Markus Söder auf einer Pressekonferenz am 13. August 2020 zur Corona-Test-Panne in Bayern | Bild: Screenshot Phoenix

Corona-Maßnahmen vor Gericht

Rechtsanwältin Jessica Hamed informiert über den aktuellen Stand in den von ihr geführten „Corona-Verfahren“, insbesondere zum Eilantrag eines Richters in Thüringen, dem bayerischen Offenbarungseid in Sachen Rechtstaatlichkeit sowie dem Antrag auf Vernehmung des Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder.

JESSICA HAMED, 19. August 2020, 4 Kommentare

I.

Am 7. August 2020 habe ich für meinen Mandanten, einen Thüringer Richter, einen Eilantrag beim Thüringer Oberverwaltungsgericht gegen die immer noch fortgeltende Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (im Folgenden: Maskenpflicht) und das Abstandsgebot gestellt. [1] Es handelt sich hierbei um den zweiten Eilantrag dieser Art meines Mandanten. Den ersten Antrag reichte er am 15. Juni 2020 ein, am 3. Juli 2020 wurde sein Antrag abschlägig beschieden. [2]

In Kürze unsere Argumente:

1. Es gibt unseres Erachtens – soweit ersichtlich im Einklang mit sämtlichen Vertreter/innen der Rechtslehre – für die unspezifischen, gegen sogenannte Nichtstörer gerichtete Maßnahmen wie die hier beanstandete Maskenpflicht und dem Abstandsgebot bereits keine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage. Wesentliches muss das Parlament selbst regeln und kann derartige Entscheidungen – schon gar nicht für mehrere Monate – nicht der Exekutive überlassen. Warum der gewählte Gesetzgeber unter dem Eindruck dessen, dass es aus der Rechtslehre von Beginn an tiefgreifende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage der Verordnungen gab und auch die Rechtsprechung in inzwischen zahlreichen Entscheidungen deutlich zum Ausdruck brachte, dass wenigstens Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestehen und dies in den Hauptsacheverfahren zu klären sei [3], nicht inzwischen Regelungen in Form von förmlichen Gesetzen getroffen hat, ist nicht nachvollziehbar. Die Vermutung, dass der Hintergrund möglicherweise darin zu sehen ist, dass man seitens der politischen Verantwortlichen nach wie vor den Anschein erwecken möchte, die bisherigen Maßnahmen beruhten auf einer verfassungsmäßigen Rechtsgrundlage, sodass keine Nachbesserung notwendig ist, habe ich bereits am 10. April 2020 geäußert. [4]

2. Das Abstandsgebot verstößt unseres Erachtens gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Für die Bürger/innen muss klar erkennbar sein, was erlaubt und was verboten ist. Das ist hier evident nicht der Fall. Wann die Einhaltung des Mindestabstands nicht möglich oder nicht zumutbar ist, ist anhand objektiver Kriterien nicht bestimmbar. Rechtstatsächlich wird das Abstandsgebot ersichtlich nur im Rahmen organisierter und institutionalisierter Zusammenkünfte beachtet – und stellt die Betreiber/innen von Restaurants, Cafés, Läden, Kinos, Theater usw. vor beträchtliche Probleme, während zu beobachten ist, dass die Menschen im Alltag das Gebot, 1,5 m Abstand zu halten, nach hiesiger Wahrnehmung, überwiegend nicht beachten.

3. Die beanstandeten Maßnahmen sind zudem unserer Auffassung nach unverhältnismäßig. Zu Beginn war die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems als primäres Ziel der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen ausgegeben worden. Inzwischen wird ausweislich des ablehnenden Beschlusses im ersten Verfahren meines Mandanten die „Infektionsvermeidung in der Bevölkerung“ als neuer Zweck ausgegeben. Wie im letzten Update dargelegt, besteht und bestand zu keinem Zeitpunkt die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems – ganz offensichtlich besteht diese jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. [5] Diese Meinung teilt offenbar auch das Bundesverfassungsgericht, das mit Beschluss vom 16. Juli 2020 einen Eilantrag ablehnte, der zum Ziel hatte, die Bundesregierung zu verpflichten, vorläufig die Triage zu regeln. In der Entscheidung [6] ist u.a. zu lesen:

„Das zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt erkennbare Infektionsgeschehen und die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten lassen es in Deutschland nicht als wahrscheinlich erscheinen, dass hier die gefürchtete Situation der Triage eintritt.“

Stichpunktartig soll im Folgenden unsere Argumentationslinie nur angerissen – ohne alle Argumente anzuführen – werden, die tiefergehende Argumentation kann in dem hiesigen Eilantrag [7], aber auch in anderen Anträgen [8] nachgelesen werden.

