Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock bei der Kabinettssitzung am 28. September | Bild picture alliance / EPA | Clemens Bilan

Deutschland dreht den Hahn zu

Laut Bundesnetzagentur droht Deutschland ab November ein Engpass bei der Gasversorgung, wenn der Verbrauch nicht um mindestens 20 Prozent gesenkt wird. Recherchen von Multipolar zeigen jedoch, dass die Bundesregierung – um diese Notlage zu vermeiden – die Weiterleitung von Gas in andere Länder schon seit mehreren Monaten weitaus stärker gedrosselt hat, als bislang bekannt. Offensichtlich nutzt Deutschland seine Position als Transitland und befüllt seine Speicher auf Kosten der Nachbarländer. Die Bundesnetzagentur reagiert auf entsprechende Nachfragen ausweichend. Wie angemessen ist die von Wirtschaftsminister Habeck ausgerufene Alarmstufe? (Mit Update vom 10.10.)

KARSTEN MONTAG, 8. Oktober 2022, 4 Kommentare, PDF

In einem am 3. August 2022 veröffentlichten Dokument hat die dem Wirtschaftsministerium unterstellte Bundesnetzagentur drei mögliche Szenarien für die Gasversorgung Deutschlands im Zeitraum Juli 2022 bis Juni 2023 dargestellt. Im ersten Szenario geht die Behörde davon aus, dass über Nord Stream 1 kein Gas mehr geliefert wird. Im zweiten und dritten Szenario wird angenommen, dass noch 20 beziehungsweise 40 Prozent der bis April 2022 üblichen Mengen geliefert werden. Mit dem Ausfall von Nord Stream 1 tritt nun das erste Szenario ein.

Darin wird angenommen, dass ab Januar 2023 die beiden ersten Flüssiggasterminals in Deutschland bereitstehen und auch sofort mit einer Auslastung von 90 Prozent Gas in das deutsche Netz einspeisen können. Die Bundesnetzagentur bezeichnet diese Kapazität in einem Hintergrunddokument zu den Szenarien selbst als „sehr ambitioniert“. Weiterhin wird angenommen, der Gasverbrauch sei generell um fünf Prozent niedriger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Szenario 1 ist in weitere Unterszenarien unterteilt, in denen Verbrauchs- und Weiterleitungsreduzierungen sowie zusätzliche, nicht aus Russland stammende Importe angenommen werden. Die Ergebnisse der Unterszenarien sind in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1: (für größere Darstellung Bild anklicken) Ergebnisse Szenarien 1, Quelle: Bundesnetzagentur

Ein Gasmangel sei demnach nur abwendbar, wenn der Verbrauch in Deutschland um weitere 20 Prozent gesenkt und die Weiterleitung von Erdgas in Nachbarländer um 35 Prozent reduziert würde. Bei einer Steigerung des Imports aus anderen Ländern außer Russland sei ein Gasmangel auch dann abwendbar, wenn der Verbrauch um 20 Prozent und die Weiterleitung um lediglich 20 Prozent gesenkt würde. Sollten das nicht geschehen, sei eine Gasmangellage bereits ab November zu befürchten, so die Behörde.

Was bedeutet „Gasmangellage“?

Laut des „Notfallplans Gas für die Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 2019 ist eine großflächige Gasmangellage – im Gegensatz zu einem Stromausfall – kein abrupt eintretendes, sondern ein sich langsam aufbauendes Ereignis. Erdgasleitungen und Speicher wirken bei Lieferausfällen im Netz zunächst als Puffer. Eine Mangellage bedeutet ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage über einen längeren Zeitraum, das zu einer Unterversorgung der Verbraucher führt. Die im Notfallplan Gas beschriebenen Krisenstufen „Frühwarnung“, „Alarm“ und „Notfall“ regeln die Befugnisse des Staates, um insbesondere die Gasversorgung der geschützten Kunden wie Haushaltskunden und Kunden, die grundlegende soziale Dienste erbringen, zu gewährleisten.

Am 23. Juni hat Wirtschaftsminister Robert Habeck aufgrund der Reduzierung der russischen Gaslieferung über Nord Stream 1 auf 40 Prozent die Alarmstufe ausgerufen, die bis heute gilt. Diese Krisenstufe stellt eine erhebliche Verschlechterung der Gasversorgungslage aufgrund einer Störung der Gasversorgung oder einer außergewöhnlich hohen Nachfrage fest. Im Gegensatz zur Notfallstufe sei der Markt aber noch in der Lage, diese Störung zu bewältigen, ohne dass der Staat eingreifen müsse. Habeck hat aufgrund der Alarmstufe an die deutsche Bevölkerung appelliert, Energie einzusparen, und als wichtigstes Ziel die Befüllung der deutschen Gasspeicher benannt.

