gestellt, dass sich die Ukraine nicht länger an das Budapester Memorandum von 1994 gebunden fühlen und sich wieder Atomwaffen zulegen könnte. Ich kann nur dringend empfehlen, den Text von Selenskyjs Rede nachzulesen oder sich das entsprechende Video anzuschauen. Selenskyj beklagte, das Budapester Memorandum habe der Ukraine keine wirkliche Sicherheit gebracht; er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO sich als wirksamer erweisen werde. Und er kündigte eine diplomatische Initiative an: Er wolle die am Budapester Memorandum beteiligten Mächte zu einem Treffen zusammenrufen und einen letzten Versuch unternehmen, das Abkommen zu retten.

Punkt drei: Der russische Krieg ist und bleibt aus meiner Sicht eindeutig völkerrechtswidrig. Russland ist von niemandem angegriffen worden und hat das auch nie behauptet. Und Präventivkriege sind im Völkerrecht nicht vorgesehen. Alfred de Zayas ist ein renommierter Völkerrechtler, der sich in seiner Kritik an westlicher Geopolitik und in seinem Verständnis für die Situation Russlands von kaum jemandem übertreffen lässt. Doch auch für ihn unterliegt es keinem Zweifel, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig ist. Ich verweise an dieser Stelle der Einfachheit halber auf seine Argumentation, werde aber an späterer Stelle auf völkerrechtliche Aspekte noch ausführlicher zurückkommen.

Russophob und russophil

Und damit zum eigentlichen Thema! Zunächst und grundsätzlich: Ich bedarf nicht der Belehrung, dass der Westen in Sachen illegaler Kriege und Kriegsverbrechen, in Sachen Täuschung, Heuchelei und Doppelstandards seit dem Ende des Ost-West-Konflikts weit mehr auf dem Kerbholz hat als Russland. Was speziell die westliche Führungsmacht angeht, glaube ich zudem, dass man das Wesen US-amerikanischer Geopolitik weniger in der Sorge um eine „regelbasierte Ordnung“ als im Führen endloser Kriege zu suchen hat. Das entschuldigt und rechtfertigt jedoch nichts von dem, was Russland seit dem 24. Februar 2022 getan hat und weiterhin tut. Um Oliver Stone zu zitieren: „A dozen wrongs don’t make a right.“ Im Übrigen habe ich in meinem Artikel zu den Stone-Interviews nicht das Handeln Putins mit dem des Westens verglichen, sondern es an den von ihm selbst entwickelten Kriterien gemessen. Und natürlich auch, wie ich gern zugebe, an meinen eigenen Maßstäben.

Was zur Frage führt: Haben meine Grundüberzeugungen und Vorurteile in meine Analyse hineingespielt und sie möglicherweise in eine bestimmte Richtung gedrängt? Das haben sie ganz sicher getan. Sie haben es getan, obwohl ich mich in meiner Arbeit redlich bemühe, etwaige Verzerrungen zu erkennen und auszuschließen. Deshalb stelle ich mir beinahe täglich und in unterschiedlichen Zusammenhängen eine Frage (die sich, wie ich finde, jeder publizistisch Tätige von Zeit zu Zeit stellen sollte): Warum glaube ich, was ich glaube? Das heißt: Ich begebe mich immer wieder auf den Prüfstand. Aus Gründen der Selbstkontrolle nehme ich deutlich mehr Informationen aus Quellen auf, von denen ich weiß, dass sie meine Ansichten nicht teilen, als von solchen, mit denen ich in der Regel übereinstimme. Ich lebe und arbeite also nicht in einer Echokammer oder Filterblase.

Stefan Korinth hat jüngst in einem Multipolar-Artikel eindrucksvoll demonstriert, wie tief russophobe Stereotypen und Vorurteile ins westliche (Unter-) Bewusstsein eingegraben sind. Es gibt aber auch das Gegenteil, nämlich russophil eingestellte Menschen (ich zähle mich zu ihnen), die von diesem großen Land und seiner ethnischen und religiösen Vielfalt fasziniert sind oder eine besondere Zuneigung zu dessen kulturellen und künstlerischen Leistungen hegen. Eine solche Affinität kann das Urteil – auch über aktuelle politische Vorgänge – ebenso beeinflussen wie es russophobe Aversionen können, wenn auch in gegenteiliger Richtung. Man muss sich dann immer wieder disziplinieren oder selbstkritisch befragen. Habe ich aus Sympathie zu großzügig geurteilt? Oder auch: Habe ich übermäßig kritisch geurteilt, um nicht zum Opfer meiner positiven Voreingenommenheit zu werden?

Russland im Innern

Was die inneren Verhältnisse Russlands seit dem Ende der Sowjetunion angeht, unterscheide ich eine analytische und eine normative Ebene. Auf analytischer Ebene bin ich der Auffassung, dass man die Erwartungen an die politische, soziale und ökonomische Entwicklung Russlands nicht zu hoch schrauben sollte. Nach Jahrhunderten zaristischer Autokratie, nach sieben Jahrzehnten kommunistischer Diktatur, nach der für viele Russen traumatischen Jelzin-Regentschaft war nicht zu erwarten, dass sich das komplexe russische Riesenreich innerhalb weniger Jahre in einen lupenreinen demokratischen und sozialen Rechtsstaat verwandeln würde. In der langen Putin-Ära schien mir jedoch vieles – vor allem im ersten Jahrzehnt – in die richtige Richtung zu gehen.

Auf normativer Ebene sieht es anders aus. Ich bin weit davon entfernt, im heutigen Russland ein für mich attraktives gesellschaftspolitisches Modell zu sehen. Entsprechend groß ist meine Distanz – auch zu Putin. Ich halte zwar nichts davon, ihn nach Mainstream-Art zu dämonisieren, kann aber auch nicht nachvollziehen, dass er sich außerhalb des Mainstreams – nicht zuletzt links davon – teils hoher Sympathiewerte erfreut. Putin ist aus meiner Sicht ein autoritärer, konservativer, pro-kapitalistischer Machtpolitiker, wobei die autoritäre Komponente nun, da sich Russland im Krieg befindet, immer stärker zur Geltung kommt. (Um die Ukraine steht es übrigens keinen Deut besser, im Gegenteil. Sie droht als „failed state“ zu enden.)

Realismus

Damit wechsle ich zur internationalen Politik, um die es ja im Krieg in der Ukraine vorrangig geht. Auch hier unterscheide ich eine analytische von einer normativen Ebene. In analytischer Hinsicht begreife ich mich als Realist – Realist nicht im Alltagsverständnis, sondern im Sinne der „realistischen Denkschule“ in der Politikwissenschaft. Deren prominentester und einflussreichster Vertreter ist derzeit der US-Amerikaner John Mearsheimer.

Aus realistischer Sicht ist das internationale System souveräner Staaten „anarchisch“. Oberhalb der Staaten existiert keine Instanz, die diesen gegenüber weisungsbefugt wäre (zum Beispiel eine Weltregierung). Anders als im innerstaatlichen Bereich fehlt auf dem internationalen Feld ein Gewaltmonopol. Das heißt: Im Rahmen des internationalen Systems sind die Staaten in letzter Instanz auf sich selbst angewiesen. Sie verfolgen ihre nationalen Interessen. Sie tun dies oft auf Kosten anderer Staaten. Sie rüsten zum Beispiel auf und nötigen damit ihre Konkurrenten oder Gegner zur Nachrüstung. Sie akkumulieren Macht, von der sich andere Staaten bedroht fühlen und also Gegenmacht bilden. Es entstehen Sicherheitsdilemmata. Einzelne Staaten streben nach regionaler oder globaler Hegemonie, während andere sich bemühen, das Gleichgewicht zu erhalten oder wieder herzustellen. Immer wieder versuchen Staaten, ihre Interessengegensätze durch Krieg zu lösen.

Trotz der anarchischen Grundkonstellation sind im Zusammenleben der Staaten im Lauf der Jahrhunderte Fortschritte erzielt worden beziehungsweise Zivilisierungstendenzen erkennbar. Es hat sich eine „Staatengesellschaft“ herausgebildet (eine „International Society“, wie man vor allem in der britischen Politikwissenschaft gerne sagt). Die Staatengesellschaft basiert auf gemeinsamen Werten und Prinzipien, die nach und nach Grenzen überschritten und schließlich globale Anerkennung gefunden haben (zum Beispiel in Gestalt von Menschenrechts-Deklarationen). Die Staatengesellschaft hat ein immer umfassenderes und differenzierteres Völkerrecht ausgebildet, eine Vielzahl internationaler Institutionen und Organisationen geschaffen, sie hat Verträge geschlossen und Vertragstreue bewiesen, ein System der Diplomatie etabliert, zahlreiche Mechanismen der Konfliktregulierung erdacht und erprobt. Auch wenn Staaten weiterhin prinzipiell unter anarchischen Bedingungen existieren, ist es ihnen doch gelungen, sich selbst zu organisieren, positive Entwicklungen in Gang zu setzen und diese zu sichern.

Russland international

Bis zum 24. Februar 2022 war ich der Überzeugung, dass Russland diese Ausprägung der Staatengesellschaft im Großen und Ganzen nicht nur unterstützt, sondern sie auch gegen Gefährdungen verteidigt: insbesondere gegen die unilateralen, global-hegemonialen Bestrebungen der USA und des Westens, gegen illegale Kriege und Völkerrechtsbrüche, gegen Versuche der Destabilisierung von Staaten, gegen die einseitige Aufkündigung wichtiger Verträge und die Erosion internationaler Organisationen. Russland tat dies natürlich nicht zuletzt aus Eigeninteresse. Denn das Land braucht, so schien mir, friedliche, stabile, zuverlässig kalkulierbare, multipolare Verhältnisse. Es braucht diese Verhältnisse vor allem, um seine inneren Ziele erreichen zu können. Unter Bedingungen der Unsicherheit und Bedrohung kann es sich nur schlecht entwickeln und kaum prosperieren.

Dies ist ein wesentlicher Grund, warum der große weltpolitische Antagonist Russlands – also die USA – vor allem als anti-russischer Störfaktor agiert. Einen geradezu paradigmatischen Stellenwert kann man hier einem umfangreichen, feindseligen Dokument aus dem Jahr 2019 zuschreiben. Darin entwickelte die Pentagon-nahe Rand Corporation mit diabolischer Kreativität eine Unzahl konkreter Vorschläge und Ideen, alle dazu gedacht, Russland im Innern und nach außen in Schwierigkeiten zu bringen. Kein Gedanke wurde an Möglichkeiten des Ausgleichs, der Verständigung, der Kooperation verschwendet. Es handelte sich um Anti-Diplomatie in Reinkultur.

Aus rein analytischer Perspektive konnte ich das Verhalten und Handeln Russlands in der Außen- und Sicherheitspolitik seit dem Ende des ersten Kalten Kriegs meist ohne große Probleme nachvollziehen. Trotzdem habe ich es nicht immer gutgeheißen. Hier kommt die normative Dimension ins Spiel. Während ich auf analytischer Ebene einem realistischen Ansatz folge, verstehe ich mich auf normativer Ebene als Pazifist – und zwar als Pazifist im Sinne der UNO-Charta.

Friedenspflicht und Gewaltverbot

Die UNO-Charta ist etwas anderes als die gegenwärtig vielzitierte dubios-diffuse „regelbasierte Ordnung“. Wenn irgendwo verbindliche Regeln für das Leben und Zusammenleben von Völkern, Nationen, Staaten fixiert sind, dann doch wohl in diesem aus dem Jahr 1945 stammenden Dokument – sowie in einigen anderen völkerrechtlich verbindlichen Abkommen, wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (beide aus dem Jahr 1966).

Die UNO-Charta ist gleichsam die Grundlage aller Grundlagen. Sie legt ihren Mitgliedsstaaten eine Friedenspflicht auf und untersagt die Anwendung und Androhung von Gewalt. Und zwar in dieser Reihenfolge! Also, über allem steht die Friedenspflicht. Dann kommt das Gewaltverbot. Und noch einmal: Das Gewaltverbot beginnt nicht erst mit der Anwendung, sondern schon mit der Androhung von Gewalt.

Verletzungen des (Völker-) Rechts

In vielen Leserkommentaren zu meinem Beitrag vom 26. März wurden rechtliche beziehungsweise völkerrechtliche Fragen angesprochen. Wer den Ukraine-Konflikt unter diesem Aspekt betrachtet, läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren. Denn hier wurde und wird (Völker-) Recht permanent verletzt. Rechtswidrig beziehungsweise völkerrechtswidrig war schon die westliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine im Vorfeld des Staatsstreichs 2014, war der Staatsstreich als solcher, waren die russischen Interventionen im Donbass, war die Missachtung des vom UNO-Sicherheitsrat bestätigten Minsker Abkommens, waren die Verletzungen des Waffenstillstands entlang der Kontaktlinie. Rechtswidrig beziehungsweise völkerrechtswidrig war und ist der russische Einmarsch in die Ukraine, war und ist die russische Annexion von vier Donbass-Provinzen (nachdem man zwei von ihnen kurz vorher noch als unabhängige Staaten anerkannt hatte), war und ist die Drohung mit Nuklearwaffen.

Äußerst fragwürdig ist auch das westliche Sanktionsregime. Es scheint mittlerweile völlig in Vergessenheit geraten zu sein, dass der UNO-Sicherheitsrat für die Verhängung von Sanktionen zuständig ist, unilaterale Zwangsmaßnahmen folglich gegen die Charta verstoßen. Zudem enthalten die westlichen Sanktionspakete schier unglaubliche Einzelmaßnahmen, etwa das Einfrieren der Auslandsvermögen russischer „Oligarchen“ und die geplante Zweckentfremdung der Mittel zum Wiederaufbau der Ukraine.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Ukraine das Recht hat, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Und andere Staaten dürfen ihr militärischen Beistand leisten. Aber was hat es noch mit der Treue zum Völkerrecht zu tun, wenn westliche Länder den Krieg in der Ukraine zu ihrem machen, ihn manichäisch überhöhen als Entscheidungsschlacht zwischen Demokratie und Autoritarismus, wenn sie eigene Kriegsziele definieren (die Ukraine müsse gewinnen, Russland müsse verlieren, mindestens nachhaltig geschwächt, am besten ruiniert, vielleicht sogar in kleinere Einheiten zerschlagen werden); wenn sie all dies durch zügellose und gleichfalls rechtswidrige Kriegspropaganda begleiten (lassen); und wenn sie sich nicht – wie es ihre (Friedens-) Pflicht wäre – um ein baldiges Ende des Kriegs bemühen, also ihr Möglichstes tun, um einen Waffenstillstand zu erreichen, einen Verhandlungsprozess in Gang zu bringen, sondern alle einschlägigen Bemühungen bislang sogar hintertrieben haben? Es ist durchaus vorstellbar, dass der Krieg längst zu Ende wäre, wenn die Vermittlungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett sowie das Engagement der Türkei nicht von westlichen Kräften – allen voran Boris Johnson – torpediert worden wären. Die bewusste, absichtliche Verlängerung und Intensivierung des Kriegs hat diesen in seinem Charakter verändert.

Und die Krim?

Die Krim-Problematik liegt etwas komplizierter. Im Juli 2021 veröffentlichte Wladimir Putin einen Aufsatz unter dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Kurz danach stimmten in einer Umfrage der „Rating“-Group unter der ukrainischen Bevölkerung immerhin 41 Prozent der Befragten der Aussage zu, „dass Russen und Ukrainer eine Nation sind und demselben historischen und geistigen Raum angehören“ (55 Prozent widersprachen). Vor diesem Hintergrund könnte man sarkastisch sagen, dass es doch im Grunde gleichgültig wäre, ob die Krim zur Ukraine oder zu Russland gehöre oder souverän sei. Aber solche Überlegungen sind müßig, denn auch in diesem Punkt hat der Krieg alles verändert. Die feindselige Verbissenheit auf beiden Seiten lässt keine Kompromissbereitschaft mehr zu.

Was die völkerrechtliche Seite der Krim-Frage angeht, orientiere ich mich an einer Rechtsauffassung, wie sie kürzlich der frühere serbische Ministerpräsident Tadic vorgetragen hat. Danach existiert im Völkerrecht sowohl der Grundsatz der territorialen Integrität als auch der (potentiell konkurrierende) Grundsatz des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Beide sind allerdings Tadic zufolge nicht gleichwertig; die territoriale Integrität steht zuoberst. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung wurde eingeführt mit Blick auf die Unabhängigkeitskämpfe von Kolonien oder die Befreiung militärisch besetzter Gebiete. Es deckte aber nicht ohne weiteres das Recht auf Sezession ab. Tadic wirft dem Westen vor, dass er mit der Sezession des Kosovo und dem anschließenden (nicht ganz ohne äußeren Druck erfolgten) Kosovo-Spruch des Internationalen Gerichtshofs einen Präzedenzfall geschaffen habe, auf den sich Russland später bezüglich der Krim berufen konnte. Die Fälle Kosovo und Krim unterscheiden sich zwar in mancherlei Hinsicht, aber sie gehören, völkerrechtlich betrachtet, in dieselbe Kategorie.

Was heißt hier „(un-) provoziert“?

Von westlicher Seite wird ohne Unterlass behauptet, der russische Angriff auf die Ukraine sei „unprovoziert“ erfolgt. Das trifft nicht zu. Die Berücksichtigung provokatorischer Momente kann einiges zur Erklärung des Angriffs beitragen (ändert aber nichts an seiner Völkerrechtswidrigkeit).

Interessant ist die Frage, was genau unter „provoziert“ beziehungsweise „nicht unprovoziert“ zu verstehen ist. Eine Möglichkeit: Jemand kann zielgerichtet provozieren, bezweckt also etwas mit der Provokation. Damit er sein Ziel erreicht, muss sein Gegenüber mitspielen, sich also zu einer bestimmten Handlung provozieren lassen. Der Provozierte darf sich im Nachhinein die selbstkritische Frage stellen, ob er mit seiner Reaktion dem Provokateur möglicherweise einen Gefallen getan hat und in eine von diesem aufgestellte Falle getappt ist. Auf unser Thema bezogen: Ist Russland in dieser spezifischen Weise provoziert worden? Ist es dem Westen in die Falle gegangen?

Meine erste These, die ich an späterer Stelle dieses Texts ausführlicher begründen werde, lautet: Der Westen hat Russland provoziert, aber er hat nicht zielgerichtet provoziert. Die Provokationen bezweckten nicht Russlands Einmarsch in die Ukraine. Insofern ist Russland auch in keine westliche Falle gegangen.

Zwischenbemerkung: In den vergangenen Wochen habe ich des öfteren Gespräche erlebt, in denen von ein und demselben Diskutanten zunächst gesagt wurde, Russland sei provoziert worden. An anderer Stelle der Diskussion warb dieselbe Person dann um Verständnis für die russische Kriegsentscheidung und legte nahe, dass sie alternativlos, letztlich unausweichlich, im Grunde genommen also richtig gewesen sei. Dieser Sichtweise zufolge hätte der Westen Russland zu einer richtigen und notwendigen Entscheidung provoziert. – Ich halte das für eher unwahrscheinlich.

Wann und warum hat Russland die Entscheidung getroffen, in der Ukraine militärisch zu intervenieren? Hier bedarf es einer differenzierenden Antwort. Auf der einen Seite stand eine vermutlich schon länger zurückliegende Grundsatzentscheidung. Mit ihr zog man ein militärisches Eingreifen ernsthaft in Erwägung, man betrachtete es als eine Handlungsoption, von der man bei Bedarf Gebrauch machen konnte. Auf der anderen Seite stand die Entscheidung, es tatsächlich zu tun, also einen konkreten Einsatzbefehl zu erteilen. Während die Grundsatzentscheidung einen längeren, mehrjährigen Vorlauf hatte und auf einem rationalen Kalkül basierte, fiel die konkrete Einsatzentscheidung kurzfristig, einige Tage oder allenfalls wenige Wochen vor dem 24. Februar 2022. Sie erfolgte unter enormem Stress und war unverkennbar emotional gefärbt.

Damit komme ich zu meiner zweiten These: Wenn es zutrifft, dass die russische Entscheidung, von der grundsätzlichen Option Gebrauch zu machen und „es tatsächlich zu tun“, kurzfristig und in einer emotionalen Ausnahmesituation fiel, bedeutet dies im Umkehrschluss: Bis wenige Tage oder Wochen vor dem 24. Februar 2022 hätte die Möglichkeit bestanden, den Krieg noch zu verhindern. Der Westen hat es (bewusst oder unbewusst) versäumt, diese Chance zu nutzen. Er hat – von einer gewichtigen Ausnahme abgesehen, auf die ich etwas später zu sprechen kommen werde – nichts getan, um den Krieg mit diplomatischen Mitteln abzuwenden. Er beließ es bei Drohungen.

NATO-Osterweiterung

Welche Rolle spielten nun bei alledem die provokatorischen Momente? Ich beschäftige mich zunächst mit den längerfristig wirksamen Provokationen. Sie waren wesentlich für die gerade angesprochene Grundsatzentscheidung des Kreml. Wie ich festgestellt hatte, handelte es sich nicht um zielgerichtete Provokationen. Das Provokatorische äußerte sich auf andere Weise: Der Westen – oder Teile des Westens – legten über viele Jahre gegenüber Russland ein Verhalten an die Tag, das von diesem als aggressiv und feindselig wahrgenommen werden musste. Russland musste sich provoziert fühlen, und der Westen musste das wissen (und wusste es!). Er ließ aber nicht von seinem Kurs ab und nahm mögliche Folgen seines Agierens billigend in Kauf.