Im Folgenden soll anhand aktueller Daten des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas überprüft werden, inwieweit die Gas-Szenarien der Bundesnetzagentur nach dem Ende sämtlicher russischer Gaslieferungen über Nord Stream 1 eingetreten sind und wie es bisher gelungen ist, eine Gasmangellage zu vermeiden.

Moderate Steigerung des Gasimports aus anderen Ländern außer Russland

Tatsächlich konnte Deutschland zwischen Juli und September den Import von Erdgas aus anderen Ländern außer Russland im Schnitt um knapp 17 Gigawattstunden pro Stunde im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021 steigern. Doch wie Abbildung 2 zeigt, konnte die Einfuhr nicht signifikant über das Maximum der Vorjahre erhöht werden. Geht man davon aus, dass es bis Ende Juni 2023 weiterhin möglich ist, den Import auf das Maximum der Vorjahre zu steigern, dann könnte Importszenario 1.3.1 der Bundesnetzagentur mit einer Steigerung der Gasimporte aus anderen Länder außer Russland um 15 Gigawattstunden pro Stunde in die Realität umgesetzt werden.

Abbildung 2: (für größere Darstellung Bild anklicken) Vergleich der Gasimporte Deutschlands aus Ländern außer Russland mit den Vorjahren in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: entsog transparency

Starke Senkung der Gasexporte – weit über 35 Prozent

Die Modellrechnung der Bundesnetzagentur geht in allen drei Szenarien – auch im ersten, in dem die Importe über Nord Stream 1 bei Null liegen – davon aus, dass hinsichtlich der Exporte eine Einschränkung von Nord Stream 1 auf 40 Prozent der üblichen Leistung vorliegt. So schreibt die Behörde auf Seite 3 des zugehörigen Dokuments:

„Exporte sind nach Einschränkungen der NS1 [Nord Stream 1] auf 40 % der Leistung temporär um ca. 35 % gesunken. Diese beobachtete Reduktion wird in einzelnen Szenarien zukünftig als permanent unterstellt.“

Diese Annahme ist für das erste und zweite Szenario unlogisch und sachlich nicht nachvollziehbar. Wieso geht die Behörde beim Import von einer Lieferleistung über Nord Stream 1 von null Prozent aus, beim Export gleichzeitig jedoch von einer Lieferleistung von 40 Prozent? Eine entsprechende Presseanfrage hat die Bundesnetzagentur leider nicht beantwortet (siehe Anhang). Tatsächlich sind die deutschen Gasexporte nach der völligen Einstellung der Gaslieferung über Nord Stream 1 bereits ab Ende August 2022 im Schnitt um 71 Prozent im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre zurückgegangen, mit Tagesspitzen von über 80 Prozent.

Abbildung 3: (für größere Darstellung Bild anklicken) Vergleich der Gasexporte Deutschlands mit den Vorjahren in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: entsog transparency

Offensichtlich nutzt Deutschland aktuell seine Position als Transitland und kompensiert die mangelnden Importe durch eine adäquate Senkung der Exporte, um eine Gasmangellage zu vermeiden und die eigenen Gasspeicher zu füllen. Dies kann insbesondere für Länder fatale Folgen haben, die aufgrund ihrer eigenen Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen nun hauptsächlich auf Importe aus Deutschland angewiesen sind. Abbildung 4 zeigt, dass die Reduzierung der deutschen Erdgasexporte in Summe einen niedrigeren Wert ergeben als die Senkung der Importe. Als Folge daraus ist es in Deutschland, trotz der Reduzierung der Gaslieferungen über Nord Stream 1 auf Null, zu einem, für die Jahreszeit untypischen, Überschuss an Gas im eigenen Land gekommen.

Abbildung 4: Veränderung des deutschen Imports und Exports von Erdgas Anfang Juli bis Ende September 2022 im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: entsog transparency

Tschechien, das bisher zu 100 Prozent abhängig von russischem Gas war, ist besonders von den reduzierten deutschen Exporten betroffen. Laut Artikel 13 der EU-Verordnung 2017/1938, welche die Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung in der Europäischen Union regelt, sind die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, gegenseitige solidarische Hilfe zu leisten, wenn alle nationalen Notfallmaßnahmen zur Versorgung der geschützten Kunden gescheitert sind. Zudem haben Deutschland und Tschechien im Juli 2022 eine Absichtserklärung für ein gemeinsames Erdgas-Solidaritätsabkommen unterzeichnet.