Das provokatorische Element im westlichen Handeln bestand im Wesentlichen in der seit Mitte der 1990er Jahre vorangetriebenen NATO-Osterweiterung und ihrer Begleitumstände. Vor einer solchen Ausrichtung der NATO-Politik hatten insbesondere US-amerikanische Politiker, Diplomaten, Publizisten und Wissenschaftler eindringlich gewarnt. Bill Clintons Pentagon-Chef William Perry nahm sogar seinen Hut, weil er sich mit seiner ablehnenden Haltung nicht durchsetzen konnte. Der vielleicht renommierteste Mahner war George Kennan, Spiritus Rector der „Containment“-Politik im ersten Kalten Krieg. Am 5. Februar 1997 schrieb er in der New York Times (meine Übersetzung):

„Eine NATO-Erweiterung wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Kriegs in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht gefällt.“

Am 2. Mai 1998 bezeichnete Kennan die Osterweiterung als einen „tragischen Fehler“ und prognostizierte das Heraufziehen eines neuen Kalten Kriegs.

Die russische Sicht

Auch aus russischem Blickwinkel verhielt sich die Sache eindeutig:

Erstens brach der Westen sein Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten. Dass er dieses Versprechen – wenn auch nicht schriftlich fixiert – tatsächlich gegeben hatte, ist seit der umfassenden Dokumentation des National Security Archive jenseits jeden vernünftigen Zweifels belegt.

Zweitens nutzte der Westen die Unterlegenheit Russlands insbesondere in der Jelzin-Ära. Jelzin war – wie wohl die gesamte politische Führungsschicht Russlands – ein klarer Gegner der Osterweiterung, protestierte aber aus einer Position der Schwäche. Auch seine gute Beziehung zu Bill Clinton nützte ihm nichts. Wie die inzwischen veröffentlichte Kommunikation der beiden Präsidenten eindrücklich zeigt, handelte es sich nicht um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Im Grunde nahm Clinton seinen Moskauer Kollegen nicht wirklich ernst.

Drittens – und vermutlich entscheidend – widersprach die Art und Weise, wie die Osterweiterung vorangetrieben wurde, vertraglichen Vereinbarungen, die bis zur KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) zurückreichen und in der Charta von Paris (1990), in der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE-Gipfelkonferenz in Istanbul (1999) und in der Gipfelerklärung von Astana (2010) bestätigt und bekräftigt wurden. Diese Dokumente gehören in eine Reihe und dienten unter anderem dem Bemühen, zwei widerstrebende Orientierungen zu versöhnen: Zum einen sollte jeder Staat souverän über seine Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen und über die Bündniszugehörigkeit entscheiden können, zum anderen sollten derartige Entscheidungen nicht die Sicherheit eines oder mehrerer anderer Staaten beeinträchtigen oder gefährden. Man bekannte sich also zum Prinzip der „ungeteilten Sicherheit“. So heißt es in der Erklärung von Astana:

„Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden. Jeder Teilnehmerstaat hat das gleiche Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem einzelnen Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnissen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Staat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen respektieren. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität in der OSZE-Region zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil der OSZE-Region als seinen/ihren Einflussbereich betrachten. Wir werden unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen sowie der legitimen Sicherheitsanliegen anderer Staaten nur solche militärische Fähigkeiten aufrechterhalten, die mit den individuellen oder kollektiven legitimen Sicherheitserfordernissen vereinbar sind.“

Auch die NATO schien mit solch ausbalancierten Formeln einst d‵accord gegangen zu sein. In einer Erklärung der NATO-Außenminister, verabschiedet bei ihrem Treffen am 6./7. Juni 1991 in Kopenhagen, hieß es (meine Übersetzung):

„In Übereinstimmung mit dem rein defensiven Charakter unseres Bündnisses werden wir weder einen einseitigen Vorteil aus der veränderten Lage in Europa ziehen noch die legitimen Interessen irgendeines Staates bedrohen, sondern unsere Bemühungen fortsetzen, um sicherzustellen, dass alle Völker Europas in Frieden und Sicherheit leben können. Wir wollen weder ein Land isolieren noch eine neue Spaltung des Kontinents herbeiführen.“

Ungeteilte Sicherheit?

Nur ein paar Jahre später, auf ihrem Gipfel in Madrid 1997, bot die NATO Polen, Tschechien und Ungarn Beitrittsverhandlungen an; 1999 wurden diese ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts ins Bündnis aufgenommen. Interessanterweise spielte seinerzeit auch die Ukraine schon eine Rolle. In Madrid wurde ein militärischer Partnerschaftsvertrag mit dem Land geschlossen, die „NATO-Ukraine-Charta“. Sie sieht die Beteiligung ukrainischer Streitkräfte an einer NATO-geführten „Combined Joint Task Force“ vor, wenn diese über ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats oder der OSZE verfügt. Ebenso ist die Ukraine in die militärische Zusammenarbeit der „Partnerschaft für den Frieden“ eingebunden. Was zu Zeiten Jelzins begann, wurde in der Ära Putin in mehreren Schüben unverdrossen fortgesetzt – ungeachtet russischer Bedenken und Proteste.

Der Prozess wollte und will kein Ende nehmen. Völlig klar musste sein, dass hier irgendwann Quantität in Qualität umschlagen würde. In der politischen und militärischen Elite Russlands nahm die Besorgnis zu. Erstmals für jedermann erkennbar artikulierte Putin den russischen Unmut in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Dass nur ein Jahr später, beim NATO-Gipfel in Bukarest, ausgerechnet der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive eröffnet wurde, grenzte an Unverfrorenheit. In Deutschland und Frankreich war man sich der Problematik bewusst und versuchte zu bremsen. Das hielt die USA und andere nicht davon ab, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Obendrein behauptete man, die Raketenabwehrsysteme, die man auf den Territorien der neuen NATO-Partner Rumänien und Polen zu stationieren im Begriff stand, richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen Iran. Aus Unverfrorenheit wurde Frechheit.

Dass die NATO-Osterweiterung und insbesondere die Ukraine-Politik der NATO gegen Geist und Buchstaben der eben erwähnten Abmachungen von Paris bis Astana verstießen, ist offenkundig: die Sicherheit der Beitrittsländer erhöhte sich, im Gegenzug wurde diejenige Russlands reduziert. Zwar versuchte die NATO stets glaubhaft zu machen, ihre Osterweiterung richte sich nicht gegen Russland und sei für dieses keine Bedrohung. Doch selbst wenn sie zuträfe, war und ist diese Beteuerung irrelevant. Es kommt an dieser Stelle nicht auf die Versprechungen oder die Perspektive der NATO an, sondern einzig und allein auf die Wahrnehmung Russlands. Die Perzeption Russlands ist, ob es der NATO gefällt oder nicht, ein Faktum, das in Rechnung gestellt werden muss. Um das zu begreifen, muss man nicht unbedingt „Russland-Versteher“ sein (schaden kann es freilich nicht).

Es ist in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht gelungen, die beiden potentiell konkurrierenden Prinzipien – souveräne Bündniswahl und ungeteilte Sicherheit – in einer für die russische Seite akzeptablen Weise in Übereinstimmung zu bringen. Es gab zweifellos gute, hoffnungsvoll stimmende Ansätze – NATO-Russland-Grundakte, NATO-Russland-Rat, Erweiterung der G 7 durch Russlands Aufnahme zur G 8 –, aber das Kernproblem schwelte weiter und verschärfte sich im Lauf der Jahre, insbesondere durch den Umsturz in der Ukraine und seine Folgen.

Warum im Februar 2022?

Wer, wie ich es mit meinen Erörterungen zum provokatorischen Aspekt des Ukraine-Konflikts getan habe, einen mittel- und langfristigen Vorlauf der Kriegsentscheidung unterstellt, der muss erklären: Warum eröffneten Russland und Putin den Krieg ausgerechnet im Februar 2022, warum nicht früher? Warum nicht schon 2014 oder irgendwann in den acht Jahren dazwischen? Ich vermute, dass die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens in der Ukraine seit 2014 zu verschiedenen Zeitpunkten im Raum stand, spezifische Umstände aber jeweils dazu führten, eine solche Entscheidung nicht zu treffen oder sie zu vertagen.

Im Westen wurde nicht eigentlich mit einer militärischen Aggression Russlands gerechnet. Man warf der russischen Politik vielmehr vor, sie wolle den Westen spalten. Meine Lektüre der „Putin-Interviews“ hatten mich zu der Einschätzung gelangen lassen, dass die Spaltungsversuche, die es sicherlich gab, eher defensiver Natur waren. Denn die „Einheit des Westens“ wurde ja auch und vor allem durch das gemeinsame „Feindbild Russland“ hergestellt beziehungsweise garantiert. Selbstverständlich musste Russland ein Interesse daran entwickeln, diese Phalanx aufzubrechen, um wenigstens mit Teilen des Westens, in Sonderheit den europäischen Führungsmächten, in ein ernsthaftes Gespräch zu finden und vielleicht eine europäische Sicherheitsordnung zustande zu bringen, in der Russland ein gleichberechtigter, respektierter Partner hätte sein können. Dem „Feindbild“ durch aggressive Handlungen Nahrung zu geben, wäre der russischen Sache nicht dienlich gewesen. So zumindest die Einschätzung Putins und seiner Getreuen. Die Hardliner im Land sahen das anders, zeigten sich interventionsbereit und kritisierten ihren Präsidenten für seine aus ihrer Sicht zögerliche Ukraine-Politik.

Auf die Frage, warum Russland nicht schon früher, beispielsweise 2014, eine Invasion der Ukraine gestartet oder sich zumindest die Donbass-Gebiete einverleibt hat, antwortet der Eurasien-Experte Anatol Lieven (russophober Neigungen unverdächtig), dass es in Russlands Beziehungen zum Westen seit Ende des Ost-West-Konflikts zwar viele Enttäuschungen gegeben habe, aber auch immer wieder Zeichen der Hoffnung. Eine groß angelegte Invasion der Ukraine hätte endgültig alle Chancen auf eine Verständigung zunichte gemacht. Sie hätte die Europäer in die Arme der USA getrieben (wäre also Russlands Ziel, die beiden auf Distanz zu bringen, zuwidergelaufen), sie hätte Russland isoliert und in eine Abhängigkeit von China gebracht. Auch wenn 2014 eine Invasion angesichts der Schwäche der ukrainischen Streitkräfte viel leichter zu bewerkstelligen gewesen wäre, haben sich Russland und Putin dazu nicht hinreißen lassen. Es blieb bei der Übernahme der Krim und der mehr oder weniger verdeckten Unterstützung der „Separatisten“.

Fundamentale Umorientierung

Mit dem Wahlsieg Donald Trumps Ende 2016 schien auf russischer Seite neue Hoffnung aufzukeimen. Zum einen bestand die Möglichkeit, dass Trumps Gebaren zu einer Entfremdung zwischen Europa und den USA sowie einer Schwächung der NATO führen und für Russland neue Optionen schaffen würde. Zum anderen hatte Trump versprochen, das amerikanisch-russische Verhältnis verbessern zu wollen, und er hatte sich zuversichtlich gezeigt, auch zu Putin persönlich eine vernünftige Beziehung entwickeln zu können.

Daraus wurde nicht viel. Zudem verfehlte Trump die Wiederwahl und wurde von dem in ukrainischen Angelegenheiten einschlägig vorbelasteten Joe Biden abgelöst. Die militärische Aufforstung der Ukraine, die auch und gerade unter Trump stattgefunden hatte, wurde fortgesetzt (u.a. mit Javelin-Panzerabwehrraketen), die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen stockte, von westlicher Seite blieb der Druck auf Kiew aus. Inzwischen haben sogar einige Protagonisten – Merkel, Hollande, Poroschenko – eingeräumt, dass man sich auf Minsk II nur eingelassen habe, um der Ukraine Zeit für die Aufrüstung zu verschaffen. Wobei sich die Frage stellt, welchem Zweck diese Aufrüstung diente: Wollte man die abtrünnigen Donbass-Republiken und gegebenenfalls auch die Krim zurückerobern? Oder sich vor einer russischen Aggression schützen? Oder gar Russland bedrohen?

Dass der Westen in Bezug auf Minsk II nicht ehrlich agierte, hatten die russischen Hardliner seit langem vermutet. Nun schloss sich Putin ihrer Sichtweise an – in den Worten Anatol Lievens (meine Übersetzung):

„Putin scheint nun voll und ganz mit den russischen Hardliner-Nationalisten darin übereinzustimmen, dass man keiner westlichen Regierung trauen kann und dass der Westen insgesamt Russland gegenüber unerbittlich feindlich eingestellt ist. Er ist jedoch nach wie vor anfällig für die Angriffe eben dieser Hardliner, sowohl wegen der großen Inkompetenz, mit der die Invasion durchgeführt wurde, als auch, weil sich ihr Vorwurf, er sei zuvor naiv gewesen, was die Hoffnungen auf eine Annäherung an Europa angeht, anscheinend völlig bestätigt hat.“

Nicht weniger deutlich äußert sich der Politikwissenschaftler Richard Sakwa, auch er ein ausgewiesener Russland-Kenner und (wie Lieven) alles andere als russophob (meine Übersetzung):

„Das Gleichgewicht innerhalb des Regimes war gestört, und ab Ende 2019 dominierte die Hardliner-Position. Das führte zu dem Versuch, die letzte Glut der unabhängigen politischen Opposition und des kritischen Denkens zu ersticken, zu den Verfassungsänderungen von 2020 und schließlich zur Eskalation der Konfrontation mit der Ukraine. Es ist klar, dass Putin in der letzten Phase vor dem Krieg unter enormer psychischer Belastung stand. (...) Die Entscheidung, mit einer militärischen Offensive aufs Ganze zu gehen, die möglicherweise schon im August 2021 getroffen wurde, hätte nicht risikoreicher sein können und drohte, zwei Jahrzehnte der innenpolitischen Entwicklung zu zerstören.“

Die russische Umorientierung ist inzwischen fundamental. Lieven zitiert eine Aussage Putins aus dem Jahr 2012, in der er Russland noch als untrennbaren, organischen Teil von Gesamteuropa, von einer europäischen Zivilisation im weiteren Sinne, auffasste. Die russischen Bürger fühlten sich als Europäer, versicherte er. Heute hingegen sehe Putin in Russland eine eigenständige „eurasische Zivilisation“.

Motive und Ziele

Viele Leserkommentare äußerten Verständnis für die russische Kriegsentscheidung. Aber welche Motive treiben Russland an, welche Ziele verfolgt es? Da fallen die Antworten weniger klar aus – und sie werfen aus meiner Sicht vor allem Fragen auf: Warum zum Beispiel hat Putin seiner Ankündigung, die beiden Donbass-Republiken anzuerkennen, einen ausschweifenden und partiell fragwürdigen historischen Exkurs zur Geschichte der Ukraine vorangestellt, der zur Begründung dieser Anerkennung nur einen sehr bescheidenden Beitrag leistete? Was konkret wollte Putin mit dem Einsatzbefehl vom 24. Februar 2022 erreichen? Ist er tatsächlich einem Ersuchen der gerade erst anerkannten Donbass-Republiken um Schutz nachgekommen? Ging es um die Verhinderung eines schon länger in Gang befindlichen angeblichen Genozids? Ging es um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der gesamten Ukraine? Ging es darum, Verhandlungen zu erzwingen, deren Ergebnisse zu diktieren? Ging es um einen Regimewechsel in Kiew? Oder ging es auch (und vor allem?) darum, eine Bedrohung Russlands durch eine aufgerüstete und immer stärker in NATO-Strukturen integrierte Ukraine abzuwenden? Ging es sogar um noch mehr: um das ureigene russische Interesse, die NATO-Expansion zu stoppen oder zurückzudrängen? Ging es am Ende gar darum, das Tor zu einer multipolaren Welt aufzustoßen?

Am Anfang klang alles viel bescheidener. In einer Tass-Meldung vom 27. Februar 2022 hieß es (meine Übersetzung):

„Am 24. Februar erklärte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Fernsehansprache,“ – hier der Text – „er habe auf Ersuchen der Führer der Donbass-Republiken beschlossen, eine spezielle Militäroperation durchzuführen, um die Menschen zu schützen, ′die seit acht Jahren unter den Misshandlungen und dem Völkermord des Kiewer Regimes leiden‵. Der russische Staatschef betonte, Moskau habe nicht die Absicht, ukrainische Gebiete zu besetzen. Sein Ziel sei die Entmilitarisierung und Entnazifizierung des Landes. Das russische Verteidigungsministerium versicherte, dass die russischen Truppen keine ukrainischen Städte angreifen, sondern sich darauf beschränken, die ukrainische militärische Infrastruktur chirurgisch zu treffen und außer Gefecht zu setzen. Es gibt keinerlei Bedrohung für die Zivilbevölkerung.“

Diese Aussagen sind offenkundig schon seit langem überholt. Haben sie je die russischen Kriegsziele abgebildet? Immerhin versichert John Helmer, ein mit Kreml-Interna bestens vertrauter langjähriger Moskau-Korrespondent, dass die Idee einer begrenzten Militäroperation auf Putin selbst zurückgeht. Offenbar hatte er die Vorstellung, russische Truppen seien in der Ukraine willkommen, man könne handstreichartig in Kiew einen Regimewechsel herbeiführen oder die Ukraine binnen weniger Tage, in Blitzkriegsmanier sozusagen, an den Verhandlungstisch bomben. Letzteres wäre ja auch beinahe gelungen, denn schon kurz nach Kriegsbeginn trafen sich Delegationen Russlands und der Ukraine zu Gesprächen, und auch in den Wochen danach gab es – vermittelt durch Dritte – konstruktive Verhandlungen zwischen den beiden Parteien. Doch die „Militäroperation“ nahm einen ganz anderen Verlauf als geplant. Schon nach wenigen Wochen wurden die Karten neu gemischt. Inzwischen haben wir es mit einem voll entbrannten Krieg zu tun, der ein enormes Eskalationspotential birgt.

Die große Überraschung

Ich nähere mich nun den eher kurzfristigen und emotional bestimmten russischen Beweggründen für die Invasion. In meinem ersten Beitrag zum Thema hatte ich eingeräumt, bis zum 23. Februar 2022 fest davon überzeugt gewesen zu sein, dass es nicht zu einem militärischen Eingreifen Russlands kommen werde. Warum wurde ich von der Entscheidung überrascht? Die Antwort lautet: Ich hätte eine solche (Angriffs-) Entscheidung der russischen Führung für einen verhängnisvollen, katastrophalen Fehler gehalten (und habe mein Urteil seither nicht geändert). Und ich konnte mir vor dem 24. Februar 2022 schlicht nicht vorstellen, dass sie einen derartigen Fehler begehen würde.

Es tröstet mich wenig, dass ich mit meinem irrigen Urteil nicht allein stand. Überrascht von der Intervention wurden vor allem Menschen, die kein „Feindbild Russland“ pflegen, sondern an guten, freundschaftlichen Beziehungen interessiert sind. Oliver Stone zum Beispiel. Am 11. Februar 2022 bewertete er in einem Interview mit Robert Scheer die politische und mediale Aufregung über eine angeblich bevorstehende russische Invasion als westliche Propaganda. Er befürchtete vielmehr eine Attacke der ukrainischen Seite, verbunden mit einer False-Flag-Aktion der CIA.

Nicht viel anders Mary Dejevsky. Die Kolumnistin des britischen Independent ist eine versierte Russland-Beobachterin, die ich seit vielen Jahren wegen ihrer kenntnisreichen, nüchternen und fairen Expertisen schätze. Eine gute Woche vor der russischen Intervention trat sie in einer Diskussionsrunde des Programms „Leading Britain‵s Conversation“ auf – und zeigte sich von einer Seite, die ich noch nie an ihr erlebt hatte. Sie lehnte sich denkbar weit aus dem Fenster, argumentierte hoch emotional, ja, sie ereiferte und echauffierte sich geradezu. Die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens Russlands stellte sie mit kaum zu überbietender Vehemenz in Abrede. Man muss es leider sagen: Mary Dejevsky bot, rückblickend betrachtet, eine desaströse Vorstellung.

Von US-Seite war ein russischer Angriff auf die Ukraine mehrfach vorhergesagt worden; zuletzt hatte man sogar einen konkreten (wenn auch unzutreffenden) Termin genannt. Als der vermeintliche Tag X dann ohne besondere Vorkommnisse verstrich, triumphierten all diejenigen (und es waren viele), die von vornherein die Möglichkeit eines Angriffs verneint hatten. Jens Berger schüttete am 16. Februar 2022 auf den NachDenkSeiten kübelweise Hohn und Spott über die politischen und medialen Propagandisten aus und schien den Glauben, dass es in der westlichen Geopolitik noch mit rationalen Dingen zugehe, verloren zu haben.

Ich erwähne das alles nicht, um Stone, Dejevsky, Berger und viele ihresgleichen bloßzustellen – ganz im Gegenteil. Ich habe es damals genauso gesehen. Und von Bergers wildem Kommentar war ich regelrecht begeistert. Allerdings war für mich auch klar: Wenn man so danebenliegt, muss man sich im Nachhinein doch wohl ein paar unangenehme, selbstkritische Fragen stellen. Stattdessen haben manche (nicht alle!), die einen möglichen russischen Angriff ins Reich der Fabel verwiesen hatten, nach ein paar Tagen der Schockstarre damit begonnen, nach plausiblen Erklärungen oder sogar Rechtfertigungen für den dann doch erfolgten Einmarsch zu suchen. Ich halte es demgegenüber für sinnvoller, mich mit dem großen Irrtum, der gravierenden Fehleinschätzung auseinanderzusetzen.

Ist man dazu bereit, besteht ein erster Schritt darin, noch einmal die Ereignisse und Entwicklungen Revue passieren zu lassen, die in den Monaten vor dem russischen Angriff stattfanden – nun allerdings mit dem Wissen, dass es am Ende zu eben diesem Angriff kommen würde. (Viele der im Folgenden aufgeführten Ereignisse und Entwicklungen habe ich mit Hilfe der von der Bundeszentrale für politische Bildung geführten „Chronologie des Ukraine-Konflikts“ rekonstruiert; ich verweise pauschal auf diese Publikation und verzichte in der Regel auf Einzelnachweise.)

Der fast vergessene Aufmarsch

Zunächst ist da ein Déjà-vu. Der russische Militäraufmarsch an der ukrainischen Grenze seit Herbst 2021 war nämlich nicht der erste seiner Art. Durchaus vergleichbare Truppenbewegungen hatte man auch schon ein halbes Jahr zuvor, seit Ende März 2021, beobachten können. Am 19. April sprach der EU-Außenbeauftragte Borrell von mehr als 150.000 russischen Soldaten in der Grenzregion. An der Kontaktlinie zwischen der Ukraine und den „Volksrepubliken“ kam es vermehrt zu Kämpfen. Hat schon damals ein russischer Angriff unmittelbar bevorgestanden? Im Schwarzen Meer und in der Straße von Kertsch fanden russische Militärübungen statt. Seit Ende Juni war auch die NATO im Schwarzen Meer aktiv („Sea Breeze“).

Anfang Mai begann sich die Lage wieder zu normalisieren: Russland zog Teile seiner Truppen aus der Grenzregion ab. Es blieben zwar noch einige Zehntausend Soldaten vor Ort, weshalb der G 7-Gipfel Mitte Juni das Thema noch einmal aufbrachte. Zur gleichen Zeit trafen sich Joe Biden und Wladimir Putin zu einem mehrstündigen Gespräch. Danach passierte nichts mehr. Der Truppenaufmarsch verschwand aus den Schlagzeilen. Die Krise, so schien es, war vorüber.

Die Ukraine hatte die kurze Phase der Unsicherheit genutzt, um wieder einmal auf eine baldige Aufnahme in EU und NATO zu drängen und neue Sanktionen gegen Russland zu fordern (was die EU allerdings ablehnte). Die russische Drohkulisse sorgte auch für diplomatische Aktivitäten, sogar ein Treffen zwischen Putin und Selenskyj war im Gespräch.

Auch Nord Stream 2 wurde von der Ukraine aufs Tapet gebracht – ohne Erfolg. Seit der zweiten Maihälfte verzichteten die USA – aus Rücksicht auf Deutschland – auf Nord Stream 2-Sanktionen. Nach Gesprächen zwischen Merkel und Biden im Juni und Juli einigte man sich auf die Fertigstellung der Pipeline. Der Eindruck entstand, die USA hätten sich mit dem Projekt abgefunden. Unterdessen wurde die Ukraine insbesondere von den USA weiterhin militärisch unterstützt.

Auch die Krim war ein Faktor, der beständig zu Unruhe führte. In der zweiten Maihälfte teilte die Ukraine mit, dass die Wasserversorgung der Halbinsel erst wieder aufgenommen werde, wenn deren „Entmilitarisierung“ und „De-Okkupation“ erfolgt sei. Diesen Zielen diente die „Krim-Plattform“, die im März 2021 aus der Taufe gehoben worden war und im August ihr erstes international besetztes Gipfeltreffen veranstaltete. Auch die andere Seite war aktiv: Anfang Mai berichtete Tass, dass inzwischen 530.000 Menschen in den „Volksrepubliken“ russische Pässe erhalten hätten, bis Ende des Jahres sollten es eine Million sein. Die EU war davon wenig erbaut; in einem internen Papier argwöhnte sie, Russland wolle die Gebiete schrittweise „de-facto integrieren“.

Der nächste Aufmarsch

Nachdem der Frühjahrsaufmarsch fast schon in Vergessenheit geraten war, kam es ab Ende Oktober 2021 erneut zu russischen Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze. Am 20. November warnten die USA ihre Verbündeten vor einem möglichen russischen Angriff auf die Ukraine. Der ukrainische Außenminister hielt eine solche Entwicklung damals für unwahrscheinlich. Zwei Tage später wurden die Amerikaner konkreter: Die US-Geheimdienste gingen angesichts des russischen Truppenaufmarschs von einer möglichen Offensive an mehreren Fronten aus. Russland habe inzwischen mehr als 92.000 Soldaten an der Grenze stationiert und plane eine Invasion Ende Januar oder Anfang Februar 2022.

Dmitri Peskow, der russische Präsidentensprecher, dementierte das selbstredend, sprach von „Hysterie“ und antwortete mit dem Gegenvorwurf, die Ukraine plane ihrerseits eine Invasion der „Volksrepubliken“. Völlig abwegig war diese Unterstellung nicht. Denn auch die Ukraine hatte zur Zeit des russischen Aufmarschs – was in westlichen Medien kaum bis gar nicht berichtet wurde – zehntausende gut ausgebildete und ausgerüstete Soldaten an der Westgrenze des Donbass zusammengezogen.

Welchen Zweck verfolgten diese ukrainischen beziehungsweise russischen Aufmärsche? Das war zum damaligen Zeitpunkt schwer einzuschätzen. Möglich, dass die Aktivitäten defensiver Natur waren, dazu gedacht, bei einer Offensive der anderen Seite schnell eingreifen zu können, möglich aber auch, dass offensive Absichten dahintersteckten.

Anders als im Frühjahr gab es im Herbst und Winter kaum Anzeichen für eine Entspannung der Lage. Schon Ende August hatten der US-amerikanische und der ukrainische Verteidigungsminister ein strategisches Rahmenabkommen unterzeichnet; abermals bekannten sich die USA bei dieser Gelegenheit zur euro-atlantischen Integration der Ukraine. Am 10. November folgte – beglaubigt durch die Außenminister der beiden Länder – die Charta über strategische Partnerschaft zwischen der Ukraine und den USA.

In den „Volksrepubliken“ wurden derweil schwere Waffen an die Kontaktlinie geschafft, immer wieder wurde über – vermutlich von Russland ausgehende – Cyberangriffe auf die Ukraine berichtet. Der Druck schien stetig anzusteigen. Untrügliche Anzeichen: Von verschiedenen Ländern wurde Botschaftspersonal aus der Ukraine abgezogen oder in westliche Landesteile verlegt, Landsleute wurden zum Verlassen der Ukraine aufgefordert, im Donbass gab es groß angelegte Evakuierungen. Die OSZE-Mission wurde des öfteren behindert, bedroht oder angegriffen. Die Aufrüstung der Ukraine lief unterdessen unvermindert weiter. Im Februar 2022 wurde bekannt gegeben, dass das Land seit Beginn des russischen Aufmarschs Militärhilfen im Wert von 1,5 Mrd. Dollar erhalten habe.

Die Krise verschärft sich

Gleichwohl blieben die Einschätzungen im Hinblick auf ein mögliches russisches Eingreifen weiterhin widersprüchlich. Am 14. Januar 2022 erklärte US-Sicherheitsberater Sullivan auf der Basis von Geheimdienstinformationen, Russland bereite in der Ostukraine eine Sonderoperation unter falscher Flagge vor, um einen Angriff auf russische Streitkräfte vorzutäuschen. Dieser ließe sich dann der Ukraine zur Last legen und könne als Vorwand für eine Invasion dienen.

Einige Tage später wiegelte Selenskyj ab. Es gebe keinen Grund zur Panik, die Medien würden Aufregung verbreiten. Der ukrainische Sozialist Volodymyr Artiukh sagte in einem Interview (März 2022), die Eliten seines Landes hätten bis zuletzt nicht an einen Krieg geglaubt. Die abtrünnigen Regionen im Osten seien schon lange wie Ausland behandelt worden, und als Putin sie am 21. Februar 2022 anerkannte, habe man einen kurzen Moment des Aufatmens spüren können – eine Erleichterung, dass man diese Problemregionen endlich losgeworden war.

Am 2. Februar traten auch die USA einen Schritt zurück; Jen Psaki, die Pressesprecherin des Weißen Hauses, sah einen Einmarsch Russlands nicht mehr als „unmittelbar bevorstehend“ an. Am 11. Februar klang es dann wieder alarmistischer: Russland, so verlautete aus Washington, könne die Ukraine „jederzeit“ angreifen. Es sei zwar unklar, ob Präsident Putin eine Entscheidung bereits getroffen habe, militärisch habe Russland aber alle Voraussetzungen für eine kurzfristige Attacke geschaffen.

Im Gefolge der Truppenaufmärsche kam es zu häufigeren Verletzungen des Waffenstillstands, besonders seit Beginn der zweiten Februarhälfte, also unmittelbar vor der Invasion. Die Mehrzahl der Attacken ging – wie auch in all den Jahren seit Beginn des Konflikts – von ukrainischer Seite aus. Allerdings muss man festhalten, dass die Kampfhandlungen schon seit längerem, eigentlich seit drei, vier Jahren, deutlich abgenommen hatten und es kaum noch zivile Opfer gab. Und auch jetzt spielte sich alles – verglichen mit dem ersten und zweiten Jahr des Konflikts – auf einem sehr niedrigen Niveau ab. Von einem Genozid konnte nicht ernstlich die Rede sein.

Diplomatische Aktivitäten

Wie schon der Aufmarsch im Frühjahr, so waren auch die Truppenbewegungen im Herbst und Winter von diversen diplomatischen Aktivitäten begleitet. Es fanden Treffen etwa im Normandie-Format statt oder im NATO-Russland-Rat. Auch von ukrainischer Seite, also von Selenskyj, gingen Initiativen aus; der ukrainische Präsident wurde aber auch mit Protesten und Rücktrittsforderungen konfrontiert, weil er sich angeblich gegenüber dem Kreml zu nachgiebig zeige.

Am 7. Dezember 2021 kam es zu einem etwa zweistündigen virtuellen Treffen zwischen Biden und Putin. Danach kündigte Biden an, dass es hochrangige Gespräche mit Russland und mindestens vier großen NATO-Verbündeten geben werde, um „die Zukunft der russischen Bedenken gegenüber der NATO im Allgemeinen“ zu erörtern und um zu prüfen, ob man sich auf eine „Senkung der Temperatur an der Ostfront“ einigen könne. Im Fall einer russischen Invasion der Ukraine seien amerikanische Bodentruppen „not on the table“. Allerdings drohte Biden Russland für den Fall des Falles schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen an.

Mitte Dezember legte Russland zwei Entwürfe von Sicherheitsabkommen vor, gerichtet an die NATO und an die USA, in denen es im Wesentlichen um eine garantierte Neutralität der Ukraine und eine Revision der NATO-Osterweiterung ging. Die beiden Vertragsentwürfe knüpften an eine (erfolglose) Initiative an, die der damalige russische Präsident Medwedew im Jahr 2009 ergriffen hatte. Die Antwort der USA auf den neuerlichen Versuch fiel etwas konzilianter aus als die der NATO. Man kann nicht unbedingt behaupten, dass Washington die Moskauer Forderungen arrogant vom Tisch gewischt hätte. Die US-Regierung nannte einige Punkte, über die sie zu verhandeln bereit war. Und doch: Russlands zentrale Anliegen ließ sie links liegen.

Die Schuld des Westens

Die Vertragsentwürfe präsentierten sicherlich ein russisches Maximalprogramm. Es war von vornherein klar, dass die Forderungen nicht allesamt durchsetzbar sein würden, sondern eine Kompromisslinie gefunden werden müsste. Wie mögen wohl die russischen Erwartungen ausgesehen haben? Hat die Führung des Landes nach all den Jahren der Zurückweisung ernstlich auf eine konstruktive Antwort des Westens gehofft? Oder war die russische Initiative vielleicht sogar auf Ablehnung berechnet? Hat man eine negative Antwort provoziert, um anschließend andere Saiten aufziehen zu können?

Diese Fragen wird man vielleicht nie mit letzter Sicherheit beantworten können. Klar ist lediglich, dass es sich um russische Krisendiplomatie handelte – oder um „Diplomatie mit der Brechstange“, wenn man so will. Auch wenn sie rustikal daherkam, bot die Initiative – etwas guten Willen auf westlicher Seite vorausgesetzt – die große Chance, einen Prozess in Gang zu setzen. Trotz ihres ultimativen Charakters eröffnete sie eine der letzten Gelegenheiten, noch zu einer Verständigung zu gelangen und einen Krieg zu vermeiden. Alles hing nun am seidenen Faden, nämlich einer konstruktiven Antwort des Westens, insbesondere der USA. Eine verständigungsorientierte Reaktion hätte der Diplomatie zum Durchbruch verhelfen können. Die westliche Antwort hätte Russland eine Verhandlungsperspektive eröffnen, ihm Vorschläge unterbreiten müssen, denen es sich nicht glaubwürdig hätte entziehen können, die es vielmehr im eigenen Interesse hätte aufgreifen müssen.

Doch die USA und der Westen haben nichts dergleichen getan. Und sie haben es sehenden Auges nicht getan – trotz der Hochspannung, trotz der Vorkriegssituation. Statt auf Diplomatie setzte man auf Drohungen. Dass man mit diesem Ansatz Schiffbruch erleiden würde, hätte spätestens klar sein müssen, als Putin am 21. Dezember 2021 „mit angemessenen militärisch-technischen Vergeltungsmaßnahmen“ drohte. Das war einer der letzten Momente, an denen man das Ruder noch einmal hätte herumreißen können. Stattdessen nahmen die Dinge ihren Lauf. Nicht nur Russland, auch der Westen ging „volles Risiko“.

Der Westen wollte keinen Krieg

Um Missverständnisse zu vermeiden: Mit diesen Feststellungen behaupte ich keineswegs, dass der Westen einen Krieg wollte. Ich bin vielmehr überzeugt, dass er ihn nicht wollte, dass er auch versucht hat, ihn zu verhindern – dies allerdings mit untauglichen Mitteln.

Welches Interesse hätten die USA, welches Interesse hätten andere westliche Länder oder gar die Ukraine an einem russischen Angriff haben sollen? Man war sich vor dem Krieg sowohl in Russland als auch im Westen unter Militärexperten, Analytikern aus Think Tanks etc. einig, dass die Ukraine trotz aller Rüstungsanstrengungen der vorangegangenen Jahre gegen die russische Militärmacht chancenlos wäre. Wenn die Russen ernst machen, so die allgemeine Annahme, wäre der Krieg eine Angelegenheit von wenigen Tagen, allenfalls ein paar Wochen. Auf westlicher Seite musste man also damit rechnen, die Ukraine im Kriegsfall zu verlieren – jene Ukraine, in die man so viele Ressourcen gesteckt hatte und die man mit solcher Mühe zu einem „Anti-Russland“ aufgebaut hatte.

Einige Autoren sehen das anders. Sie verweisen auf die Sanktionspakete, auf den Wirtschaftskrieg, der schon unmittelbar nach der Anerkennung der „Volksrepubliken“ und dann in voller Härte nach der Invasion vom Zaun gebrochen wurde. Dass der Westen diese anti-russischen Maßnahmen von jetzt auf gleich aus der Tasche ziehen konnte, belege, dass sie von langer Hand vorbereitet worden seien – und das wiederum zeige: „Sie wussten, was kam. Sie hatten es ja genau darauf angelegt.“

Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Sie wäre es nur dann, wenn der Westen die Sanktionen heimlich, still und leise vorbereitet und Russland dann am Tag X mit einem Wirtschaftskrieg sondergleichen überrascht hätte. Davon kann aber keine Rede sein. Im Gegenteil, Russland wurde keinesfalls im Unklaren gelassen über die westliche Reaktion im Fall eines Angriffs auf die Ukraine.

Schon Ende April 2021 verabschiedete das Europäische Parlament einen Entschließungsantrag, der harte Konsequenzen forderte, sollte es zu einer russischen Invasion kommen. Im Einzelnen: ein sofortiger Stopp der EU-Importe von russischem Öl und Gas, der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem sowie das Einfrieren von Vermögenswerten russischer Oligarchen. In den Folgemonaten wurden Russland von westlichen Spitzenpolitikern immer wieder Höllenqualen angedroht, sollte es die Ukraine attackieren.

Es leuchtet unmittelbar ein: Hätte der Westen ein Interesse an Russlands Einmarsch in die Ukraine gehabt, hätte er Russland zu diesem Schritt verlocken oder provozieren wollen, dann wäre die Drohung mit härtesten Sanktionen sicherlich nicht zielführend, sondern geradezu kontraproduktiv gewesen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Sanktionsdrohungen Russland vom Invasionsschritt abschrecken sollten.

Um es zu wiederholen: Was man dem Westen vorwerfen kann und vorwerfen muss, ist die Tatsache, dass er in Sachen Kriegsverhinderung nicht auf ernsthafte Diplomatie setzte, sondern ausschließlich mit Drohungen arbeitete. Damit ging er ein enormes Risiko ein und handelte unverantwortlich. Russland wird sich angesichts dieser intransigenten Politik in seiner Haltung, dass man mit dem Westen ohnehin nicht vernünftig reden könne, bestätigt gefühlt haben.

Auftritt Macron

An dieser Stelle wird es höchste Zeit, eine wichtige Differenzierung vorzunehmen: Der Westen sprach (und spricht) mit Blick auf den russisch-ukrainischen Konflikt nicht mit einer Stimme. Großbritannien, die USA und die Länder des „neuen Europa“ (Donald Rumsfeld) agieren unverkennbar militanter und weniger kompromissbereit als die Vertreter des „alten Europa“. Unter letzteren scheint vor allem Frankreich stärker als viele seiner Verbündeten an einer diplomatischen Lösung interessiert (gewesen) zu sein.

Präsident Macron, der bis in die jüngste Vergangenheit immer mal wieder außenpolitische Duftmarken setzte, traf am 7. Februar 2022 Wladimir Putin in Moskau (man erinnert sich an den langen Tisch) und deutete im Vorfeld seiner Reise an, der Westen müsse im Hinblick auf berechtigte russische Sicherheitsbedürfnisse verständigungsbereit sein. Tags darauf besuchte er erstmals (!) die Ukraine und betonte in einer Pressekonferenz im Beisein Selenskyjs, die Minsker Vereinbarungen seien der einzige Weg, einen drohenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine zu verhindern. Eine Woche später berichtete der Kyiv Independent, Macron habe Selenskyj während seines Besuchs gedrängt, mit den Führern der „Volksrepubliken“ direkt zu verhandeln – was Putin ebenfalls immer wieder gefordert hatte, Selenskyj aber stets ablehnte.

Es ist interessant, dass Macron noch weitere Versuche unternahm, den Ausbruch eines Kriegs zu verhindern. Am 20. Februar 2022 (einem Sonntag) telefonierte er zweimal mit Putin und einmal mit Biden. Er wollte ein Treffen der beiden vermitteln. Diese Bemühungen sind bekanntlich gescheitert. Die US-Präsidentensprecherin Jen Psaki sagte am 22. Februar (Dienstagabend, Ortszeit) das in Aussicht genommene Gespräch ab; auch zwischen den beiden Außenministern Lawrow und Blinken kam keine Unterredung mehr zustande.

Eines der beiden Telefonate zwischen Macron und Putin wurde im Juni 2022 im Wortlaut veröffentlicht. Es ist höchst aufschlussreich, sich die Unterredung der beiden genauer anzusehen. Sie zeigt auf der einen Seite einen Macron, der alles in seiner Kraft Stehende versucht, um eine Eskalation zu verhindern, auf der anderen Seite einen Putin, der sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befindet und sich einem rationalen, ergebnisorientierten Gespräch beinahe unzugänglich zeigt. Während Macron durchweg die Nerven behält und erkennbar um eine Verständigung bemüht ist, zeigt sich Putin meist ungeduldig, unwirsch und destruktiv.

Bedenkt man, dass es in der Kommunikation der beiden Präsidenten um Krieg und Frieden ging, ja, um eine der letzten Gelegenheiten, den Frieden zu retten, dann erscheinen die Umstände, unter denen sie ihre Unterredung führten, einigermaßen bizarr. Wie sich gegen Ende des Telefonats herausstellte, befand sich Putin gerade im Fitness-Studio und machte sich bereit für ein Eishockeyspiel...

Macron und Putin telefonieren

Macron eröffnet den Austausch mit der Beobachtung, dass die Spannungen im Ukraine-Konflikt ständig wüchsen. Er versichert Putin, dass er (Macron) fest entschlossen sei, den Dialog zu suchen und fortzusetzen. Dann will er von Putin dessen Einschätzung der Lage erfahren. Putin eröffnet seinen Part mit einem leicht ratlosen „Was soll ich sagen?“. Er erinnert daran, dass Macron und Scholz versichert hätten, Selenskyj sei bereit, einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen vorzulegen. Doch nichts dergleichen geschehe – Selenskyj lüge. Und jetzt wolle er auch noch Atomwaffen. (Putin spielt hier auf die Rede Selenskyjs vor der Münchner Sicherheitskonferenz an; eine Beraterin Macrons flüstert diesem zu, die Behauptung Putins sei unzutreffend.)