Doch bisher verhält sich Deutschland, oder, genauer gesagt, der deutsche Markt, gegenüber seinem östlichen Nachbarn eher unsolidarisch. So sind die Netto-Gasexporte (Differenz aus Exporten und Importen) von Deutschland nach Tschechien im Zeitraum Anfang Juli bis Ende September 2022 im Vergleich zum Durchschnittswert der Vorjahre um 44 Prozent gesunken.

Abbildung 5: (für größere Darstellung Bild anklicken) Vergleich der Netto-Gasexporte von Deutschland nach Tschechien mit den Vorjahren in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: entsog transparency

Deutsche Gasspeicher sind voller als gesetzlich verlangt

Das deutsche Gasspeichergesetz sieht einen Füllstand am 1. Oktober von 80 Prozent vor. Das Wirtschaftsministerium hat aufgrund der angespannten Lage auf dem Gasmarkt Ende Juli 2022 eine Verordnung erlassen, den geplanten Füllstand am 1. Oktober auf 85 Prozent zu erhöhen. Tatsächlich lag dieser Wert Anfang Oktober 2022 sogar bei 92 Prozent – während in Tschechien trotz reduzierter Lieferungen aus Deutschland immerhin eine Befüllung von 86 Prozent erreicht werden konnte.

Abbildung 6: (für größere Darstellung Bild anklicken) Stand der Gasspeicherfüllstände am 1. Oktober 2022, Quelle: Gas Infrastructure Europe

Abbildung 6 zeigt zudem, dass mit der Energie in den Gasspeichern in fast allen europäischen Ländern nur ein Teil des jährlichen Verbrauchs abgedeckt ist. Deutschland kann mit dem Füllstand vom 1. Oktober 2022 knapp 25 Prozent seines jährlichen Verbrauchs decken, ist also – wie die anderen europäischen Länder, mit Ausnahme Lettlands – insbesondere im Winter auf weitere Importe angewiesen.

Sollten die deutschen Exporte weiterhin auf dem rigoros niedrigen Niveau bleiben wie im September 2022 und sollten sich die Importe aus anderen Ländern außer Russland um 15 Gigawattstunden pro Stunde steigern lassen, dann droht, wie in Abbildung 7 zu erkennen ist, überhaupt keine Gasmangellage – zumindest nicht in Deutschland. Bei derart niedrigen Gasausfuhren wären noch nicht einmal Einsparmaßnahmen im eigenen Land notwendig.

Abbildung 7: (für größere Darstellung Bild anklicken) Vergleich der Importe abzüglich der Exporte Deutschlands mit den Vorjahren in Gigawattstunden pro Tag, Datenquelle: entsog transparency

Warum gibt die Regierung keine Entwarnung?

Angesichts der wider Erwarten positiven Lage der deutschen Erdgasversorgung stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung noch immer an der Alarmstufe und den Energiesparverordnungen, die am 1. September und 1. Oktober in Kraft getreten sind, festhält. Hierzu lassen sich derzeit nur Thesen aufstellen.

  • These 1: Die Regierung will vor dem Hintergrund einer zu befürchtenden Notlage bei der Gasversorgung die Energiewende in Deutschland vorantreiben, letztendlich auf Kosten des Wohlstands der Bevölkerung und der Umsätze von Unternehmen.

Mit dem Szenario einer Notlage lassen sich kurzfristig – mithilfe von Verordnungen am Bundestag und Bundesrat vorbei – politische Maßnahmen umsetzen, die in einem entspannten Umfeld zunächst offen und sachlich diskutiert und eventuell zu Widerständen führen würden. Das aktuelle Vorgehen der Bundesregierung erinnert stark an die Corona-Krise, in der sich die Bürger abrupt mit Schul- und Geschäftsschließungen sowie einer Impfpflicht konfrontiert sahen.

  • These 2: Die Regierung will von den Nachteilen der Energiemarktliberalisierung ablenken und ein staatliches Eingreifen in den Energiemarkt vermeiden.