Schließlich unterstellt Putin, Macron habe auf seiner Pressekonferenz in Kiew gefordert, die Minsker Vereinbarungen müssten überarbeitet werden, um umsetzbar zu sein. Macron entgegnet, dass er niemals eine Revision der Minsker Vereinbarungen verlangt habe, weder in Kiew noch in Berlin oder Paris. Er sei vielmehr der Überzeugung, dass die Vereinbarungen umgesetzt werden müssen. Aber er deute die vergangenen Tage anders als Putin.

Putin fragt dann, welches Problem Macron eigentlich mit den Separatisten habe. Diese hätten doch wenigstens – auf Moskaus Drängen – alles Erforderliche getan, um einen konstruktiven Dialog zu eröffnen. Macron entgegnet, nicht die Separatisten hätten der Kiewer Regierung Vorschläge für Gesetze zu unterbreiten, sondern, umgekehrt, die Regierung den Separatisten. Putin weist diesen Einwand zurück. Macron beharrt auf seiner Sichtweise. Er habe die Minsker Vereinbarungen vor sich liegen, und im Paragrafen 9 sei klar geregelt, dass die demokratisch gewählte Regierung in Kiew mit Gesetzentwürfen in Vorlage trete, um dann mit der anderen Seite zu verhandeln.

Nun vollzieht Putin eine überraschende Rochade. Man könnte auch sagen, er geht zurück auf „Los“, ins Jahr 2014. Er behauptet, die Regierung in Kiew sei gar nicht, wie Macron gesagt hatte, demokratisch legitimiert, sondern sie sei das Ergebnis eines Staatsstreichs (in seinen Ansprachen vom 21. und 24. Februar wird Putin mit Blick auf die Wahlen in der Ukraine arrogant und herabsetzend von „rein dekorativen Wahlprozeduren“ und „elektoralen politischen Prozeduren“ sprechen). Sie habe Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt (ein Hinweis auf das Massaker von Odessa) und ein Blutbad angerichtet. Selenskyj sei einer der Verantwortlichen. Putin weist dann nochmals darauf hin, die Separatisten hätten Vorschläge unterbreitet, aber keine Antwort erhalten. Wo also sei der Dialog?

Macron wiederholt: Die Minsker Vereinbarungen legten fest, dass die Regierung Vorschläge unterbreite, auf welche die Separatisten antworten. Im Übrigen stelle sich die Frage, ob Putin überhaupt noch zum Minsker Abkommen stehe, wenn er die Regierung in Kiew für illegitim und terroristisch halte. Nunmehr behauptet Putin – immer noch sehr gereizt – die Separatisten hätten ja auf Vorschläge der Regierung reagiert, aber dann sei Kiew nicht mehr darauf eingegangen (hier konzediert Putin überraschenderweise genau das, was er zu Beginn und im bisherigen Verlauf des Gesprächs noch bestritten hatte: dass Kiew den Separatisten Vorschläge unterbreitet hatte).

Macron wird konkret

Macron, eindeutig in dem Bestreben, zu konkreten Ergebnissen zu gelangen, übergeht den Widerspruch stillschweigend und schlägt vor, dass aufgrund des von Putin angesprochenen Regierungsentwurfs sowie der Antwort der Separatisten schon am nächsten Tag die trilaterale Kontaktgruppe zusammentreten und verhandeln solle. Er werde Selenskyj dazu explizit auffordern. Putin solle entsprechenden Druck auf die Separatisten ausüben.

Putin scheint bereit, auf den Vorschlag einzugehen, betont aber, dass man von Anfang an einen Druck dieser Art auf die Ukrainer hätte ausüben müssen – aber niemand habe das tun wollen. Macron erwidert, er habe seit jeher maximalen Druck auf Kiew ausgeübt, und Putin wisse das auch ganz genau. Abermals überraschend: Putin bestätigt, dass er von Macrons Engagement weiß, fügt aber hinzu, dass dieser leider keinen Erfolg gehabt habe.

Macron betont, dass es jetzt vor allem wichtig sei, die angespannte Situation an der Kontaktlinie zu stabilisieren. Er habe „gestern“ in diesem Sinne auf Selenskyj eingewirkt. Man müsse nicht nur die Kombattanten beruhigen, sondern auch die sozialen Medien, einfach alle. Dann will er von Putin wissen, wie die Militärmanöver an der Grenze laufen. „Nach Plan“, antwortet dieser. „Sie enden also diesen Abend, richtig?“, fragt Macron. „Ja, wahrscheinlich heute Abend“, bestätigt Putin (eine Lüge, wie sich bald herausstellen sollte). Man werde aber ein gewisses Kontingent an der Grenze belassen, bis sich die Lage beruhigt hat.

Gipfeltreffen Biden/Putin?

Macron versichert Putin, dass ihm alles daran liege, die Diskussion in den richtigen Rahmen zu bringen und Spannungen zu vermeiden. Es gehe darum, die Situation unter Kontrolle zu behalten. Er verlasse sich auf Putin. Und er bittet ihn, sich nicht provozieren zu lassen. Sodann schlägt Macron ein Treffen zwischen Putin und Biden vor. Es solle „in den nächsten Tagen“ stattfinden. Dazu wörtlich:

„Ich habe am Freitagabend mit ihm [Biden, U.T.] gesprochen und ihn gefragt, ob ich Dir diesen Vorschlag machen kann. Er hat mir gesagt, ich solle Dir sagen, dass er dazu bereit sei. Präsident Biden hat auch darüber nachgedacht, wie man die Situation glaubwürdig deeskalieren, Deine Forderungen berücksichtigen und die Frage der NATO und der Ukraine sehr deutlich ansprechen kann. Nenne mir einen Termin, der Dir passt.“

Putin antwortet nun erstmals in einem konzilianten Ton:

„Vielen Dank, Emmanuel. Es ist mir immer ein großes Vergnügen und eine große Ehre, mit Deinen europäischen Amtskollegen sowie mit den Vereinigten Staaten zu sprechen. Und es ist mir immer eine große Freude, mit dir einen Dialog zu führen, weil wir in einer vertrauensvollen Beziehung zueinander stehen. Deshalb, Emmanuel, schlage ich Dir vor, die Dinge umzukehren. Zuallererst müssen wir dieses Treffen im Vorfeld vorbereiten. Erst danach können wir reden, denn wenn wir einfach so kommen, um über alles und nichts zu reden, wird man uns das wieder vorwerfen.“

Die beiden einigen sich im Prinzip auf ein baldiges Gipfeltreffen Biden/Putin; sie delegieren die Vorbereitung und die noch zu klärenden Details an ihre Mitarbeiter. Macron verabschiedet sich mit den Worten „Wir bleiben in ständigem Kontakt. Sobald etwas ist, rufst Du mich an.“ Putin verabschiedet sich auf Französisch: „Je vous remercie Monsieur le président.“

Einen Tag nach dem Telefonat mit Macron erkannte Putin die „Volksrepubliken“ als unabhängige Staaten an, nach weiteren drei Tagen gab er den Befehl zum Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine.

Es ließen sich weitere Beispiele für die von mir behauptete hohe Emotionalität Putins im unmittelbaren Vorfeld des Kriegs anführen. Da ist zum Beispiel die (im Fernsehen übertragene) Zusammenkunft des russischen Sicherheitsrats, in der die Anerkennung der „Volksrepubliken“ beschlossen wurde. Putin thronte dort wie ein Zirkusdirektor auf der einen Seite der Manege, auf der anderen Seite – in gehörigem Abstand – saßen im Halbkreis die Mitglieder des Rats. Jeder einzelne musste vortreten und die zu treffende Entscheidung gutheißen. Als der Chef des Auslandsgeheimdienstes an der Reihe kam, lief die Sache nicht ganz nach Plan. Sergei Naryschkin war offenkundig nervös, verhaspelte sich, schien Dinge ausführen zu wollen, an denen Putin kein Interesse hatte. Also unterbrach er ihn, gab ihn der Lächerlichkeit preis, demütigte ihn nach allen Regeln der Kunst – bis Naryschkin schließlich seinen Spruch zur Zufriedenheit des Präsidenten aufgesagt hatte. Es war abstoßend. Wer da immer noch überzeugt ist, der russische Angriff sei allein das Ergebnis einer rationalen, wohlüberlegten Kollektiventscheidung gewesen, sollte sich diese Szene zu Gemüte führen.

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf

Der Rest ist schnell erzählt. Die „Spezielle Militäroperation“ scheiterte schon nach kurzer Zeit. Der Konflikt hat seinen anfänglich vielleicht noch begrenzten Charakter längst verloren. Als klar wurde, dass Russland keinen schnellen Sieg erringen würde, nutzte der Westen die Gunst der Stunde, warf sich ins Zeug und tat alles, um den Krieg zu verlängern, auszuweiten, zu intensivieren. Er wird zwar (bislang nur) in der Ukraine ausgetragen, doch es steht viel mehr als bloß die Ukraine auf dem Spiel. Die Auseinandersetzung ist vierdimensional: es handelt sich um einen ukrainischen Bürgerkrieg, um einen russisch-ukrainischen Krieg, potentiell um einen Krieg zwischen Russland und der NATO und potentiell um einen Krieg zwischen Russland und den USA.

Oder in den Worten von Ned Price, dem Sprecher des US-Außenministeriums (schon am 21. März 2022): „...dies ist ein Krieg, der in vielerlei Hinsicht größer ist als Russland, größer als die Ukraine...“. Oder in den Worten von Sergei Lawrow: „alles, was in der und um die Ukraine herum geschieht, ist Teil des sich entfaltenden Kampfes um die künftige internationale Ordnung“. Oder in den Worten der Publizisten Jeffrey Goldberg und Anne Applebaum: „Das Schicksal der NATO, die Stellung Amerikas in Europa, ja die Stellung Amerikas in der Welt, all das steht auf dem Spiel.“ „Dies ist ein Krieg um eine grundlegende Definition nicht nur der Demokratie, sondern der Zivilisation."

Die Ukraine, die vor dem Krieg und unmittelbar nach Kriegsausbruch vielleicht kompromissbereit gewesen wäre, ist es inzwischen nicht mehr. Sie hat die Befreiung aller besetzten Gebiete einschließlich der Krim auf ihre Fahnen geschrieben. Zudem hat sie offenkundig ein Interesse daran und tut einiges dafür, den Krieg auszuweiten und westliche Länder, insbesondere die USA, immer tiefer hineinzuziehen. Das US-Magazin The American Conservative hat die Ukraine kürzlich als „in die Enge getriebenes Tier“ beschrieben, das bereit sei, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren.

Ist vor diesem Hintergrund vorstellbar, dass Russland in absehbarer Zeit – und unter der Voraussetzung, dass es die jetzt annektierten vier Regionen gesichert hat – die „Militäroperation“ beendet? Und dass man in Kiew oder im Westen generell eine solche Wendung einfach hinnähme und die Kampfhandlungen ebenfalls einstellte?

Das ist aus meiner Sicht unwahrscheinlich. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Russland mit einem solch bescheidenen Ergebnis zufriedengäbe. Das Land wäre zwar ein Stück nach Westen vorgerückt, hätte aber nach wie vor eine gemeinsame Grenze mit der (nunmehr tief verfeindeten) Ukraine und also mit potentiellem oder faktischem NATO-Land. Die russische Sicherheitslage hätte sich durch den Krieg nicht verbessert, sondern – zieht man den NATO-Beitritt Finnlands mit in Betracht – sogar verschlechtert.

Kein erkennbarer Ausweg

Beide Konfliktparteien haben die Latte extrem hoch gelegt, vermutlich unerreichbar hoch. Russland will letztlich eine grundlegend veränderte Sicherheitsarchitektur, der US-geführte Westen sieht sich ebenfalls in einer geopolitischen Auseinandersetzung und zielt darauf ab, Russland eine strategische Niederlage beizubringen oder das Land zumindest nachhaltig zu schwächen. Das große Dilemma besteht darin, dass keine der beiden Seiten sich wird durchsetzen können; keine wird einen wie auch immer gearteten oder definierten „Sieg“ erringen.

Wohl aber verfügen beide Seiten über die Kraft, eine Niederlage zu verhindern – und sie werden diese mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwenden wissen. Hier liegt die eigentliche Gefahr. Wir haben es mit einem Konflikt zu tun, der für beide Parteien existentiell ist. Im Fall einer westlichen Niederlage wäre der Westen nicht mehr der Westen. Und im Fall einer russischen Niederlage wäre Russland nicht mehr Russland. Beide Seiten haben die Einsätze derart gesteigert, dass eine Niederlage schlicht nicht mehr in Betracht kommt. Sie ist keine Option.

Ein Ausweg ist für mich derzeit nicht zu erkennen. Aus diesem Grund teile ich die düstere Prognose des Realisten John Mearsheimer: „The Ukraine war will end in horror.“

Diskussion

27 Kommentare
LEITNER, 8. Mai 2023, 22:00 UHR

Schöner Beitrag - so wie man ihn sich wünscht. Abwägend, besonnen, Gründe suchend. Ich stimme in Vielem überein und gestehe, dass ich mich bei Weitem nicht so auskenne wie UT - ich dilletiere und getraue mich dennoch folgendes zu bedenken zu geben: UT teilt die durchaus verbreitete Vorstellung, Russland habe sich bei seinen „Gewinn-Chancen“ getäuscht, es sei von der Vorstellung ausgegangen, einen „Blitz-Krieg“ gewinnen zu können und musste dann schmerzlich einsehen, dass es sich getäuscht hatte. Muss man das unterstellen? Ich gehe mal davon aus, dass Russland sehr gut über die Qualität der hochgerüsteten Ukraine informiert gewesen ist. Könnte die „Spezialoperation“ nicht vielmehr als Zeichen zu verstehen sein, dass nun das Unerwartete erfolgt und eine Lösung gefunden werden muss.

Stellen wir uns vor, unser Nachbar provoziert uns und schüttet seine Abfälle in unseren Garten. Wir warnen ihn, einmal, zweimal, dreimal. Wir drohen ihm an, das nicht mehr zuzulassen und ihm nicht mehr zu „erlauben“, sich in seinem (!) Garten unserem Grundstück zu nähern. Aber es führt zu keiner Reaktion. Also zeigen wir, dass es uns wirklich ernst ist und setzen das Angedrohte schließlich um, indem wir einen Teil des Gartens „besetzen“. Das alles tun wir in einer Form/Mannschaftstärke, die zu einer Okkupation des fremden Territoriums niemals ausreichen kann. Hoffnungslos unterlegen (1/4) sollte nur gezeigt werden, wir meinen es wirklich ernst: hier ist eine rote Linie, die wir verteidigen werden. Wir können euer Wohnzimmer (Kiew) schnell erreichen, aber wir ziehen uns wieder zurück. Seid ihr nun bereit, wirklich zu verhandeln und die für uns notwendigen Sicherheitszusagen zu geben? Erst nach Abbruch der Verhandlungen im März/April erfolgt dann die Eskalation/Mobilisierung ... Mir scheint auch, dass die US-Ukraine mehr oder weniger willig in den Krieg gelaufen ist - m.W. verstärkte sich der Beschuss des Donbass planmäßig um den 20. Februar. Die Botschaft: Wollt ihr nun oder könnt ihr nicht.

WILLY SCHÜRER, 9. Mai 2023, 14:50 UHR

Vielen Dank, Herr Teusch, für diesen sehr sorgfältig erarbeiteten Artikel. Ja, natürlich ist der Überfall auf die Ukraine völkerrechtswidrig. Darüber muss man nicht diskutieren. Aber es sind die USA, die seit Jahrzehnten mit ihren völkerrechtswidrigen Überfällen auf andere dafür gesorgt haben, dass das Kriterium „völkerrechtswidrig“ gehörig an Gewicht verloren hat. Anderes zu behaupten würde bedeuten, sich dem im Westen üblichen gängigen Messen mit zweierlei Maß anzuschließen. Präventivkriege sind völkerrechtlich auch verboten.

Aber welche regelkonformen Möglichkeiten haben die Schüler eines Pausenhofs, der von einem Schlägertyp tyrannisiert wird, der sich um Regeln einen Dreck kümmert, wieder zu geordneten Verhältnissen auf ihrem Pausenhof zurückzukehren und den tyrannischen Unterdrücker loszuwerden? Es ist naheliegend, dass sie sich mit dem Problem an das Schuldirektorat wenden würden. Was aber, wenn selbst das Direktorat schon unter die Fuchtel des Schlägertyps geraten ist? Da wird wohl keine andere Möglichkeit bleiben, als mal die Ärmel hochzukrempeln und sich dem Schlägertyp in der einzigen Sprache entgegenzustellen, die er versteht. Präventiv, bevor seine Überlegenheit unüberwindlich und man selbst von ihm zusammengedroschen wird. Natürlich kann das nicht irgendein Hänfling bewerkstelligen. Da muss schon der Muskulöseste ran. Vor allem dann, wenn auch noch offensichtlich ist, dass dessen eigene Vernichtung das Ziel des Schlägertyps ist.

Leider gleicht das geopolitische Szenario dieser Pausenhof-Analogie bis ins Detail. Man muss das Vorgehen Russlands mit den flächendeckenden Terroraktionen der USA vergleichen, bei denen ohne Rücksicht auf Zivilisten die gesamte zivile Infrastruktur als erstes vernichtet wurde. Dort sollte ein Vergleich der Handlungen ansetzen. Das Kriterium „völkerrechtswidrig“ kürzt sich dabei heraus. Es stellt sich natürlich die Frage, ob es letztendlich zielführend war, dass Russland das Brudervolk vergleichsweise mit Samthandschuhen angefasst hat, statt es gleich flächendeckend zusammen zu bomben. Dank der unermüdlichen Waffenlieferungen des Westens hinterlassen die antirussischen Nazis Meter für Meter, den sie verlieren, verbrannte Erde. Dank angelsächsischer Unterstützung demnächst wohl auch noch nuklear verseuchte.

„Wir haben es mit einem Konflikt zu tun, der für beide Parteien existentiell ist. Im Fall einer westlichen Niederlage wäre der Westen nicht mehr der Westen. Und im Fall einer russischen Niederlage wäre Russland nicht mehr Russland.“

Was heißt: „der Westen wäre nicht mehr der Westen“? Das heißt wohl: der Westen könnte nicht mehr von einer „regelbasierten Weltordnung“ schwurbeln, die er sich nach eigenem Gutdünken zurechtmanipuliert, um andere zu unterdrücken. In einer multipolaren Welt müsste auch der Westen sich wieder anstrengen um mithalten zu können. Das Leben der USA auf Kosten des Rests der Welt wäre zu Ende, wenn der Petrodollar fällt.

Dass der fällt, ist nicht mehr vermeidbar. Das ist nicht das Verdienst Russlands. Das ist das Verdienst der Inkompetenz der westlichen Führungseliten. Putin hat den Westen schon vor über einem Jahrzehnt vor den Konsequenzen für den Westen gewarnt, die das Einsetzen des Dollars als wirtschaftliche Waffe (völkerrechtswidrige Sanktionen, völkerrechtswidrige Enteignungen) für den Westen selbst hat. Leider ist der Kompetenzunterschied zwischen der russischen und der westlichen Führungselite derart extrem, dass letztere nicht einmal dann zur Vernunft kommt, wenn sie gewarnt wird. Geschweige denn durch eigenes Nachdenken im Vorfeld.

„Putin ist aus meiner Sicht ein autoritärer, konservativer, pro-kapitalistischer Machtpolitiker, …“

Da mögen sie vielleicht recht haben. Aber im Gegensatz zu den autoritären, konservativen, pro-kapitalistischen Machtpolitikern des Westens ist er offenbar intelligenter und weniger kriminell.

Was heißt: „Russland wäre nicht mehr Russland“? Das heißt wohl, es würde zerstückelt wie Jugoslawien und die UdSSR. Und der Hegemon würde die daraus resultierenden Teile mit wenig Mühe zu Vasallen und Ausbeutungsobjekten machen.

Der einzige Vorwurf bezüglich journalistischer Redlichkeit, den ich Ihnen leider nicht ersparen kann, ist die überflüssige Formulierung „Putin thronte dort wie ein Zirkusdirektor auf der einen Seite der Manege …“. Was soll der Unsinn? Der Leiter einer Versammlung hat immer eine herausgehobene Position. Mit ihrer Formulierung erinnern Sie mich an die im Westen übliche Verwendung der Begriffe „Regime“ und „Regierung“ um die Leser voreinzunehmen. Ich habe mir die Szene angesehen. Das war sicher weniger abstoßend als eine durchschnittliche Bundestagsdebatte zwischen Politikern aus verschiedenen, demokratisch gewählten Parteien.

Herrn Naryschkins Nervosität war unübersehbar. Er hat darüber offenbar sogar vergessen, welches Thema überhaupt behandelt wurde. Nämlich die Frage, ob die Souveränität der neuen Republiken anerkannt werden sollte oder nicht. Stattdessen sprach er sich für deren Eingliederung in die russische Föderation aus, die gar nicht zur Debatte stand. Seine Zustimmung formulierte er auch noch im Konjunktiv, statt in direkter Rede. Kein Wunder, dass er gerügt wurde.