Die Liberalisierung des Energiemarktes ist ein seit Jahrzehnten vorangetriebenes neoliberales Projekt, das angeblich durch die Steigerung des Wettbewerbs zu niedrigeren Kosten und einem Abbau von Überkapazitäten führen soll. Eine Folge dieser Entwicklung ist jedoch, dass die Beteiligung der Kommunen und Länder in Deutschland an systemrelevanten Energieunternehmen und zugehörigen Strukturen immer weiter abgebaut und an private, teils ausländische Konzerne veräußert wurde. Beispielsweise befand sich der größte Betreiber von unterirdischen Gasspeichern in Deutschland, die Uniper Energy Storage GmbH zusammen mit dem Mutterkonzern Uniper SE bis zur Verstaatlichung im September mehrheitlich im Besitz des finnischen Energiekonzerns Fortum.

Es existiert keine Garantie, dass das in Deutschland eingelagerte Gas, ob von deutschen oder ausländischen Unternehmen, auch für deutsche Energiekunden reserviert ist. Erst unlängst mussten Bundeswirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur einräumen, dass das Gas in deutschen Speichern von allen nationalen und internationalen Unternehmen, die im deutschen Gasmarkt registriert sind, gekauft werden kann. Entscheidend sei, wer den Höchstpreis biete.

Mit dem Szenario eines bevorstehenden Notstands lassen sich unangenehme Fragen zu den angeblichen Vorteilen der politisch gewollten Energiemarktliberalisierung vermeiden. So beispielsweise, warum trotz einer aktuell ausreichenden Versorgungslage Energieproduzenten und Händler Rekordgewinne einfahren, während die Endverbraucher eine Vervielfachung ihrer Energiekosten zu bewältigen haben. Durch eine Diskussion dieser Fragen könnte deutlich werden, dass nicht allein die ausbleibenden Lieferungen aus Russland, sondern vor allem der liberalisierte Energiemarkt und die nach Gewinnmaximierung strebenden privaten Energiekonzerne verantwortlich für die derzeit außerordentlich hohen Energiepreise sind.

  • These 3: Die oben erwähnte Solidaritätsklausel könnte im Laufe des Winters dazu führen, dass Deutschland doch noch größere Gasmengen an Tschechien und nachgelagerte Länder weiterleiten muss, um eine dortige Unterversorgung der geschützten Kunden zu vermeiden.

Niemand kann derzeit voraussagen, ob die ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland nicht doch noch in Ländern, die sich zuvor fast ausschließlich über die russisch befüllten Gaspipelines Nord Stream, Jamal-Europa oder Transgas versorgt haben, in den nächsten beiden Wintern zu Engpässen führen. Nach den bisherigen Erkenntnissen könnte der eventuelle Gasmangel unter den EU-Mitgliedstaaten insbesondere Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien treffen. Um den EU-Zusammenhalt nicht zu gefährden, müsste insbesondere Deutschland den Export von Gas dann wieder deutlich erhöhen.

Ausweichende Antworten der Bundesnetzagentur

Multipolar wollte von der Bundesnetzagentur, wie erwähnt einer Behörde im Geschäftsbereich des Wirtschaftsministeriums, wissen:

  • warum in der Modellberechnung der Gas-Szenarien unterschiedliche Liefermengen über Nord Stream 1 angenommen wurden,

  • warum es seit Juli zu den hohen Abweichungen der tatsächlichen Exporte im Vergleich zur Modellberechnung gekommen ist und

  • ob die tatsächliche Reduzierung der Gasexporte insbesondere nach Tschechien über den Winter fortgesetzt wird.

Die Pressestelle der Bundesnetzagentur reagierte darauf ausweichend (siehe Anhang), so dass weitere Nachfragen nötig waren, die bislang unbeantwortet sind. (Update 10.10.: Die Bundesnetzagentur hat inzwischen geantwortet, ihre Stellungnahme ist im Anhang ergänzt.)

Fazit

Aktuell herrscht in Deutschland kein Gasmangel. Die Gasspeicher sind mit 92 Prozent Füllstand am 1. Oktober deutlich über der gesetzlich geforderten Marke von 85 Prozent. Die eingelagerten Gasmengen stehen allerdings nicht exklusiv den deutschen Verbrauchern zur Verfügung, sondern werden, solange der Wirtschaftsminister nicht die Notstandsstufe ausruft, an die meistbietenden Gasversorger verkauft.

Die Erfüllung der Soll-Marke war nur durch eine radikale Senkung der deutschen Gasexporte möglich. Die Bundesnetzagentur gibt auf Nachfrage keine Auskunft darüber, ob diese Senkung geplant war und ob sie über den Winter andauern wird. Von dieser Information hängt jedoch ab, ob die Bürger in Deutschland in den nächsten Monaten tatsächlich Gas einsparen müssen oder nicht.

Anhang

Anfrage von Multipolar an die Bundesnetzagentur vom 3. Oktober:

In Ihrem Dokument „Gas-Szenarien von Juli 22 bis Juni 23“ vom 3. August 2022 gehen Sie von widersprüchlichen Modellannahmen für Importe und Exporte aus. Auf Seite 3 schreiben die Urheber des Dokuments: „Je nach Szenario werden die russischen Importe auf 0 %, 20 % bzw. 40 % reduziert. [...] Exporte sind nach Einschränkungen der NS1 auf 40 % der Leistung temporär um ca. 35 % gesunken. Diese beobachtete Reduktion wird in einzelnen Szenarien zukünftig als permanent unterstellt.“ Dass in diesem Zusammenhang mit „russischen Importen“ die Gaslieferungen über Nord Stream 1 gemeint sind, kann man den einzelnen Szenarien entnehmen. Wie begründen Sie die die unterschiedlichen und unlogischen Modellannahmen bezüglich Import und Export?

Wenn man die aktuellen tatsächlichen Gasexporte Deutschlands mit dem Durchschnitt der Vorjahre anhand der Lastflüsse an Ein- und Ausspeisepunkten, die vom Verband Europäischen Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (entsog) bereitgestellt werden, vergleicht, dann stellt sich heraus, dass die Exporte im September 2022 um über 70 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen sind. Zur Erläuterung finden Sie im Anhang dieser E-Mail ein entsprechendes Diagramm auf Basis der Daten von entsog transparency. Wie kommentieren Sie diese extreme Abweichung von Ihren Modellberechnungen im Dokument „Gas-Szenarien von Juli 22 bis Juni 23“, in denen von Reduzierungen der Exporte um 5, 20 und 35 Prozent ausgegangen wird?

Schlussendlich könnte man davon ausgehen, dass die Exporte in Deutschland auf dem niedrigen Niveau von September 2022 verharren. Dann droht Deutschland im kommenden Winter überhaupt keine Mangellage, wie man an dem beigefügten Diagramm erkennen kann. Ein solches Vorgehen wäre für die Gasversorgungslage von Nachbarländern wie Tschechien, das aktuell fast ausschließlich auf Gasimporte aus Deutschland angewiesen ist, im kommenden Winter jedoch fatal. Wird Deutschland auch in den kommenden Monaten den Export von Gas in Nachbarländer rigoros reduzieren, um eine Gasmangellage im eigenen Land zu vermeiden?

Antwort der Bundesnetzagentur vom 5. Oktober:

Bei der Bestimmung von Exporten müssen Sie, insbesondere wenn es um Gasmengen der Nord Stream 1 geht, den Grund berücksichtigen, warum Gasmengen exportiert werden. Gasmengen der Nord Stream 1 fließen über die Leitungen Opal und Eugal Richtung Tschechien. Der größte Teil dieses Lastflusses dient dabei nicht der Versorgung Tschechiens, sondern wird in Waidhaus wieder nach Deutschland importiert. Tschechien dient hier daher als Transitland für einen „Reimport“ von Erdgas nach Deutschland. Durch derartige Ringflüsse entsteht bei einer reinen Addition der Exporte die Fehlinterpretation einer zu hohen Exportänderung, da man die gleichen Mengen irrtümlich mehrmals aufsummiert. Da wir diesen Umstand in unseren Modellrechnungen berücksichtigt haben, gibt es keinen Widerspruch zu anderen Datenquellen.

Nachfrage an die Bundesnetzagentur vom 6. Oktober:

Danke für Ihre Antwort. Leider ist diese in mehrfacher Hinsicht ausweichend und nicht informativ. Erstens haben sie nicht meine Frage beantwortet, warum Sie in Ihren Erdgas-Szenarien beim Import von Lieferleistungen über Nord Stream 1 von 0, 20, und 40 Prozent ausgehen, beim Export jedoch generell von 40 Prozent.