„verstehe ich mich auf normativer Ebene als Pazifist – und zwar als Pazifist im Sinne der UNO-Charta.“

Ich versichere Ihnen, dass ich auch Pazifist bin. In dem Sinne, dass ich immer einer friedlichen, diplomatischen Lösung von Problemen den Vorzug gebe. Gewalt käme für mich nur im äußersten Notfall in Frage, in der keine andere Möglichkeit zur Verteidigung der eigenen Unversehrtheit mehr besteht. Im geopolitischen Spiel der Gegenwart ist sicher großes Geschick erforderlich um den Zeitpunkt nicht zu versäumen, ab dem ein vernichtender Schlag des Gegners nicht mehr abgewendet werden könnte. Ob Herr Putin zu früh gehandelt hat? Da gibt es sicher auch viele, die ihm zu langes Zögern vorwerfen. Ich kann mir diesbezüglich kein Urteil anmaßen. Jeder einzige ukrainische und russische Soldat und Zivilist, der hier sein Leben lassen muss, ist einer zu viel.

Wie Sie selber schreiben, wäre ein Überfall auf die Ukraine 9 Jahre früher ein vergleichsweise leichtes Unterfangen gewesen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob die Situation für Russland nach dem sich abzeichnenden massiven Überfall auf den Donbass (im März 2022) nicht noch viel bedrohlicher geworden wäre. Angesichts der westlichen „Vertragstreue“ habe ich vollstes Verständnis dafür, dass Herr Putin irgendwann die Geduld abhandengekommen ist, mit solchen Leuten weiter zu verhandeln. Die düstere Prognose von Mearsheimer ist meiner Meinung nach wohl berechtigt. Russland hat beim Preis seiner eigenen Vernichtung keine andere Wahl als die Niederlage zu vermeiden. „Dem Westen“ (ich meine die USA mit ihren Vasallen) droht nicht seine Vernichtung. Er müsste sich nur mit einem bedeutenden Machtverlust abfinden.

Wenn auf derjenigen Seite, der nicht die totale Vernichtung, sondern nur ein relativer Machtverlust droht, vernünftige Entscheidungen getroffen werden und nicht Psychopathen wie Boris Johnson et. al. entscheiden, dann sollte es möglich sein, das schlimmste zu verhindern.

ALEXANDER FEIN, 10. Mai 2023, 12:40 UHR

Den Hinweis auf den Schulhof finde ich sehr gut. Der US-Historiker Christopher Lasch (1932-1994) sprach in "Die blinde Elite" (1993) auch davon, dass die Demokratie in den USA immer mehr dem Soziotop des Schulhofes gleiche, was weitreichende Konsequenzen habe. Ob Herr Putin in einem emotionalen Ausnahmezustand war oder ist, halte ich für nicht so bedeutsam, sondern ob dieser als solcher erkannt wird. Der Westen ist jedenfalls in einem Ausnahmezustand, der aber nicht als solcher erkannt wird. Was die Situation extrem gefährlich macht.

WERNER, 11. Mai 2023, 22:15 UHR

Volle Zustimmung zu Ihrem Beitrag, Willy Schürer. Noch ein Punkt, der im Artikel nicht angesprochen wird. Selensky, gewählt mit über 70 % der westukrainischen Stimmen, kam ja u.a. mit dem Versprechen, Frieden für den Donbass und die Krim zu bringen, an die Macht. Neben dem Verbot der russischen Sprache und der Unterdrückung alles Russischen in der Ukraine (wie sein Vorgänger Poroschenko) nun auch noch Ausschalten der Opposition, hat er das genaue Gegentei, insbesondere im Jahre 2019 gemacht. Hier z.B. das Selensky Dekret über die Rückeroberung des Donbass und der Krim auch mit "militärischen" Mitteln. Als dann an der Kontaktlinie Ende 2019 mehr als 100 000 ukrainische Soldaten aufmarschierten war so ziemlich klar, was diese Soldaten dort beabsichtigen.

Es gab für Putin somit nur eine kleine oder große Lösung des Problems (nachdem Minsk II sowieso und die Vorschläge Moskaus bzgl. der Ukraine Ende 2019 von Washington und NATO weggewischt wurden. Entweder Eingreifen im Donbass, nachdem die ukrainischen Truppen angegriffen haben (kleine Lösung) oder selbst anzugreifen (große Lösung). Bei beiden Lösungen wären die sowieso seit 2014 erfolgten Sanktionen des Westens nochmals (und sind ja) verstärkt worden (wie bereits 2019 vorbereitet), also war es für Putin besser, die große Lösung (der Krieg begann ja, auch laut Nato Stoltenberg schon 2014) zu wählen, mit u.a.. weniger Blutvergießen für die geschundenen, russischsprachigen Bewohner des Donbass.

A.F., 10. Mai 2023, 10:25 UHR

Auch ich möchte mich bedanken für diesen sehr informativen Artikel, der mich sehr nachdenken lässt über eigene blinde Flecken. Bei der beschriebenen psychischen Ausnahmesituation, in der Putin entschieden habe, frage ich mich schon auch, was es eigentlich mit einem Menschen macht, auch einem Politiker, der seit mittlerweile mindestens anderthalb Jahrzehnten zum Gottseibeiuns des Erdballs stilisiert wird. Es gibt ja keine Schmähung, die ihm nicht schon angehängt wurde und letztlich damit auch allen Russen, die als permanent bereite Mörder und Vergewaltiger von Baerbock (Zitat in dem Korinth-Aritkel über Russophobie) gezeichnet werden oder als Leute, die zwar aussehen wie Europäer/gedacht Menschen, aber es nicht seien.

RONALD D., 10. Mai 2023, 15:25 UHR

Lieber Herr Teusch,

vielen Dank für diesen wirklich sehr differenzierten Artikel. Er gehört zu dem besten, was ich bislang zu diesem Thema gelesen habe und enthält Aspekte, die ich bis dahin noch gar nicht auf dem Schirm hatte. Dennoch bleibt eine gewisse Diskrepanz zu meiner eigenen Wahrnehmung. Ich kann mir nach wir vor nicht vorstellen, dass „der Westen“ den Krieg nicht gewollt haben soll. Schon der Putsch von 2014, bei dem die Amerikaner ganz offensichtlich die Strippen zogen, leitet eine ganze Reihe von Provokationen gegenüber Russland ein.

Die deutschen Diplomaten benahmen sich in dieser Zeit wie Pimpfe auf dem Schulhof (um ein Bild von Herrn Schürer aufzugreifen), die permanent die großen Jungs anschreien. Das trauen sie sich freilich nur, weil sie sich durch den großen Bruder geschützt fühlen. Was da alles zu hören war (schon lange vor 2022) ist in der Diplomatie nicht nur unüblich – so redet man eigentlich nur mit Leuten, an deren friedlicher Nachbarschaft man nicht das geringste Interesse hat. Oder anders ausgedrückt: Unsere Diplomaten hatten schon lange vor 2022 auf Kriegsrethorik umgeschaltet.

Es ist diese Wahrnehmung, die mich hauptsächlich an der Analyse, der Westen habe den Krieg nicht gewollt, zweifeln lässt. Es ist zwar richtig, darauf hinzuweisen, dass wir uns mit all dem ins eigene Fleisch schneiden. Aber gerade diese Tendenz, sich lustvoll selbst zu demontieren, scheint ja mittlerweile ein Charakterzug unserer westlichen Gesellschaften zu sein, wie Sie Herr Teusch auch schon in Ihrem lesenswerten Artikel „Eve of destruction“ dargelegt hatten.

So wenig rational das Ganze zu sein scheint, um so wichtiger ist es, vorurteilsfrei an die Sache heranzugehen. In diesem Sinne leistet der Artikel einen wertvollen Beitrag. Danke dafür.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 10. Mai 2023, 17:05 UHR

Zunächst stimme ich zu, dass ohne vernünftigen Zweifel Russland mit seiner Militärintervention gegen das geltende Völkerrecht verstoßen hat. Und nüchtern darüber zu reflektieren, ob oder ob nicht man sich womöglich als Putin-Versteher zu sehr in einer russophilen Blase der regierungskritischen Minderheit bewegt, ist von Zeit zu Zeit angebracht. Auch bei multipolar kann das nicht schaden, ganz im Gegenteil. Uns wurde die Sentenz aus dem römischen Recht überliefert, die den Richtervorbehalt hervorhebt, die jeweiligen Tatumstände ausgewogen in seinem Urteil zu berücksichtigen. Duo cum faciunt idem, non est idem. Als unzulässig gilt demnach auch das tu quoque Argument, dass nämlich der Ankläger sich selbst auch des vorgeworfenen Fehlverhaltens schuldig gemacht habe.

Herr Teusch nennt hier u.a. richtigerweise die Selbstermächtigung wie im Balkankrieg gegen Serbien und der Teilung Jugoslawiens. Die NATO proklamierte, gestützt auf ihre behaupteten hehren Ziele, de facto ein neues Gewohnheitsrecht des Stärkeren, „The Responsibility to Protect“, die allerdings nur der NATO und damit den „Guten“ zustünde. Ja, Russland hat das Völkerrecht mit seinem Angriff verletzt. Das ist allerdings nur vergleichbar wahr wie die New York Times als Flaggschiff der Lückenpresse die Wahrheit bestmöglich darzustellen versucht. Tucker Carlson, bei FOX News kürzlich gefeuert, jüngst auf Twitter ist zuversichtlicher: https://twitter.com/TuckerCarlson/status/1651376097349578753

Ulrich Teusch hat das in seinem erfolgreichen Buch „Lückenpresse“ gut auf den Punkt gebracht.

Wie die Rechtsgelehrten des antiken römischen Imperiums ist aber auch Niccoló Machiavelli (1469 - 1527) zu den Kriegsgründen zu bedenken: „Nicht wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.“ Die UN-Charta legte auch deshalb verbindlichere Regeln fest, weil die Kriege mit modernen Massenvernichtungswaffen neue Dimensionen von verbindlichen Regeln forderten. Erstmals kann nämlich damit die Lebensgrundlage für menschliches Leben auf dem Planeten zerstört werden.

Ich erwähnte zuvor Macchavelli, denn auch Macron unterschlug die perfide Rolle des Westens: den Bären mit Nadelstichen zur Aggression zu reizen. Der polnischstämmige Zbigniew Brzeziński propagierte als Berater der US-Machtelite das Konzept, dafür die Ukraine zu nutzen, Willy Wimmers Report über die Konferenz in Bratislava Ende April 2000 mit der unverblümten Ankündigung der Planung des US-Außenministeriums, eine westliche Trennlinie der Einflusssphären vom Baltikum bis Dyabakir als neuer eiserner Vorhang zu etablieren und gleichzeitig den weichen Unterleib Russlands, die umgebenden islamisch geprägten Staaten der postsowjetischen Gebiete zu Aufständen anzustacheln.

Zum verbatim durchgestochenen Telefonat zwischen Macron und Putin gebe ich zu bedenken, dass nur wenige informierte französische Quellen dazu in der Lage sind. Und dass Macron im Vorwahlkampf unter ganz erheblichen innenpolitischen Druck stehend dabei selbst die Finger im Spiel gehabt haben könnte, um mit seiner Außenpolitik zu punkten. Dann wäre es ein weiterer Affront gegen Putin, den man nicht um seine Zustimmung ersucht haben dürfte.

Die im Niedergang befindliche „einzige Weltmacht“ versucht wie bisher internationale Institutionen für ihre Interessen zu instrumentalisieren: UNO, WHO, internationaler Gerichtshof, WTO, OPCW, IWF, OSZE etc. sind nicht unparteilich, die EU nicht mehr selbstständig. Als ehemaliger US-Army Oberst äußerte Douglas MacGregor: "Wir sollten dankbar sein für Putins Fähigkeit zur Zurückhaltung" https://www.youtube.com/watch?v=rWwSZrng3NM

Nicht wenige CIA- und US-Army-Veteranen äußern ihren Dissens, Robert F. Kenndy Jr. thematisiert das neben der Kritik an der Impfkampagne als Kandidat im Vorwahlkampf, Henry Kissinger argumentiert gegen weitere Eskalation. Plädiert zur Erreichung der imperialen Interessen allerdings implizit für probatere Methoden der Kriegsführung: Soft Power, verdeckte Regime Changes etwa. Angesichts der derzeitigen tektonischen Verschiebungen der Machtzentren ist die Lage wenig überraschenderweise zwar mit Gefahren verbunden, aber eben nicht aussichtslos. Dazu leisten nicht zuletzt auch ein wenig die Debatten einen bescheidenen Beitrag, denen auch dieses online-Magazin Raum bietet.

SIGRID PETERSEN, 11. Mai 2023, 15:00 UHR

@Bernhard Münstermann
Vielen Dank für diesen Kommentar. Ich kann mich Ihnen in allen Punkten anschließen, außer Ihrem ersten Satz bezüglich des zweifellosen Verstoßes Russlands gegen das Völkerrecht. Angefangen bei der inzwischen stereotypen Vorwegnahme des „völkerrechtswidrigen Angriffskrieges“, ist mir nur in Teilen klar, warum dieser Satz als Grund“überzeugung“ immer vorabgeschickt wird und ist mir auch nur in Teilen verständlich. Bisher - oder nicht? - war es Usus, dass zur Beurteilung eines Straftatbestands Gerichte herangezogen werden und eigentlich die Unschuldsvermutung gültig sein sollte. Nur in diesem Fall scheint alle westliche Welt die Grundlagen eines Rechtssystems vergessen zu haben. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass auch unter „Experten“ des internationalen Strafrechts hier die Meinungen auseinandergehen.

An dieser Stelle nun nochmals ein Zitat von Christopher Black, Anwalt für internationales Strafrecht, Toronto:

„Meiner Meinung nach handelte Russland im Einklang mit dem Völkerrecht gemäß Artikel 51 der UN-Charta, und zwar aus den folgenden Gründen; Erstens führte das Kiewer Regime mit Hilfe der NATO eine Großoffensive gegen die Donbass-Republiken durch, mit dem Ziel, sie zu zerstören. Bereits Tage vor dem Eingreifen Russlands hatte ein intensiver Beschuss von zivilen Gebäuden und Infrastruktur begonnen, der dazu führte, dass Tausende von Zivilisten nach Russland flohen. In dieser Zeit versuchte das Kiewer Regime auch, einen Führer der Republiken mit einer Autobombe zu ermorden. Russland hatte keine andere Wahl, als die Völker des Donbass zu schützen, und da der Sicherheitsrat nichts tun konnte und die EU und die NATO die Kiewer Offensive gegen den Donbass unterstützten, war Russland die einzige Nation, die handeln konnte.

Auch das Ersuchen der Donbass-Republiken um militärische Unterstützung zwang Russland dazu, seine Streitkräfte zu entsenden, um die Kiewer Streitkräfte aus den Gebieten der Republiken zurückzudrängen.
Zweitens war Russland selbst mehrfach von Kräften des Kiewer Regimes angegriffen worden. Immer wieder wurden Saboteure auf die Krim geschickt, um Überfälle zu verüben, Beamte zu ermorden und die Infrastruktur zu zerstören. Sie unterbrachen sogar die Wasserversorgung der Krim, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nur wenige Tage bevor Russland handelte, drang eine Kiewer Aufklärungseinheit in Russland ein, wurde aber entdeckt und vernichtet. Russland hatte nach der Karolinen-Doktrin jedes Recht, die Angreifer zu verfolgen und weitere Angriffe zu verhindern.“

Also überlassen wir doch die Aburteilung oder auch nicht, wenn zu finden, unabhängiger Gerichtsbarkeit, denn die Nötigungen sind umfassend und auch in dem Artikel deutlich herausgearbeitet. Bei dem Argument der „Annexion“ der Krim kommt die Verschenkung der selben, ohne Befragung der dort lebenden Bürger, 1954 durch Chruschtschow nie vor. Vielen Dank auch für die Erwähnung von Brzezinski, der m. E. nach wie vor deutlichen Einfluss auf die geostrategischen Ambitionen der USA ausübt.

Zum Artikel:

Dass es sich bei der Entscheidung, die militärische Sonderoperation zu starten, um eine emotionale Entscheidung gehandelt haben soll, bezweifle ich in hohem Maße. Dass es für viele, mich eingeschlossen, doch unerwartet gekommen ist, würde ich im Nachgang dadurch erklären, dass wir Normalos die Umstände (Bedrohungen, denen sich Russland ausgesetzt sah) mangels Informationen und Überblick eben nicht beurteilen konnten. Die schön von Ihnen herausgearbeitete russische Sicht stellt die über drei Jahrzehnte verfolgte „Anti-Russland“-Politik des Westens dar. Vertragsbrüche ohne Ende. Dass der Westen mit dieser Vorgeschichte eine Chance versäumt haben könnte, den Krieg noch zu verhindern?

Nachdem im Vorwege, insbesondere 7 Jahre Minsk, keinerlei Erfolge, eher im Gegenteil, die Situation (seitens des Westens) immer weiter verschärft worden war - (Aufrüstung der Ukraine, gegen den Donbass? Gegen Russland? Verschärfte militärische Angriffe gegen den Donbass, verschärfte soziale Angriffe gegen den Donbass (keine Pässe, keine Renten, keine russische Sprache), verschärfte Gesetze gegen die russische Bevölkerung in der Ukraine, die Krim von der Wasserzufuhr abzuschneiden ….) - hätte Russland dann noch irgendwelchen „Versprechungen“ glauben können? Zwar gab es Anfang 2022 die Merkel-, Holland- und Poroschenko-Aussagen zu Minsk noch nicht, aber die Verschleppung etc. war der russischen Führung bestimmt deutlich genug. Zu diesem Zeitpunkt, würde ich sagen, gab es keine Chance mehr. Und ich würde heute auch behaupten, dass kein Interesse seitens des Westens bestand.

Warum hätte man es so weit kommen lassen, wenn man es nicht so gewollt hätte? Wie das RAND-Papier von 2019 deutlich genug warnt, ist die vorgeschlagene Politik eine Frage des Risikos. Die USA hat das Risiko („But sanctions come with costs and, depending on their severity, considerable risks.“) insofern im Blick gehabt, als dass die USA (noch) als Profiteur ausgehen und Europa sich dreifach ins Knie geschossen hat (Europa kannte das RAND-Papier wohl nicht? Oder zu dumm, es zu deuten?). Dass aber Russland eben nicht unter den Sanktionen zusammengebrochen ist, im Gegenteil, und sich jetzt die Möglichkeit einer Ablösung der unilateralen zur multilateralen Welt aufbaut, war in dem RAND-Papier nicht vorgesehen.

Nur etwas früher, im Dezember 2021, hätte mit einer für Russland akzeptablen Auseinandersetzung mit den Entwürfen zu Sicherheitsabkommen vielleicht noch eine Chance bestanden, diesen Krieg zu vermeiden. Und hier hätte es in erster Linie eine Akzeptanz auf die „Unteilbarkeit der Sicherheit“ geben müssen, eine der Hauptforderungen. Ich würde einmal sagen, ein Grundbaustein einer staatlichen Sicherheitsstrategie, den die USA für sich sowieso beansprucht (s. Kuba), aber alle anderen Staaten wohl auch, kämen sie vor dieses Problem.

Vielleicht hat der Westen den Krieg nicht sprichwörtlich gewollt, er hat viel dafür getan, dass er begonnen wurde und wenig/nichts dafür getan, dass er verhindert wurde. Wenn dieses umgekehrt wäre, also lauter Anstrengungen seitens des Westens sichtbar und belegbar wären, diesen Krieg zu vermeiden, dann würde mir vielleicht auch einfallen, von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg seitens Russlands zu sprechen. Aber selbst dann, würde es vermutlich nicht gerechtfertigt sein, weil diese Beurteilung in kompetente Hände gelegt gehört. Siehe die oben zitierte Begründung von Chr. Black.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 11. Mai 2023, 19:05 UHR

@ Sigrid Petersen. Auch mir ist die Kontroverse unter Völkerrechtlern bekannt: (gewaltsame) Annektion versus konfliktträchtige Sezession. Auch halte ich das von Herrn Teusch im zweiten Teil des Essays angeführte Zitat aus den Putin-Gesprächen

„Es würde nur mehr Opfer geben, aber das Fazit wäre kein anderes als heute. Konflikte dieser Art, also Konflikte wie im Donbass, lassen sich nicht mit Waffen lösen. Da muss es schon direkte Gespräche geben.“

anders als der Autor U.T. nicht für eindeutig. Vielmehr passt es nach meinem Dafürhalten zum Tenor des Zitats im ersten Teil des Essays wie zu seinen vielen westlicherseits torpedierten Gesprächsofferten auch nach dem Beginn der russischen Militäroperation. Ich sehe auch, dass eine vorgeschlagene Volksabstimmung im Donbass (wie zuvor auf der Krim) unter Aufsicht internationaler Wahlbeobachter vom Westen nicht gewünscht wurde und wird. Ich habe mit dem ersten Satz deshalb begonnen, weil die UNO-Charta wegen der ungeheuren Wirkung neuer Massenvernichtungswaffen hier enge Grenzen ziehen will. Das gilt sowohl für den Einsatz militärischer Gewalt als auch für deren Androhung. Dieses Prinzip sollte nicht exemplarisch aufgeweicht werden. Wo fände sich ein unabhängig, ein unvoreingenommen urteilendes Gremium, vor dem die russische Regierung klagen könnte?

RALLE, 10. Mai 2023, 18:05 UHR

Ich komme nicht aus dem Völkerrecht, darum möchte ich mir nicht anmaßen, die russische Intervention als „eindeutigen“ Verstoß gegen das Völkerrecht oder „eindeutig“ konform mit dem Völkerrecht zu bezeichnen. Dass ich der Meinung bin, die Russen sind im Recht, hatte ich schon im Kommentar zum Teil 1 dieses Artikels beschrieben. Generell wird diese Angelegenheit zu kurz gefasst. Es wird ein Moment der Geschichte herausgerissen, um dann einen Völkerrechtsverstoß durch Russland zu begründen, oder nicht. Um das schöne Beispiel der Schulhofrauferei zu bemühen:

Der kleine Ralle mag den kleinen Ivan nicht, denn Ralle ist befreundet mit dem kleinen John und der mag den Ivan nicht. Ralle haut dem Ivan auf dem Pausenhof eine runter, doch Ivan haut zurück. Nun läuft Ralle heulend zum Direktor und beschwert sich über Ivan. Der Direktor stellt Ivan zu Rede: „Was hast Du böser getan? Du hast den lieben Ralle geschlagen!“ Ivan möchte als Antwort geben, dass Ralle angefangen hat, wird aber sofort vom Direktor unterbrochen: „hier geht es nicht um Ralle, hier geht es jetzt um Deine Missetaten“. So ähnlich geht es mir bei Diskussionen über den Krieg in de Ukraine.

Wir müssen bis zur Kubakrise schauen, da wollten die USA den 3. WK starten. Das nur, weil die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba (natürlich mit kubanischem Einverständnis) stationieren wollte. Nun springen wir in das Jahr 1990. Der Ostblock als Wirtschafts- (RGW) und Militärbündnis (Warschauer Pakt) existiert nicht mehr, die Sowjetunion ist zusammengebrochen und löst sich auf. Als Rechtsnachfolger der Sowjetunion steht die Russische Föderation, die auch allein für die Staatsschulden der ehemaligen Sowjetunion aufkommt, die anderen Teilrepubliken (einschl. Ukraine) halten sich dezent im Hintergrund. Damit ist der Kalte Krieg vorbei, unbestrittener Sieger sind die USA und deren NATO-Vasallen (nein, Partner sind es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr). Jetzt hätte man auch die NATO auflösen können. Schließlich hatte sich der Zweck der NATO (Schutz Westeuropas vor dem Warschauer Pakt) in Wohlgefallen aufgelöst. Trotzdem ließ man die NATO weiterleben, schlimmer noch, man erweiterte sie. Das entgegen den Versprechen, die man den Russen gegeben hatte. Vertragsbruch Nummer 1 (auch wenn das nicht schriftlich in Vertragsform festgehalten wurde).

Mit dem Wegfall des Gegners hatte die USA ein riesiges Problem. Wie sollte sie ihr enormes Rüstungsbudget rechtfertigen, wo es doch keine entsprechende Bedrohung mehr gab? Nun ist die Rüstungsindustrie in den USA Schlüsselindustrie (ähnlich der Automobilindustrie in Deutschland). In der Not griff die USA zu der angeblichen Bedrohung des Weltfriedens durch Terroristen (wie wir heute wissen, oftmals erfunden). In Folge dieser „Terrorbedrohung“ wurden dann fleißig Farbrevolutionen in Nordafrika (verbunden mit „Regimechange“ Aktionen) veranstaltet. Das reichte aber nicht aus, die Rüstungsindustrie der USA mit Aufträgen auszulasten. Dazu kam, dass Russland im Verständnis der USA noch immer der „Erbfeind“ ist, der er schon seit 150 Jahren war.

Umdenken im Pentagon = Fehlanzeige. Schlimmer noch, die USA mussten zusehen, wie einzelne Staaten Europas (Deutschland führend dabei) gute Handelsbeziehungen zu Russland aufbauten. Das war den Amerikanern ein Dorn im Auge. Dies aus zweierlei Hinsicht. 1. profitierte die Westeuropäische Wirtschaft von preiswerten russischen Rohstoffen, wurde also oftmals ein Konkurrent für die USA und 2. wurde die russische Wirtschaft gestärkt (was den Neuaufbau des russischen Millitärapperates erst möglich machte). An dieser Stelle begannen die Aggressionen der USA gegen Russland und seine Partner. Da wurde 1999 der Jugoslawienkrieg vom Zaun gebrochen (Kriegsgrund = Propagandalüge), dann wurde 2008 in Georgien gezündelt (hat Russland als anerkannte Schutzmacht schnell und im Einklang mit dem Völkerrecht beendet). Dann 2014 haben die USA (unter Bruch des Völkerrechtes) eine demokratisch gewählte Regierung in der Ukraine aus dem Amt geputscht und dort ein Marionettenregime etabliert.

Zwischendurch wurde (unter Vorwand den IS zu bekämpfen) auch noch Krieg gegen Syrien geführt (Völkerrecht? Ist den USA total egal). Die USA stehlen noch heute den Syrern ihr Erdöl, sie halten sich noch immer widerrechtlich im Irak auf.

Wie ging es in der Ukraine weiter? Das neue US-hörige Regime wollte (was für Wunder) in EU und NATO aufgenommen werden. Es machte die große russische Minderheit im Land zu Bürgern 2. Klasse, schloss die russische Sprache, die bis dahin 2. Amtssprache war, aus und begann mit dem Terror gegen das eigene Volk (Donbass). Russland hingegen reagierte und holte sich die Krim (die bis 1953 Bestandteil Russlands war und entgegen aller nationalen und internationalen Regeln ohne Abstimmung von Chruschtschow der Ukraine übereignet wurde) zurück. Das wird auch gerne in westlichen Medien als „Annektion“ bezeichnet. Wie kann man die Krim annektieren, wenn sie zu keinem Zeitpunkt der Geschichte völkerrechtskonform Bestandteil der Ukraine war?

Unterdessen nahm der Bürgerkrieg im Donbas immer größere Züge an. Die Menschen in der Region waren mit dem Maidan-Putsch nicht einverstanden. Sie waren nicht einverstanden, dass die USA ihnen eine Regierung aus US-Vasallen vor die Nase setzt, deren Ziel darin bestand, alles Russische auszumerzen, ihnen ihre kulturelle und nationale Identität zu rauben. Diese Menschen waren Russen, die als große nationale Minderheit im ukrainischen Donbass lebten. 8 Jahre führte die Ukrainische Armee dort Krieg, von den 14.000 Toten sollen 8.000 Zivilisten sein. Auf ukrainischer Seite werden u.a. Antipersonenminen eingesetzt. Die sind international geächtet, ihr Einsatz ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die halbherzigen Friedensbemühungen führen zu Minsk 2. Dieser Vertrag ist aufgrund UNO-Entscheidung rechtskonform und bindend. Weshalb er nicht umgesetzt wurde, wissen wir alle. Vertragsbruch Nr. 2

Springen wir in den Februar 2022 (17.) Die OSZE, welche sich im Vorfeld schon mal als Artilleriebeobachter für die Ukraine „nützlich“ machte, konnte die wesentliche Intensivierung des ukrainischen Beschusses der Republiken nicht verschweigen. Selenskyj hatte den Angriff zur „Rückeroberung“ gestartet. Russland hätte entweder zuschauen können, wie die in 8 Jahren aufgerüstete ukrainische Armee die Zivilisten im Donbass massakriert, oder dagegen vorgehen (was dann auch geschehen ist). Zu Anfang hatte Putin mit Sicherheit eine begrenzte Operation nach Vorbild des Vorgehens 2008 in Georgien geplant. Niemand glaubt, dass man mit 150.000 Soldaten die ganze Ukraine besetzen kann. Das hat er nicht vorgehabt. Seine diesbezügliche Rede vom 22.02.2022 auf deutsch zusammengefasst und komplett: https://www.anti-spiegel.ru/2022/praesident-putins-komplette-rede-an-die-nation-im-wortlaut/?doing_wp_cron=1683583750.1801109313964843750000

Das hat bis Butscha geklappt. Selenskyj‘s Fiedensangebot: Krim bleibt russisch, Ukraine geht nicht in die NATO, über Donbass wird verhandelt, lag schon auf dem Tisch, dann wurde die False Flag Aktion von Butscha gestartet, Johnson flog nach Kiew und „verbot“ die Friedensverhandlungen. Anmerkung: Selenskyj ist ein 100%iger Vasall der USA, er entscheidet nichts selbst, die USA oder GB machen die Vorgaben. Was dann folgte war immer: Aktion der USA (u. NATO/EU), Reaktion Russland. So schaukelt sich der Krieg bis heute immer höher. Zwischendurch faselt NATO-Stoltenberg davon, dass die Ukraine auf jeden Fall in die NATO kommt. Wozu soll das führen? Das macht es nur erforderlich, dass Russland die Ukraine bis zur bedingungslosen Kapitulation zerstört. Eine andere Option gibt es nicht mehr.

Die USA und die gleichgeschaltete EU überschütten Russland mit Sanktionen (alle verstoßen gegen das Völkerrecht, nur die UNO darf Sanktionen verhängen), die EU will jetzt sogar in die Souveränität anderer Staaten eingreifen und auch die mit Sanktionen bedrohen, wenn sie sich nicht an den von USA/EU ausgesprochen Sanktionen beteiligen. Sie nötigen also völlig unbeteiligte Staaten, damit auch diese die unberechtigten Sanktionen unterstützen. Sehr gerne versucht man Staaten der 3. Welt zu erpressen. Wer so permanent das Völkerrecht bricht, wie die USA und ihre Vasallen, der hat kein Recht, die Einhaltung des Völkerrechtes bei anderen Staaten einzufordern.

Aus aktuellem Anlass habe ich zu dem Thema gerade heute diesen wunderbaren Beitrag von Wolfgang Bittner gesehen (16 Minuten, sehr sehenswert): https://deutsch.rt.com/kurzclips/video/169624-deutschland-wird-ruiniert-bittner-rechnet/

Falls die Seite von RT blockiert wird (Zensur findet doch statt), hilft der (temporäre), Eintrag eines freien DNS unter den Netzeinstellungen des PC. Ein VPN ist nicht erforderlich. Freie DNS-Server (die wandeln den Namen „deutsch.RT.com“ in eine IP Adresse) gibt es hier: https://www.opennic.org/

WILLY SCHÜRER, 11. Mai 2023, 13:20 UHR

„Wir müssen bis zur Kubakrise schauen, da wollten die USA den 3. WK starten. Das nur, weil die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba (natürlich mit kubanischem Einverständnis) stationieren wollte.“

Kleine wichtige Nebensache: die Sowjetunion wollte das als Reaktion auf die Aufstellung von Atomraketen durch die USA in der Türkei.

„Jetzt hätte man auch die NATO auflösen können. Schließlich hatte sich der Zweck der NATO (Schutz Westeuropas vor dem Warschauer Pakt) in Wohlgefallen aufgelöst.“

Der Zweck der NATO war nicht der Schutz vor dem Warschauer Pakt. Es war umgekehrt. Der Warschauer Pakt wurde als Reaktion auf die Gründung der NATO ins Leben gerufen.

Egal wie weit man in der konfrontativen Geschichte zwischen dem Westen und Russland zurückgeht: es war immer der Westen, von dem die Aggression ausging. Sei es von Schweden, Litauen, Napoleon oder Hitler. Auch diesmal, es sei denn, man ignoriert alles, was dem 24.2.22 vorausging.

Auch während des 2. Weltkriegs war die Devise des Westens den Krieg möglichst anzuheizen, damit sich die Russen und die Deutschen die Köpfe einschlagen und gegenseitig auslöschen mögen. Kaum war die Schlacht entschieden, wurde sofort die Sowjetunion als der neue gefährliche bösartige Feind auserkoren.
Jetzt wird angeheizt, damit sich Russen und Ukrainer die Köpfe einschlagen und gegenseitig auslöschen. Als willkommener Kollateralschaden wird von den Angelsachsen die deutsche wirtschaftliche Selbstzerstörung begrüßt, die von der neuen deutschen „Elite“ betrieben wird, die sich – zum Schaden des deutschen Volks – in einer „dienenden Führungsrolle“ (Zitat Habeck) gegenüber den USA wahnt (die fehlenden Tüpfelchen auf dem „a“ sind Absicht).

JÖRG G, 12. Mai 2023, 08:10 UHR

Vielen Dank für den umfangreich recherchierten Artikel. Zunächst muss auch ich betonen, dass es mir schwerfällt, von „eindeutig völkerrechtswidrig“ zu sprechen, da die Völkerrechtler sich bei dem Thema offensichtlich nicht einig sind. „Völkerrechtlich umstritten“ könnte ich ohne weiteres akzeptieren. Putin bezeichnet die ukrainische Regierung als illegitim. Wurde denn seit dem Putsch 2014 jemals eine Wahl abgehalten, in der landesweit frei gewählt werden durfte? Falls die ukrainische Regierung nicht demokratisch legitimiert ist, wäre das sicherlich in der ganzen Diskussion um Rechtmäßigkeit zu berücksichtigen.

Zu dem Punkt, dass der Krieg von westlicher Seite nicht gewollt gewesen wäre: Es ist meines Erachtens deutlich zu erkennen, dass im Westen das Feindbild „böses Russland“ schon seit Jahren gezielt aufgebaut wird. Es gibt unzählige Beispiele verleumderischer Berichterstattung gegen Russland (MH17, Nawalny, usw.) und auch Aktionen, die m.E. explizit dazu dienten, Russlands Ruf zu schädigen, wie Russia-Gate und Skripal. Der Aufbau dieses Feindbildes war Voraussetzung für die westliche Kriegsbeteiligung - so wie die aktuelle Berichterstattung über China, den Weg für einen China-Krieg ebnet.

MICHAEL M, 13. Mai 2023, 14:55 UHR

Zur "eindeutigen Völkerrechtswidrigkeit" klafft meiner Ansicht nach ein scheunentor-grosses Loch in der Argumentation von Alfred de Zayas, und damit auch Ihrer, Herr Teusch:

a) Russland hat am 21.2.2022 die abgespaltenen Republiken Donetsk und Lugansk anerkannt.
b) Danach hat in den folgenden Tagen der ukrainische Artillerie-Beschuss ziviler Ziele - insbesondere der Stadt Donetsk - stark zugenommen, wie übrigens nicht Russland, sondern die OSZE festgestellt hat.
c) Daraufhin haben die zwei Donbass-Republiken am 24.2. um militärischen Beistand gebeten.
d) Worauf Russland unter Verweis auf Artikel 51 Absatz 7 der Charta der Vereinten Nationen die SMO begann.

(Minimale Ungenauigkeiten meiner aus dem Gedächtnis wiedergegebenen Fakten, z.B. dass vielleicht die Duma der Unabhängigkeit erst am 22.2. per Parlamentsbeschluss und danach Putin per Unterzeichnung diesem legale Wirksamkeit verlieh, ändern nichts an der Hauptsache.)

Wenn nun Hr. de Zayas diese vier Punkte nicht nur nicht hinterfragt, oder gar widerlegt - unter Berücksichtigung von Fällen wie 'Kosovo' -, sondern sie schlicht komplett ignoriert, macht es die Gesamt-Aussage irgendeiner "Eindeutigkeit" zumindest höchst fragwürdig, wenn sie nicht eine Argumentation in 'bad faith' darstellt.

ULRICH TEUSCH, 14. Mai 2023, 09:25 UHR

Verstehe ich Sie richtig? Russland wurde also am 24. Februar 2022 von zwei Provinzen der Ukraine (die erst drei Tage zuvor von Russland als unabhängige Staaten anerkannt worden waren) um militärischen Beistand ersucht. Russland hat das Ersuchen sofort akzeptiert, unmittelbar darauf seine Militär-Maschinerie in Bewegung gesetzt und die Ukraine-Invasion begonnen – das alles noch an ein und demselben Tag, am 24. Februar. Finden Sie nicht, dass das ein bisschen viel auf einmal ist? Haben Sie nicht den Verdacht, dass zu diesem Zeitpunkt die Angriffsentscheidung längst gefallen war? Dass sie auch schon am 20. Februar, als Macron mit Putin telefonierte, längst gefallen war? Man kann Militäraktionen dieser Größenordnung (vielleicht) von heute auf morgen abblasen, aber man kann sie mit Sicherheit nicht von heute auf morgen in Gang setzen. Das Hilfe-Ersuchen aus dem Donbass war nichts weiter als der leicht durchschaubare Versuch, dem ganzen Unternehmen wenigstens einen Anschein von Legalität zu geben.

Ein Wort zur OSZE: Auf deren Berichte habe ich in meinem Artikel Bezug genommen. Ich erwähne allerdings nicht nur die von der OSZE registrierten Verletzungen des Waffenstillstands, sondern auch die Angriffe auf die OSZE-Mission sowie die OSZE-Berichte über schwere Waffen, die im Donbass in den Wochen vor Kriegsbeginn an die Kontaktlinie geschafft wurden.

Sie unterstellen Alfred de Zayas (und damit ja auch mir) „bad faith“. Nun ja, es gibt auch das Gegenteil. Manchmal wird man auch von „good faith“ in die Irre geleitet.

WILLY SCHÜRER, 14. Mai 2023, 16:35 UHR

Lieber Herr Teusch,

„Man kann Militäraktionen dieser Größenordnung (vielleicht) von heute auf morgen abblasen, aber man kann sie mit Sicherheit nicht von heute auf morgen in Gang setzen.“

Damit haben Sie sicher recht. Aber Ihnen ist doch wohl hoffentlich auch klar, dass Russland seit Jahren damit rechnen musste (angesichts der Aussagen aus der Ukraine und der „westlichen Partner“), dass es jeden Moment zu einer Eskalation kommen könnte. Entsprechend war Russland natürlich für diesen Fall vorbereitet. Um nur die letzten Re/aktionen des Westens (inkl. Ukraine) vor dem 24.2.22 zu erwähnen: Selenskys bei der Münchner Sicherheitskonferenz vorgetragenes Anliegen der nuklearen Aufrüstung der Ukraine, arrogante Zurückweisung des russischen Vorschlags für Sicherheitsgarantien, beginnende Eskalation der ukrainischen Angriffe auf den Donbass.

Und in diesem höchsten Alarmzustand ist es kein großes Wunder, dass die Militäraktion von heute auf morgen in Gang gesetzt werden konnte. Russland – damals noch UdSSR – hat ein besseres historisches Gedächtnis als die Staaten des faschistischen Überfalls und ihrer Kollaborateure. Die gigantische Zahl von 27 Millionen Opfern ist nicht zuletzt auch der mangelnden Vorbereitung der UdSSR auf den faschistischen Überfall geschuldet.

„Das Hilfe-Ersuchen aus dem Donbass war nichts weiter als der leicht durchschaubare Versuch, dem ganzen Unternehmen wenigstens einen Anschein von Legalität zu geben.“

Wieso nur den Anschein? Was ist daran nicht legal und hat nur den Anschein legal zu sein? Ich hatte weiter oben in meinem ersten Beitrag geschrieben: „Ja, natürlich ist der Überfall auf die Ukraine völkerrechtswidrig. Darüber muss man nicht diskutieren.“ Ich möchte hier mal die Möglichkeit in den Raum stellen, dass ich das nur geschrieben habe, um nicht auch noch die Diskussion über die Völkerrechtskonformität austragen zu müssen. Angesichts der US-Verbrechen hat – wie ich dort auch geschrieben habe – das Kriterium „völkerrechtswidrig“ ohnehin kaum mehr Gewicht.

Ich halte die von verschiedenen Diskutanten hier vorgetragenen Argumente gegen die Völkerrechtswidrigkeit für sehr stichhaltig. Wohingegen die Unterlassungen von Herrn de Zayas unseriös sind. Da spielt das Datum der Ereignisse keine Rolle. Diese Ereignisse sind Fakt und nicht Fake, wie seinerzeit das Reagenzglas des amerikanischen Außenministers bei der UNO. Auf eine weitergehende Diskussion zur Völkerrechtswidrigkeit möchte ich mich angesichts der Rechtslage für deutsche Normalbürger (die kein politisches Mandat ausüben – für die gelten andere Gesetze) nicht einlassen.

MICHAEL M, 14. Mai 2023, 16:35 UHR

In Ihrer Antwort fehlt plötzlich jeder direkte Bezug zum Völkerrecht, Herr Teusch. Zeigen Sie mir doch den Paragraphen, wonach die Einhaltung einer Frist zwischen Anerkennung der Unabhängigkeit und dem militärischem Beistand vorgeschrieben ist für die Berufung auf Artikel 51 Absatz 7 der Charta der Vereinten Nationen.

Ist ja sehr schön dass die OSZE schon Wochen vor der SMO die Bewegung schwerer Waffen bemerkte, doch hat das keine juristische Relevanz, und irgendwie kann ja der Jahre-lange ukrainische Beschuss ziviler Ziele dabei auch nicht ganz unerwähnt bleiben.

Ich muss da auch nochmal den 'Kosovo' erwähnen. Wie mir auch erst vor 15 Monaten klar wurde, hat der IGH mit seinem Entscheid faktisch den Westfälischen Frieden aufgehoben, nachdem - vereinfacht gesagt - jede Grenzänderung durch Aussenparteien einen Kriegsakt darstellt. (Hatte der IGH eigentlich dazu das Recht??) Tja, nun kann sich Putin auf diesen Präzedenzfall berufen.