Zweitens ist es vollkommen unerheblich, ob bei der Berechnung des Rückgangs des Exports exportierte Gasmengen wieder reimportiert werden. Tatsache ist, dass die deutschen Gasexporte im Juli um 35 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen sind und Sie in Ihren Gas-Szenarien davon ausgegangen sind, dass über Nord Stream 1 weiterhin 40 Prozent der üblichen Liefermengen in Deutschland ankommen. Nun sind diese Liefermengen jedoch Ende August auf 0 Prozent zurückgegangen, und der deutsche Export ist dementsprechend um über 70 Prozent gesunken. Dies zeigen Ihre eigenen Daten, die Sie auf Ihrer Webseite veröffentlichen. Dieser Rückgang steht im Widerspruch zu Ihrer Modellberechnung, und dazu hätte ich gerne einen aussagekräftigen Kommentar von Ihnen.

Drittens sind die Netto-Gasexporte (Differenz aus Exporten und Importen) von Deutschland nach Tschechien im Zeitraum Anfang Juli bis Ende September 2022 im Vergleich zum Durchschnittswert der Vorjahre um 44 Prozent gesunken. Darin sind auch die Ringflüsse berücksichtigt, die Sie angeführt haben. Tatsache ist, das nun erhebliche Gasmengen in Tschechien fehlen. Werden diese Gasmengen sich wieder erhöhen, wenn die deutschen Erdgasspeicher voll sind?

Es wäre deutlich einfacher, wenn Sie die Ihren Gas-Szenarien zugrundeliegenden Daten und Berechnungen transparent veröffentlichen würden. Dann könnte eine interessierte Öffentlichkeit, in deren Diensten Sie letztendlich stehen, Ihre Modellberechnungen nachvollziehen.

Antwort der Bundesnetzagentur vom 10. Oktober:

Die Modellannahmen zur Gasversorgung, die wir in den Szenarien abbilden, sind zugegebenermaßen sehr komplex, ich verweise daher auf unsere aktuellen FAQs. Wie sich zukünftige Lastflüsse von und nach Tschechien entwickeln werden, wird ausschließlich durch privatwirtschaftliche Marktakteure bestimmt. Es gibt keine regulatorischen Beschränkungen des Gasflusses und, da zwischen Deutschland und Tschechien besonders hohe Transportkapazitäten existieren, auch keine kapazitativen Engpässe. Daher ist es für tschechische Erdgasnachfrager jederzeit möglich, die Gasmengen zu erwerben, die sie benötigen.

Erwiderung von Multipolar vom 10. Oktober:

"Komplex" ist ein interessanter Euphemismus für die Annahme, dass die Belieferung über Nord Stream 1 gleichzeitig bei 0 und 40 Prozent der üblichen Menge liegt, je nachdem, ob man den Import oder den Export betrachtet. Irgendjemand im Referat 623 in Ihrem Haus hat sich beim Erstellen der Gas-Szenarien nicht die Mühe gemacht, die Folgen der Reduktion der Lieferungen über Nord Stream 1 auf 0 bzw. 20 Prozent auch für den Export zu berücksichtigen. Oder diese widersprüchlichen Annahmen wurden gezielt gemacht, um die europäischen Nachbarn nicht zu verunsichern. Dies ist zumindest der Eindruck, der aus einer Sicht von außen entsteht, und dies kann man im Übrigen auch Ihrem zugehörigen FAQ-Dokument entnehmen. Dort wird auf Seite 6 davon ausgegangen, dass die jährliche Exportmenge sowohl bei einer Reduktion der Liefermenge über Nord Stream 1 auf 40 Prozent als auch auf 0 Prozent immer 780 TWh beträgt.

Wie dem auch sei, die Realität hat Ihre Modellszenarien bereits nach wenigen Wochen überholt. Die Importe aus anderen Ländern außer Russland haben sich zwar steigern lassen, die Exportmenge ist jedoch um mehr als 70 Prozent zurückgegangen. Als Folge daraus droht theoretisch überhaupt keine Gasmangellage in Deutschland, selbst wenn die Bevölkerung kein Gas einspart. Voraussetzung ist jedoch, dass die in Deutschland gespeicherten Mengen und die importierten Mengen auch primär für deutsche Verbraucher bestimmt sind. Doch das ist nicht der Fall, wie Sie selber zugeben. Die Marktakteure verkaufen das Gas an diejenigen im In- und Ausland, die am meisten dafür bezahlen.

So gesehen sind Ihr gesamten Gas-Szenarien sinnfrei. Sie suggerieren den falschen Eindruck, die deutsche Bevölkerung müsse 20 Prozent der üblich verbrauchten Gasmenge einsparen, um einer Mangellage entgegenzuwirken. Tatsächlich können die Deutschen einer Mangellage nur entgehen, wenn sie bereit sind, mehr für das Gas zu bezahlen als beispielsweise die Tschechen, Slowaken, Ungarn oder Bulgaren. Wann klärt Ihre Behörde die Bevölkerung über diesen Umstand auf?