Und abschliessend, ich werde stets ein Anhänger einer gesetzes-basierten Ordnung bleiben, anstatt einer "rules-based order" bei der die Regeln komischerweise nie klar festgelegt wurden und nachlesbar sind.

ULRICH TEUSCH, 15. Mai 2023, 12:40 UHR

Ich beziehe mich auf mein Statement vom 14. Mai und die (am selben Tag erfolgten) Antworten von Willy Schürer und Michael M. Es ist dies meine zweite Wortmeldung zu unserem Thema. Darüber hinaus werde ich mich an der Diskussion erst einmal nicht mehr beteiligen. Die wesentlichen Argumente, so scheint mir, sind ausgetauscht. Und wir werden, fürchte ich, keinen Konsens erzielen. Natürlich würde es mich freuen, wenn auf meine folgenden Bemerkungen nochmal Antworten eingingen, aber ich werde diese dann von meiner Seite unkommentiert stehen lassen. Wie ich in meinem Artikel geschrieben hatte: Es ist nicht unbedingt mein Ziel, andere von meinen Ansichten zu überzeugen, sondern es reicht mir, wenn ich zu einer reflektierten Urteilsbildung anregen und beitragen kann. Und das ist doch gelungen, denke ich. Im Übrigen: Es werden auf Multipolar sicher noch weitere Artikel zum Ukraine-Krieg folgen, in denen man auf den einen oder anderen Punkt, der zwischen uns strittig ist, zurückkommen kann.

Einige Aspekte, die in den Statements von Herrn Schürer und Herrn M angesprochen werden (Selenskyjs Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz, Lage im Donbass kurz vor der Invasion etc.) hatte ich in meinem Artikel schon abgehandelt (ergänzt um aussagekräftige Links); darauf werde ich hier nicht mehr näher eingehen.

Herr Schürer, Sie hatten meiner Aussage, die russische Invasion sei „eindeutig völkerrechtswidrig“, am 9. Mai zugestimmt und hinzugefügt, dass man darüber „nicht diskutieren“ müsse. Jetzt schreiben Sie: „Ich möchte hier mal die Möglichkeit in den Raum stellen, dass ich das nur geschrieben habe, um nicht auch noch die Diskussion über die Völkerrechtskonformität austragen zu müssen.“ Da Sie den Widerspruch selbst konstatieren, will ich darauf jetzt nicht groß herumreiten. Aber verstehen Sie, dass ich mich da von Ihnen ein wenig auf den Arm genommen fühle?

Gleich darauf schreiben Sie, dass angesichts der US-Verbrechen das Kriterium „völkerrechtswidrig“ ohnehin kaum mehr ins Gewicht falle. Das sehe ich entschieden anders. Und das hat auch (zum Beispiel) Putin all die Jahre entschieden anders gesehen. Wie wollen wir den Übergang zu einer „multipolaren Weltordnung“, von dem jetzt allerorten (und auch in diesem Magazin) die Rede ist, friedlich und gedeihlich bewältigen ohne Respekt vor dem Völkerrecht?

Sie zeichnen ein hochdramatisches Bild, Herr Schürer. Sie sagen, Russland habe „seit Jahren“ damit rechnen müssen, „dass es jeden Moment [!] zu einer Eskalation kommen könnte“. Sie sprechen von „höchstem Alarmzustand“. Und „natürlich“ sei Russland für den Fall des Falles „vorbereitet“ gewesen – und zwar so gut vorbereitet, dass es von jetzt auf gleich Kriegshandlungen ins Werk setzen konnte.

Eine Verständnisfrage: Während Michael M darauf beharrt, dass Russland dem Donbass zu Hilfe geeilt ist, klingt es bei Ihnen so, als sei Russland (und so muss ich auch Ihren Hinweis auf den deutsch-sowjetischen Krieg 1941-1945 deuten) selbst existenziell bedroht gewesen und habe sich darob zum Handeln entschlossen (was nun wieder die russische Seite in der Begründung ihrer „Speziellen Militäroperation“ aber gar nicht behauptet hatte). Was gilt denn nun? Ich habe in meinem Artikel im Abschnitt „Motive und Ziele“ noch einige weitere mögliche Kriegsbegründungen aufgezählt (keine vollständige Liste übrigens!). Mir scheint, dass dieser Krieg, wie man in der Wissenschaft sagen würde, „logisch überdeterminiert“ ist, und jeder sich die Begründung heraussuchen kann, die ihm gerade passt.

Sie, Herr Schürer – und für Michael M gilt wohl das Gleiche – gehen von einer extrem dramatischen und gefährlichen Lage in den Monaten vor dem 24. Februar 2022 aus. Ich habe dazu eine Frage, und ich stelle Ihnen diese Frage ohne jede Ironie. Ich bitte Sie um eine wirklich ehrliche Antwort: Haben Sie aufgrund Ihrer Lage-Einschätzung mit einer russischen Invasion gerechnet? Wurden Sie also am 24. Februar nicht überrascht? Haben Sie in den Wochen vor dem 24. Februar, als die Warnungen und Prognosen der US-Geheimdienste durch die Medien gingen, zustimmend genickt, während ich und viele, viele andere fassungslos den Kopf geschüttelt haben?

Michael M zeigt sich erstaunt darüber, dass ich in meiner Antwort auf seinen Kommentar „plötzlich“ nicht mehr vom Völkerrecht spreche. Das war auch nicht nötig. Ich wollte ihn ja eigentlich nur darauf hinweisen, dass der Dreischritt „Anerkennung – Hilferuf – Invasion“ im Rekordtempo vollzogen wurde und aus meiner Sicht völlig unglaubwürdig war und ist. Es handelte sich hier nicht um „statecraft“, sondern um „stagecraft“.

Ich kann aber gerne nochmal auf die völkerrechtliche Seite eingehen: Bis ran an den 21. Februar 2022 betrachtete die ganze Welt (Russland eingeschlossen) die Regionen Donezk und Lugansk als Teile des souveränen Staats Ukraine. Dann erkannte Russland die beiden Regionen als eigenständige Staaten an. Unmittelbar darauf ersuchten die beiden nur von Russland völkerrechtlich anerkannten ukrainischen Provinzen Russland um militärischen Beistand, den dieses sofort gewährte, indem es nicht nur in Donezk und Lugansk militärisch tätig wurde, sondern gleich die ganze Ukraine ins Visier nahm. Einige Monate später wurden die angeblich unabhängigen Staaten sowie zwei weitere Oblaste (unklar abgegrenzt und nicht vollständig militärisch gesichert) annektiert und der Russländischen Föderation einverleibt. – Und das alles soll völkerrechtskonform sein?

Eine Schlussbemerkung: Natürlich freue ich mich über viele Leserkommentare, auch und gerade kritische. Ich fand es diesmal aber etwas überraschend (und schade), dass meine Aussage „eindeutig völkerrechtswidrig“ so breit besprochen wurde, während andere Thesen und Beobachtungen, die aus meiner Sicht wesentlich brisanter waren, unterbelichtet blieben: So hatte ich geschrieben, dass ich die russische Invasion für eine verhängnisvolle, katastrophale Fehlentscheidung halte; dass der Invasion eine Machtverschiebung in Russland vorausgegangen sei (um 2019 herum), mit der die nationalistischen Hardliner das Sagen bekamen; dass der Krieg die autoritären, repressiven Züge des russischen politischen Systems stärken werde; und dass der Krieg nach dem Scheitern der „Speziellen Militäroperation“ seinen Charakter grundlegend verändert habe und – wenn nicht bald Vernunft auf allen Seiten einkehrt – auf ein Ende mit Schrecken zusteuere.

WILLY SCHÜRER, 15. Mai 2023, 17:30 UHR

Lieber Herr Teusch, der Text des neuen Absatz 5 des Paragrafen 130 StGB lautet:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Handlung der in den §§ 6 bis 12 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art gegen eine der in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten Personenmehrheiten oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer dieser Personenmehrheiten öffentlich oder in einer Versammlung in einer Weise BILLIGT, LEUGNET oder GRÖBLICH VERHARMLOST, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt gegen eine solche Person oder Personenmehrheit aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören.“

Insofern tun Sie gut daran, die „militärische Sonderaktion“ Russlands als völkerrechtswidrig einzustufen. Mehr werde ich zu diesem Thema hier nicht mehr beitragen. Es tut mir leid, dass Sie sich von mir auf den Arm genommen fühlen. Das war nicht meine Absicht. Die Randbedingungen für offene Diskussionen sind im demokratischen Rechtsstaat Deutschland heutzutage schlechter, als sie es schon einmal waren. Wenn ich sagte, dass das Kriterium „völkerrechtswidrig“ kaum mehr ins Gewicht fällt, dann meinte ich damit die aktuelle Praxis der doppelten Standards im Wertewesten im Umgang damit. Natürlich muss in einer multipolaren Welt das Völkerrecht im Gegensatz zu jetzt wieder uneingeschränkt gelten. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Gemessen daran, wie die aktuelle Weltmacht damit umgeht, kann es nur besser werden.

Ich bin ohnehin der Meinung, dass viele der bösartigen Absichten, die der Westen den „autokratischen Regimen“ unterstellt nur Projektionen der westlichen Machthaber sind. Viele von ihnen sind in einem nicht optimalen demokratischen Ausleseprozess an ihre Positionen gekommen, der daran krankt, vorwiegend Personen mit psychopathischen Persönlichkeitsstörungen in Machtpositionen zu befördern. Solche Personen projizieren gerne ihre eigenen geheimsten Absichten und Neigungen auf andere. Auch wenn Sie meine Sichtweise als hochdramatisch charakterisieren. Ich bin seit langem überzeugt, dass Russland durch die Handlungen des Westens existentiell bedroht ist. Um zu dieser Überzeugung zu kommen, muss man nur öffentliche Stellungnahmen und Absichtserklärungen einflussreicher Thinktanks ernst nehmen. Ich nenne hier nur die vorletzte Studie der RAND-Corporation mit dem vielsagenden Namen „Overextending Russia“.

Dass es allmählich ernst wird, wurde mir spätestens durch den blutigen Maidan-Putsch bewusst, bei dem die Garantiemächte für den beschlossenen friedlichen Übergang – Polen, Frankreich und Deutschland vertreten durch ihre jeweiligen Außenminister (u.a. Steinmeier) – keinen Finger gerührt haben, um ihrer am Vortag gegebenen Garantieversprechen gerecht zu werden. Stattdessen Shakehands mit den Putschisten. Diese Garantien waren – im Gegensatz zum Versprechen, die NATO nicht nach Osten auszuweiten – schriftlich fixiert worden. Spielte keine Rolle. Der eine Unterzeichner war ja grade weggeputscht worden. So ähnlich stellte ich mir auch das gewünschte Drehbuch für Russland vor. Was Ihre Frage zum 24.2.22 betrifft: ich war genauso überrascht wie Sie. Im Rückblick bin ich das nicht mehr.

Zu Ihrer Schlussbemerkung: im Westen im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen wird ja heutzutage viel beklagt, dass man in der Vergangenheit den Fehler gemacht habe, Russland zu stark zu vertrauen. Und sich dadurch in gefährliche Abhängigkeit von Russland gebracht hätte. Mir ist kein einziges Beispiel bekannt, wo Russland die angeblich gefährliche Abhängigkeit des Westens für irgendwelche Drohgebärden oder gar Handlungen missbraucht hätte. Ihnen schon? Ich denke, die Entwicklungen in Russland, die sie in Ihrer Schlussbemerkung beklagen sind eine unvermeidliche Folge der jahrelangen Gutgläubigkeit von russischer Seite gegenüber dem Westen, die sich im Rückblick als großer Fehler herausgestellt hat.

MICHAEL M, 15. Mai 2023, 21:20 UHR

(Antwort zu 15. Mai)
Hr. Teusch, auch ich wurde am 24. Februar überrascht. Mir war im Dezember 2021 klar gewesen, dass das Angebot Russlands keine PR Aktion war, sondern ein letzter ernst gemeinter Versuch war, die Sicherheits-Architektur Europas am Verhandlungstisch zu klären. Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt praktisch kein Detailwissen über die Vorgänge im Donbass in den Jahren 2016 bis 2021 - ich hatte währenddessen viele Jahre im fernen Ausland gelebt. (Syrien hatte ich einigermassen mitverfolgt, Donbass nicht.)

Doch nach 5 Tagen Recherche und Verdauen (ab Beginn der SMO) musste ich feststellen, dass der Grund (für die Überraschung) eindeutig auf meiner Seite lag. Mit erweitertem Wissen war ich dann eigentlich nur noch baff erstaunt, dass sich Russland so lange hat hinhalten lassen, mit, wie wir inzwischen wissen, sogar bewusst gelogenen Versprechungen und schriftlichen Vereinbarungen (Merkel, Hollande) usw. usf.

Aber der richtige Aufwacher war dann für mich, im April 2022, ein Link zu (https://youtu.be/_CMby_WPjk4). Nicht wegen der Dinge, die Dr. Karber in Westpoint (!) direkt anspricht (wenngleich die auch schon deftig sind), sondern weil zusammengenommen er umfassend beschreibt, fast schon bis zum Punkt der Unwiderlegbarkeit, wie sich die NATO bereits seit ca. 2014 im Krieg mit Russland befindet. Schön auch mal erfahren zu dürfen, dass wir bereits seit 2014 oder 2015 im dritten Weltkrieg sind!

Für akademische Zwecke können Sie gerne irgendwann mal exakt darlegen, gegen welche Völkerrechts-Paragraphen Putin genau verstossen haben soll - rhetorische Fragen wie "Und das alles soll völkerrechtskonform sein?" reichen dazu nicht aus.

Aber im grossen Bild wäre es vermutlich angebrachter, sich (auch selbst-kritisch) zu fragen, WIE die Eskalationsspirale vor dem Erreichen des vollumfassenden Atomkriegs durchbrochen/gestoppt werden soll. Die bisherige westliche Antwort "indem wir alles gewinnen und Russland alles verliert; gerne darf sich Russland dann auch noch gleich selbst auflösen" kann ja nicht das (ernstgemeinte) letzte Wort sein.

WILLY SCHÜRER, 16. Mai 2023, 21:10 UHR

„Es ist nicht unbedingt mein Ziel, andere von meinen Ansichten zu überzeugen, sondern es reicht mir, wenn ich zu einer reflektierten Urteilsbildung anregen und beitragen kann. Und das ist doch gelungen, denke ich.“

Ja, das ist Ihnen gelungen. Meine Intention zur Beteiligung an Diskussionen ist identisch mit dem, was Sie hier als Ihre Motivation beschreiben. Insofern mache ich jetzt noch einen Nachtrag zu meinen gestrigen Anmerkungen. Nicht um Sie zu überzeugen. Ich denke, das wird mir angesichts Ihrer meiner Ansicht nach doch tiefsitzenden Ressentiments gegen Russland (bzw. Putin als dessen Stellvertreter) kaum gelingen.
Mein Nachtrag gilt meiner folgenden Anmerkung:

„Um zu dieser Überzeugung zu kommen, muss man nur öffentliche Stellungnahmen und Absichtserklärungen einflussreicher Thinktanks ernst nehmen.“

Es gibt auch noch andere, reale Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, die mich dazu veranlassten, Russland in existenzieller Bedrohung zu sehen. Als da wären die unter dem Label „responsibility (or intervention?) to protect“ und „Demokratisierung“ erfolgten westlichen völkerrechtswidrigen Angriffe auf Afghanistan, Irak, Libyen, Jugoslawien und Syrien. Vermutlich habe ich noch einige vergessen zu erwähnen. Wenn man sich die Ergebnisse dieser angeblichen Schutz- bzw. Demokratisierungs-Projekte ansieht, so muss einen normal empfindenden Menschen das kalte Grauen überkommen. Die Planer dieser Aktionen nahmen allerdings ein derartiges Ergebnis ihrer Mission billigend in Kauf.

Kleiner Exkurs: Wie wir heute alle wissen, haben die USA den Rest der Welt 1972 dadurch betrogen, dass sie das bei der Erschaffung des Bretton-Woods-Währungssystem gegebene Versprechen der Einlösung von Dollars zu einem festen Wechselkurs gegen Gold 1972 durch die „Schließung des Goldfensters“ durch Präsident Nixon gebrochen haben. Aus amerikanischer Sicht war dies erforderlich, da sie andernfalls ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Nord-Vietnam nicht weiter finanzieren hätten können. Das ging nur mit der Umstellung auf ein Währungssystem, bei dem man Geld aus dem Nichts schaffen konnte. Der Betrug war offensichtlich.

Wie war es möglich, dass der Rest der Welt dem grade ertappten Betrüger erneut auf den Leim gehen konnte? Dazu war der Deal der USA mit der Vorzeigedemokratie Saudi-Arabien erforderlich. In diesem Deal war geregelt, dass der größte Erdöl-Exporteur der Welt, Saudi-Arabien, in Zukunft seinen Rohstoff nur noch gegen (aus dem Nichts geschöpfte) Dollars verkaufen würde. Dadurch war der Grundstein dafür gelegt, dass die USA ab sofort zum Nulltarif auf Kosten des Rests der Welt leben konnten. Nur die USA können Dollars aus dem Nichts schöpfen, alle anderen Akteure müssen sie sich verdienen. Die Gegenleistung der USA hierfür war die Verpflichtung, das vorbildliche demokratische Regime Saudi-Arabiens gegen Angriffe jeglicher Art zu verteidigen. Dieses Konstrukt ist unter dem Namen „Petro-Dollar“ bekannt, dessen allmählichen Endes wir gerade Zeitzeugen sein dürfen.

Als ich vor mehr als zwei Jahrzehnten damit begann, mich darum zu bemühen, unser aktuelles Geld- und Währungssystem zu verstehen fand ich Gefallen daran, mich an Internetdiskussionen zu diesem Thema zu beteiligen. Ich kreierte dabei meinen eigenen Begriff für das Petrodollar-System. Ich nannte es den Atombomben-Standard. Ich nehme das Urheberrecht für diesen Begriff für mich in Anspruch, da er mir in zahlreichen Diskussionen nie von anderer Seite zu Ohren gekommen ist. Im Rückblick auf die geopolitischen Ereignisse der letzten mehr als zwei Jahrzehnte (im Wesentlichen: völkerrechtswidrige Kriege der USA und ihrer Vasallen) finde ich diesen Begriff treffender denn je. Ich benutzte diesen Begriff (Atombomben-Standard) in Reminiszenz an den Begriff Gold-Standard, denn das Brettonwood-System war ja – aufgrund der Dollarbindung an Gold – in gewisser Weise noch ein Goldstandard.

Was hatte ich mir bei der Prägung des Begriffs Atombomben-Standard gedacht? Nun, dass der aus dem Nichts geschaffene Dollar durch die amerikanische Atombombe gedeckt sei. So wie der Bretton-Woods-Dollar durch Gold gedeckt war. Im Rückblick hat sich die Korrektheit dieser Einschätzung mehrmals gezeigt. Saddam Hussein und Muhammad Gaddafi wurden eindeutig deswegen von durch die USA verdingte Mörder beseitigt, weil sie dabei waren, eine Alternative zum Atombomben-Standard zu etablieren. Das gilt zwar nicht für die Führer der anderen oben erwähnten drei Staaten Jugoslawien, Afghanistan und Syrien. Aber deren Problem war, dass sie nicht über die Atombombe verfügten.

Bis 2014 machte ich mir um Russland wenig Sorgen, da es dem Atombomben-Standard nicht die gleiche Wirtschaftsstärke, aber zumindest die Atombombe entgegensetzen konnte. Was den Einsatz des militärischen Schutzes für den Atombomben-Standard zu einem Selbstmordkommando gemacht hätte. Das ist auch heute noch so. Was sich geändert hat – und mir große Sorgen macht – ist die weit fortgeschrittene Psychopathisierung der westlichen Führungseliten. Ich sehe die Gefahr, dass in deren von der Realität abgehobenen Wahrnehmung dieser Schutzmechanismus Russlands nicht mehr wirken könnte.

So schlimm der Begriff klingen mag: „Gleichgewicht des Schreckens“. Er bezeichnete die Versicherung gegen den selbstverschuldeten Untergang der Menschheit angesichts der Tatsache, dass deren Erfinderdrang ihr die Möglichkeit geschaffen hatte, diesen durch den Einsatz von Atom- und Wasserstoffbomben herbeizuführen. Diese Versicherung basierte allerdings auf der Annahme, dass beiderseits des eisernen Vorhangs halbwegs vernunftbegabte Entscheidungsträger handeln. Ich hoffe sehr, dass meine Sorge unberechtigt ist, diese Annahme sei für eine der beiden Seiten zunehmend zu bezweifeln. Und damit meine ich nicht denjenigen Machtpolitiker, dem sie eine unüberlegte Handlung unterstellen, die er emotional unter enormen Stress getroffen habe. Sollten die Machtpolitiker der anderen Seite nur halb so besonnen handeln wie jener, dann wäre meine Sorge gegenstandslos.