Über den Autor: Karsten Montag, Jahrgang 1968, hat Maschinenbau an der RWTH Aachen, Philosophie, Geschichte und Physik an der Universität in Köln sowie Bildungswissenschaften in Hagen studiert. Er war viele Jahre Mitarbeiter einer gewerkschaftsnahen Unternehmensberatung, zuletzt Abteilungs- und Projektleiter in einer Softwarefirma, die ein Energiedatenmanagement- und Abrechnungssystem für den Energiehandel hergestellt und vertrieben hat.


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SIGRID PETERSEN, 9. Oktober 2022, 14:35 UHR

Hallo Herr Montag, ich habe bzgl. der Annahmen zu den Szenarien eine ganz andere Frage: das Basisszenario geht von einer Importmenge 125 GW aus. Multipliziert mit 8.760 Stunden ergeben das 1,15E+15 Wh/a (1.095.000 Milliarden Wh/a)

Nun wurden von Russland z.B. 2020 525.000 Milliarden Wh/a insgesamt eingekauft (52 Milliarden m3 *10.000 Wh). Das entspricht ungefähr der Hälfte der angegebenen Mengen, die ab "jetzt" für die nächsten 12 Monate eingekauft werden sollen. Wo soll das Doppelte der russischen Mengenlieferungen des vorvergangenen Jahres herkommen????

Welchem Denkfehler bin ich da aufgesessen?

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1302674/umfrage/russischer-anteil-am-deutschen-gasimport/

KARSTEN MONTAG, 10. Oktober 2022, 11:25 UHR

Liebe Frau Petersen, die kurze Antwort lautet: durch eine extreme Reduzierung der deutschen Gasexporte. Das wird im Notfall für all diejenigen Länder negative Konsequenzen haben, für die Deutschland ein Transitland für Gas ist. Dass die Exporte tatsächlich in den letzten drei Monaten um über 70 Prozent reduziert wurden, konnte ich mit den Zahlen des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas nachweisen. Längere Antwort:

Die Gas-Szenarien der Bundesnetzagentur gehen nicht nur von teils sinnfreien Annahmen aus, sie wurden auch von der Realität überholt und sind im Grunde ohne Ausrufen der Notfallstufe an sich sinnfrei.

In Basisszenario 1 der Bundesnetzagentur (0 Prozent der üblichen Liefermengen über Nord Stream 1) wird davon ausgegangen, dass Deutschland 125 Gigawattstunden pro Stunde, oder, wenn man die Stunden herauskürzt, im Jahresdurchschnitt 125 Gigawatt importiert, 107 Gigawatt selbst verbraucht und 89 Gigawatt exportiert. Den letzten Wert gibt die Bundesnetzagentur nur bei der Annahme des Basisszenarios auf Seite 6 der Gas-Szenarien (https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/ElektrizitaetundGas/Versorgungssicherheit/aktuelle_gasversorgung/Hintergrund/Gas_Szenarien.pdf?__blob=publicationFile&v=4) an. Die deutsche Jahresverbrauchsmenge ergibt sich beispielsweise, wenn man die 107 Gigawatt Verbrauch mit 365 mal 24 Stunden multipliziert.

125 Gigawatt Import minus 107 Gigawatt Eigenverbrauch und 89 Gigawatt Export ergibt eine Differenz von -71 Gigawatt. Die Bundesnetzagentur ging im August 2022 beispielsweise im Importszenario 1.3.1 des ersten Basisszenarios davon aus, dass man den Verbrauch und den Export lediglich um jeweils 20 Prozent senken und den Import aus anderen Ländern außer Russland um 15 Gigawatt steigern müsste, um eine Gasmangellage zu vermeiden. Rechnet man die dahinterstehende Gleichung aus, ergibt dies immer noch eine Differenz zwischen Import und Verbrauch zuzüglich Export von -32 Gigawatt. Das liegt daran, dass die Behörde zwar beim Import von einer Reduzierung der Liefermenge über Nord Stream 1 auf 0 Prozent ausgeht, beim Export aber weiterhin eine Reduzierung auf lediglich 40 Prozent annimmt.

Warum die wahrscheinlich sehr gut bezahlten Mitarbeiter der Bundesnetzagentur von solch sinnfreien Annahmen ausgehen, konnte mir die Pressestelle der Behörde bisher nicht beantworten. Die letzte Aussage zu diesem Thema lautete, die Modellannahmen seien „komplex“.

Tatsache ist jedoch, dass die Exporte in den letzten Wochen um über 70 Prozent reduziert wurden, was in der Summe zu einem Plus der in Deutschland verbliebenen Gasmenge geführt hat. Die in Deutschland tätigen Gasunternehmen haben also erhebliche Mengen, die zuvor an andere Länder weitergeleitet wurden, im eigenen Land behalten und damit unter anderem die Gasspeicher hierzulande befüllt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die deutschen Verbraucher keine Gasmangellage befürchten müssen.

Wie die Bundesnetzagentur mir mitteilte, gibt es keine regulatorischen Beschränkungen des Gasflusses zwischen Deutschland und Tschechien. Wie sich zukünftige Lastflüsse von und nach Tschechien entwickeln werden, werde ausschließlich durch privatwirtschaftliche Marktakteure bestimmt. Im Klartext heißt das, wer am meisten für das Gas bietet, der bekommt es. Natürlich fehlen die Liefermengen aus Russland, jedoch nur bei denen, die sich die verbliebenen Mengen nicht leisten können oder deren Staat im Notfall keinen Zugriff auf diese Mengen hat.

Das bedeutet wiederum, dass die Gas-Szenarien der Bundesnetzagentur zur Vermeidung einer Gasmangellage überhaupt keine Aussagekraft haben, solange die deutsche Regierung nicht in den Markt eingreift. Dies kann sie jedoch nur, wenn sie gemäß des „Notfallplans Gas für die Bundesrepublik Deutschland“ (https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/M-O/notfallplan-gas-bundesrepublik-deutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=5) die Notfallstufe ausruft. Die Voraussetzung dafür ist wiederum, dass die Gasversorgung nicht ausreicht, um die noch verbleibende Gasnachfrage zu decken, im Grunde also bereits eine Gasmangellage vorliegt.

Bös formuliert könnte man durchaus behaupten, die Gas-Szenarien der Bundesnetzagentur stellen eine gezielte Irreführung der deutschen Bevölkerung dar. Denn sie wird dadurch angehalten, 20 Prozent des üblichen Verbrauchs einzusparen, obwohl dies ohne Ausrufen der Notfallstufe überhaupt keinen Einfluss auf eine Abwendung einer Gasmangellage in Deutschland hat.

SIGRID PETERSEN, 10. Oktober 2022, 16:50 UHR

Ich habe mich mit den Zahlen noch etwas beschäftigt und bin zu dem "Ergebnis" gekommen, dass statista zwar den Gesamtgasimport der Jahre angibt, dass aber der Export dort schon wieder abgezogen sein muss. Denn verglichen mit den Importdaten für Gas der vergangenen Jahre, importierte Deutschland i.M. 2019-2021 1.526 Mrd kWh und der Verbrauch lag in diesem Zeitraum i.M bei 825 Mrd kWh. So wird dann die Annahme von 1.095 Mrd kWh in dieser Studie dann nachvollziehbar. Immerhin ca. 29% weniger. Dennoch bleibt die Frage, dass wenn Russland in den letzten Jahren bis über 50% Anteil an den Lieferungen hatte, woher man dieses Gas bekommen will. Zumal das einzige Szenario, in dem es keine Gasmangellage geben soll noch weitere 131 Mrd kWh (15 GW*8760h) dazugekauft werden sollen. Das sind dann nur 20% Gesamtreduktion. Und 137.000 m³ LNG reichen man nicht einmal einen halben Tag.

MTF, 12. Oktober 2022, 16:45 UHR

Die Szenarien der BNA sind komplett sinnfrei. Danke für diese richtige Feststellung. Die BNA scheint mit die falsche Stelle, um einen Gasmangel zu ermitteln. Leitungsauslastungen und Speicherfüllstände helfen da nicht. Die Bilanzierung muss zwischen Ein- und Verkauf erfolgen. Die Zuständigkeit liegt da in erster Linie bei den Handelsunternehmen. Wir werden hier offensichtlich wieder mit verwirrenden Studien zum Narren gehalten. Erinnert an die Situation bei Corona. Etwas Erhellung bringt möglicherweise dieser Beitrag:
https://diebasis-hb.de/2022/10/im-kuddelmuddelland-corona-energie-krieg/

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