Jenseits der mächtigen Lenker unserer Staaten gibt es auf dieser Welt unzählige Menschen, deren Handlungsmaxime nicht zu einem „Gleichgewicht des Schreckens“ geführt hätte, sondern zu der „Menschheitsfamilie“ (meines Wissens von Daniele Ganser geprägter Begriff). Sowohl die eine, als auch die andere Handlungsmaxime ist jedem von uns in die Wiege gelegt. Welche letztendlich dann ihre Wirkkraft entfaltet, wird meiner Meinung nach vor allem durch das zugrundeliegende Erziehungswesen der Gesellschaft geprägt. Neben dem skrupellosen Machtmenschen und dem unterwürfigen Untertan ist da auch noch das Potential für den empathischen Mitmenschen. Meiner Meinung ist letztere von dieser drei Ausprägungen diejenige, die unserer angeborenen natürlichen Neigung am besten entspricht.

In diesem Sinne habe ich durchaus Hoffnung, dass durch ein geeignetes Bildungssystem und durch geeignete demokratische Auswahlverfahren auch eine bessere Gesellschaft möglich ist, sofern wir die aktuelle Herausforderung meistern und zu einer multipolaren Weltordnung kommen, die unabdingbare Voraussetzung für die Realisierung der beiden genannten Hoffnungsträger ist.

ULRICH TEUSCH, 17. Mai 2023, 14:25 UHR

Lieber Herr Schürer,

jetzt muss ich mich – entgegen meiner Absicht – doch nochmal melden. Sie haben mich nämlich ein wenig „provoziert“ – nicht mit Ihren inhaltlichen Ausführungen, sondern mit Ihrer Bemerkung über meine angeblich „tiefsitzenden Ressentiments gegen Russland (bzw. Putin als dessen Stellvertreter)“. Als ich das gelesen habe, musste ich denn doch etwas schmunzeln. Ich würde mal behaupten, dass ich seit 2014 meinen Ruf als Russland- und Putin-Versteher weg habe, zumindest unter den Leuten, die meine Elaborate überhaupt zur Kenntnis nehmen. Und in den Jahren seither habe ich das eine oder andere getan, um meinen üblen Ruf zu festigen (z.B. 2019 in dem Buch „Der Krieg vor dem Krieg“).

Natürlich habe ich mich gefragt, wie Sie auf die Idee kommen, ich hätte tiefsitzende Ressentiments. Und ich glaube, dass ich eine Antwort gefunden habe, die vielleicht auch für andere Leserinnen und Leser interessant ist. Mein Eindruck ist nämlich, dass es in der Diskussion (nicht nur hier bei Multipolar) zwei Argumentationslinien gibt:

Die einen (und ich würde Sie dazu zählen) sagen, dass die Entwicklung hin zum Krieg im Grunde unvermeidbar war, dass es zwangsläufig so kommen musste, dass es für Russland am Ende nur noch diese eine Möglichkeit gab. Kurzum, das Ganze war alternativlos. Genau genommen haben Putin beziehungsweise die russische Führung also gar keine „Entscheidung“ getroffen (denn die setzt ja eine Wahlmöglichkeit voraus), sondern eine Maßnahme ergriffen. Womit sich auch die Frage erübrigt, ob Russland es „richtig oder falsch“ gemacht hat – denn es gab ja eh keine Alternative.

Die anderen (und zu denen zähle auch ich) sind der Meinung, dass es sehr wohl Alternativen gegeben hätte (zahllose Möglichkeiten unterhalb der Kriegsschwelle), von denen man aber aus unterschiedlichen Gründen (Machtverschiebung im Kreml, emotionale Ausnahmesituation) keinen Gebrauch machte. Jedenfalls: Es wurde tatsächlich eine Entscheidung getroffen. Ich hatte mir erlaubt, diese Entscheidung als „verhängnisvoll“ und „katastrophal“ zu bewerten, und ich glaube, in diesem harschen Urteil sehen Sie mein anti-russisches „Ressentiment“ verborgen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ich fürchte, dass Russland gerade großer Schaden zugefügt wird, und das hätte ich gerne vermieden gesehen.

Es kann selbstverständlich sein, dass ich mich mit meiner Einschätzung (wieder einmal) gründlich irre und die Entwicklung eine ganz andere Richtung nimmt. Irgendwann werden wir es wissen – nicht heute, nicht morgen, aber in ein paar Jahren.

WILLY SCHÜRER, 18. Mai 2023, 22:55 UHR

Lieber Herr Teusch, dann entschuldige ich mich natürlich gerne für meine falsche Unterstellung. Tut mir leid (dass ich das dachte) und freue mich sehr (dass ich mich getäuscht habe).

Mit der Einordnung meiner Person in die von Ihnen skizzierten Argumentationslinien liegen Sie richtig. Dieses TINA-Prinzip (There Is No Alternative) hat allerdings nichts gemeinsam mit dem uns Deutschen sattsam bekannten Merkel-TINA-Prinzip. Das Merkel-TINA-Prinzip basierte auf ideologischer Borniertheit und rücksichtsloser Durchsetzung von Machtinteressen. Diese TINA-Situation ist das Resultat dessen, dass alle Möglichkeiten unterhalb dieser Schwelle von Russland jahrelang geduldig versucht wurden. Ohne die geringste Regung beim Gegenpart hervorrufen zu können, dessen Zielsetzung bezüglich Russlands die gleiche ist wie in Afghanistan, Irak, Jugoslawien, Libyen, Syrien … Da wird keine Ruhe gegeben, bis nicht alles kurz und klein geschlagen ist. Mit dem einen Unterschied, dass der Atombomben-Standard gegen Russland nicht zur Wirkung kommen kann ohne das sehr reale Risiko der Selbstvernichtung.

„Ich fürchte, dass Russland gerade großer Schaden zugefügt wird, und das hätte ich gerne vermieden gesehen.“

Ich kann Krieg grundsätzlich auch nichts Positives abgewinnen. Aber mir fällt – um bei meinem Beispiel zu bleiben – nichts ein, was sonst den Pausenhof-Schläger wirksam bremsen könnte. Der eingeschlagene Weg scheint meiner Meinung nach diesbezüglich Wirkung zu entfalten. Jetzt ist die Frage in der Praxis beantwortet, wer die bessere Waffentechnik hat. Das lässt den Pausenhof-Schläger ziemlich alt aussehen. Den großen Schaden für Russland – im Vergleich zum Weiter-So – kann ich nicht erkennen. Nicht nur der Pausenhof-Schläger, auch seine Speichellecker haben sich selbst gehörig geschadet. Wollen wir hoffen, dass sie nicht durchdrehen, sondern zur Besinnung kommen.

Unterm Strich sehe ich Russlands Position wirtschaftlich, militärisch und machtpolitisch enorm gestärkt im Vergleich dazu, dass man sich weiter vom Westen veräppeln und demütigen hätte lassen. Wirtschaftlich: dank der unglaublichen ökonomischen Inkompetenz des Westens und des ökonomisch klugen Handelns Russlands. Militärisch: überlegene Waffentechnik, disziplinierte Konzentration auf militärische Ziele bei größtmöglicher Schonung von Zivilisten – man vergleiche die rücksichtslose Vorgehensweise des Westens in seinen völkerrechtswidrigen Kriegen. Machtpolitisch: außerhalb der westlichen Medienblase wird Russlands Reputation enorm gestärkt dadurch, dass es aufzeigt, dass der Kaiser nackt dasteht. Da Sie der anderen Argumentationslinie angehören würde mich brennend interessieren, welche „zahllose Möglichkeiten unterhalb der Kriegsschwelle“ Ihnen da als Alternativen einfallen, die etwas anderes bewirkt hätten, als eine weitere Einschnürung Russlands?

BERNHARD MÜNSTERMANN, 14. Mai 2023, 17:05 UHR

Vielen wird der aus dem Griechischen überlieferte Begriff eines Dilemma bekannt sein. Dilemmata sind Situationen, in denen der handelnden Person nur noch zwei Entscheidungsmöglichkeiten verbleiben, deren Folgen in beiden Fällen ungünstig für sie sein müssen. Die US-Strategie legt nahe, dass dies als Taktik im vorliegenden Fall entsprechend berücksichtigt wurde: hätte Putin sich gegen militärisches Eingreifen in der Ukraine entschieden, hätte er sich zunehmenden Attacken von nationalistischen russischen Kräften ausgesetzt, die zu seinem Machtverlust im Amt des Präsidenten geführt haben dürften. Diese Strömung gibt es natürlich auch in Russland.

Das militärische Eingreifen andererseits würde dem Westen erlauben, ihn als Bösewicht und Aggressor zu porträtieren. Dass der ukrainische Beschuss des Donbass just kurz vor der russischen Militäroperation signifikant verstärkt worden ist, das ist wohl gut belegt. Und es ist ein starkes Indiz dafür, dass man den Entscheidungsdruck für die russische Führung gezielt erhöht hat.

Das zentrale Lemma der UN-Charta hingegen steht nicht zufällig an erster Stelle: Verzicht auf militärische Gewalt und deren Androhung. Ich neige also den Umständen nach dazu, deshalb die Schuldzuweisung an nur eine Seite für unangemessen zu halten, und dennoch den russischen Verstoß gegen Artikel 1 nicht in Abrede zu stellen. Denn dieses Prinzip aufzuweichen hieße, Konflikte mit einer möglichen Eskalation bis zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen in Kauf zu nehmen. Dadurch kann eine Lage entstehen, in der die Diskussion zwischen Selbstbestimmungsrecht und Sezession einer Region versus Gewaltverbot ohnehin obsolet wäre.

SIGRID PETERSEN, 16. Mai 2023, 15:40 UHR

Lieber Herr Teusch,
Sie bedauern, dass einige wichtige Thesen und Beobachtungen ihrerseits nicht im Kommentarbereich aufgenommen wurden. Aber sind nicht Thesen wie die russische Invasion für eine „verhängnisvolle, katastrophale Fehlentscheidung“ zu halten beispielsweise, mit den zahlreichen Äußerungen der Kommentatoriner, dass sie die Invasion für absolut provoziert halten und Russland anscheinend gar keine andere Wahl mehr hatte, für die Kommentatoriner obsolet oder sogar beantwortet? Und es ist wohl richtig, dass Putin von Seiten der Hardliner schon länger für seine Nachsicht heftig kritisiert worden ist, aber ist nicht eigentlich auch diese Frage mit den Kommentarmeinungen beantwortet, wenn diese sagen (frei interpretiert), dass (auch schon in Ihrem ersten Artikel) das Fass auch bei Putin dann irgendwann voll war? Und somit nicht die Hardliner das Sagen bekamen, sondern Putin gesehen hat, dass sein bisheriger Weg nicht mehr weiterführt?

Und damit wäre auch die nächste These, dass „der Krieg die autoritären, repressiven Züge des russischen politischen Systems stärken werde“ beantwortet. Auch die letztgenannte These wurde kommentatorisch in Ihrem ersten Artikel behandelt. Dass die „Spezielle Militäroperation“ gescheitert ist, lag nicht an Russland, sondern wie Sie selbst in diesem Artikel aufführten, an der Boris-Intervention. „Es ist durchaus vorstellbar, dass der Krieg längst zu Ende wäre, wenn die Vermittlungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett sowie das Engagement der Türkei nicht von westlichen Kräften – allen voran Boris Johnson – torpediert worden wären.“ Erst nach dem Abbruch der Verhandlungen hat sich die Sonderoperation in einen Krieg „verwandelt“. Seit dem spricht man wohl auch in Russland von einem Krieg.

Und wie ich die Kommentare sehe, gehen sie doch mehrheitlich davon aus, dass für ein Ende ohne Schrecken der Westen zur Vernunft kommen müsste. Und, ehrlich gesagt, glaube ich bisher nicht, dass hier Vernunft einkehren wird. Ich stelle mir eher vor (ich hoffe), dass irgendwelche einflussreichen Berater in den USA rechtzeitig kalte Füße bekommen und in eine andere Richtung schwenken (Die RAND-Corporation hat ja schon „den ersten Schritt“ getan: „Da die Vermeidung eines langen Krieges nach der Minimierung von Eskalationsrisiken oberste Priorität hat, sollten die Vereinigten Staaten Schritte unternehmen, die ein mittelfristiges Ende des Konflikts wahrscheinlicher machen.“ https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html ). Mit Einkehr der Vernunft hätte das aber nichts mehr zu tun.

AYU, 17. Mai 2023, 02:25 UHR

SIGRID PETERSEN:

„Dass die ,Spezielle Militäroperation‘ gescheitert ist, lag nicht an Russland, sondern wie Sie selbst in diesem Artikel aufführten, an der Boris-Intervention. ,Es ist durchaus vorstellbar, dass der Krieg längst zu Ende wäre, wenn die Vermittlungen des israelischen Ex-Premiers Naftali Bennett sowie das Engagement der Türkei nicht von westlichen Kräften – allen voran Boris Johnson – torpediert worden wären.‘ Erst nach dem Abbruch der Verhandlungen hat sich die Sonderoperation in einen Krieg ,verwandelt‘. Seit dem spricht man wohl auch in Russland von einem Krieg.“

Dazu aus dem Beitrag der Redaktion anlässlich der Kriegsoperation durch Russland:
https://multipolar-magazin.de/artikel/schwarze-tage-europas

„Einem Land in einer solchen Situation bleibt praktisch nur ein Ausweg: Stärke zu beweisen und die eigene Macht und die eigenen Fähigkeiten in so unmissverständlicher Schärfe zu demonstrieren, dass man anschließend als Verhandlungspartner ernst genommen wird und dann Vereinbarungen treffen kann, die sich ohne die Überheblichkeit des Gegenübers natürlich früher und einfacher hätten aushandeln lassen. “

Diese zitierten Aussagen könnten nah dran sein an der heutigen geopolitischen Realität (Eurasien zu groß & mehrere Atommächte), der Krux mit Staatengrenzen über die Zeit generell und dem Anteil speziell Russlands, bzw. seiner darin abermals unfreiwillig zugewiesenen Rolle: Mit diesem aktuellen Konflikt, von Kreisen im Westen lange gezielt provoziert, ist absehbar die gewaltsame Reaktion, ein militärisches Einschreiten einer Großmacht favorisiert und bewusst gewollt! Ja, das hat zu Überraschungserscheinungen Vieler geführt, auch bei mir, als das dann geklappt hatte. Nun läuft es aber über weite Teile anders in diesem globalen Konflikt mit tatsächlichem 3.Weltkriegszeitstempel – was alles absehbar war, zumindest in der unbefangenen Rückschau. Nehmen wir mal zur Kenntnis, das alles sei einigen Regierungen, die noch was zu sagen und zu entscheiden haben ohne sich dafür vorher ein US-Siegel geben zu lassen, langsam ebenso nicht mehr geheuer. Dabei gilt wohl besonders, was Staatengebilde substantiell eint: „Kontrolle behalten“. Das könnte von den Regierungen aber je gänzlich unterschiedlich ausgelegt und verfolgt werden. Eine Darlegung, die ich - unter Anerkennung mangelnder definitiver und vollaktueller Informationstiefe - weitestgehend vorläufig mit für die „schlüssigste“ halte.

Begründung:

„Russland=Putin“ hat die gleichfalls historische Entscheidung – die menschlich nur zutiefst abzulehnen ist – , in diesem Fall militärische (Groß-)Optionen in die Außenpolitik einzubeziehen, ganz klar erkennbar und auch für einen Pazifisten irgendwo politisch nachvollziehbar, nicht „einfach so“ und „leichtfertig“ getroffen und ist für das heutige internationalisierte Russland sicher auch weitaus mehr eine „unwillkommene Belastung“ denn eine Neuauflage imperialer Zarengräul unter „Putin dem Psychopaten“. Jedenfalls erfahren wir erstaunlich wenig über den Wirkungsgrad „unserer“ „Unterstützung“ und den Stand der „Wiederherstellung unserer Werte“ in der Ukraine, aber noch ist jedes Kriegsverbrechen eines Russen (auch Verdachtsfälle & unbestätigte Mutmassungen) einzeln in den „Morningshows“ ausgebreitet worden. Das einzige, was stimmt von dem, was offiziell vermutet wird: dem Russen und der „freien Welt“ ist es diesmal wirklich ernst...

Es könnte sein, dass man jenseits der NATO daher das gleiche, aber etwas anders noch mit eingesehen hat:

Die Prozesse der russischen Entscheidungswege vor dem 24.Feb.'22, hin zum sich Tag um Jahr als „alternativlos“-anbietenden „Gegenschlag“, dürften ziemlich sicher nicht nur unter offenbar breit vorhandener, sondern auch belastbarer Rückversicherung bei mehreren anderen Ländern der Welt, und ferner mit gewisser selbstkritischer Weitsicht um das ABC+-Eskalationspotential einer solchen Konfrontation stattgefunden haben. Im Kreml wollte man um jene Stunde herum möglicherweise eigenerseits eine vorläufige Situationsänderung im an sich befreundeten aber „umzukippen“ drohenden Nachbarland aktiv herbeiführen. Hierzu braucht es dann also mindestens Militär vor der Hauptstadt (i.d.F. Kiew) und große Sprüche vor der eigenen Landesflagge, offiziell, versteht sich. Das aufgeführte Schauspiel, das dann sehr wohl binnen Tagen in einen schrecklichen Krieg ausarten kann, in dem Aspekte der Völkerrechtswidrigkeit gewisser Taten wohl oder übel (mit-)untergehen würden.

Ich vernahm damals die Behauptung, Russland hält selbst im Krieg diplomatische Kanäle – wie selbstverständlich – als Teil der „erweiterten Politik“ offen. Diese Mittel wurden doch offensichtlich rege genutzt, siehe die „Fortschritte“ unter türkischer Vermittlung, vielleicht weitaus mehr als die militärischen. Warum unterstellen wir nicht angesichts der geschaffenen Fakten (geronnen v.a. in der Minsk II-Vereinbarung), dass ein „schlimmer, langer, vernichtender“ Krieg von Russland, in dem Fall vielleicht tatsächlich von Putin persönlich, auch nach der Entscheidung nicht gewollt war; der Wertewesten jedoch hat es schließlich geschafft, dass Russland seine Verteidigung(*) gar planen und durchführen „musste“: Die Krim, die Anerkennung der Ostregionen als eigenständig usw. - alles den Umständen entsprechend sehr, sehr heikle Angelegenheiten und überhaupt nicht schön, keine Frage, aber wer möchte hier den ersten unblutigen Stein von West nach Ost werfen, wenn es um Landraub und Unterdrückung der andernorts ansässigen Bevölkerung geht? Gutmöglich, dass diese Variante der Deutung so bald auch nicht mehr zu halten ist. Warten wir mal hoffnungsvoll ab und freuen uns solange die Werte schön, wie sich Frau Baerbock und Herr Scholz dazu demnächst weiter offenbaren.

Anzunehmen ist, dass v.a. Russland und China die Botschaften und Konsequenzen westlicher Agitationsflüsse längst erkannt und vorgesorgt haben und zusammen mit der Weltbevölkerungsmehrheit entweder eine neue/andere, oder funktionierende UN-basierte Internationale Ordnung herzustellen gewillt sind. Ich halte die wesentlichen Beteiligten auf nicht-westlicher Seite für weitaus gefasster in persönlicher emotionaler Expression sowie Impression bezüglich dieser zu ernsthaften, zu bedeutsamen Herausforderungen.

(*) wie auch immer regelkonform oder nicht, siehe die Ausführungen Ulrich Teuschs im Absatz Realismus:

„Aus realistischer Sicht ist das internationale System souveräner Staaten ,anarchisch‘. Oberhalb der Staaten existiert keine Instanz, die diesen gegenüber weisungsbefugt wäre (zum Beispiel eine Weltregierung). Anders als im innerstaatlichen Bereich fehlt auf dem internationalen Feld ein Gewaltmonopol. Das heißt: Im Rahmen des internationalen Systems sind die Staaten in letzter Instanz auf sich selbst angewiesen. Sie verfolgen ihre nationalen Interessen. Sie tun dies oft auf Kosten anderer Staaten.“

BERNHARD MÜNSTERMANN, 17. Mai 2023, 16:20 UHR

Man sucht offenbar schon einen Sündenbock für einen gesichtswahrenden Schwenk. Ganz im Sinne der „kalten Füße“, die Sigrid Petersen zuletzt in ihrem Kommentar erwähnte, scheinen mir auch diese beiden Artikel. Wobei die Washington Post den „Demokraten“ nahesteht und Seymour Hersh durch seine guten Kontakte in Kreise der verschiedenen US Dienste sich einen Namen gemacht hat:
https://www.washingtonpost.com/world/2023/05/13/zelensky-ukraine-war-leaked-documents/
https://seymourhersh.substack.com/p/the-ukraine-refugee-question

ULRICH TEUSCH, 17. Mai 2023, 18:35 UHR

Liebe Frau Petersen,

eine nicht unwichtige Korrektur: Ich habe nirgends geschrieben, die „Spezielle Militäroperation“ sei an der „Boris-Intervention“ gescheitert. Zur den Gründen des Scheiterns äußere ich mich überhaupt nicht. Ich habe vielmehr festgehalten, dass Boris Johnson wesentlich daran beteiligt war, die Vermittlungsbemühungen in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn zu torpedieren. Naftali Bennett hat die Verantwortlichkeiten im Einzelnen aufgedröselt – und in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung von Butscha hingewiesen. Erst als das Scheitern der „Militäroperation“ deutlich wurde, trat der Westen massiv auf den Plan. Wörtlich schreibe ich dazu: „Als klar wurde, dass Russland keinen schnellen Sieg erringen würde, nutzte der Westen die Gunst der Stunde, warf sich ins Zeug und tat alles, um den Krieg zu verlängern, auszuweiten, zu intensivieren.“

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