  • Der Höhepunkt der Neuinfektionen in Deutschland war bereits am 13. März 2020 erreicht; einen exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen gab es nicht [9] – lediglich die Anzahl der Tests ist von KW 11 auf KW 12 deutlich erhöht worden, sodass der Anschein entstand, als habe es einen sprunghaften Anstieg gegeben [10]:
  • Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass die Positivenrate seit KW 20 unter 2 Prozent liegt und seit KW 26 1 Prozent nicht mehr überstiegen hat. Dass gleichwohl die absolute Anzahl der gemeldeten neuen Fälle steigt, liegt daran, dass die Testkapazitäten enorm ausgeweitet wurden. Wer mehr testet, findet mehr. Hieraus lässt sich aber nicht ohne weiteres schließen, dass sich das Infektionsgeschehen ausweitet. Relevant ist (allenfalls!) die Positivenrate. Aber auch die ist – wie noch ausgeführt wird – mit Vorsicht zu betrachten.

  • Die Aussagekraft des eingesetzten PCR-Tests ist nicht nur aufgrund der fehlenden Validierung des Tests aktuell sehr eingeschränkt. Letztlich ist der PCR-Test bei dem aktuellen geringen (Positivenrate aktuell: 1 Prozent) Infektionsgeschehen ohne Aussagekraft, weil die Rate der falsch-positiven Tests durch eine hohe Anzahl an Tests bei geringer Verbreitung in der Bevölkerung sehr hoch ist. [11] In diese Richtung äußerte sich auch der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in einem Interview am 14. Juni 2020 [12]:

„Ich find nur eins immer wichtig wenn ich jetzt lese wir müssten drei, vier, fünf Millionen jetzt flächendeckend jeden Tag testen oder so. Sie müssen eins sehen, dadurch, dass wir […] die Zahlen so runtergebracht haben, haben wir im Moment eine Positivtestung von unter einem Prozent bei gleichbleibend konstanter Testzahl in den letzten Wochen. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht nachher durch zu umfangreiches Testen […] zu viel falsch-positive haben. Weil die Tests ja nicht 100 Prozent genau sind, sondern auch eine kleine, aber eben noch eine Fehlerquote haben. Und wenn sozusagen insgesamt das Infektionsgeschehen immer weiter runter geht und sie gleichzeitig das Testen auf Millionen ausweiten, dann haben sie auf einmal viel mehr falsch-positive als tatsächlich positive.“

Problematisch ist zudem, dass der PCR-Test einer Vorabveröffentlichung folgend nicht dazu geeignet ist, nur infektiöse Patient/innen zuverlässig zu identifizieren. In bisher fünf Studien konnte nach dem neunten Tag der Erkrankung mit COVID-19 kein aktives, infektiöses Virus aus dem Rachen der Erkrankten nachgewiesen werden. Jedoch fanden die Autor/innen heraus, dass im Median noch 17 Tage nach Erkrankung das Erbgut des Virus per RT-PCR im Rachen nachweisbar war, in Einzelfällen wurde noch nach 81 Tagen das Erbgut in den oberen Atemwegen mittels RT-PCR gefunden. Es besteht mithin die Gefahr, dass ein Proband oder eine Probandin, der/die vor zwei bis drei Monaten mit SARS-CoV-2 infiziert war, aktuell immer noch einen „positiven Corona-Test“ sowie eine Absonderungsanordnung gemäß § 30 Abs. 1 IfSG erhalten und als „Fall“ in der Statistik des Robert Koch-Institut geführt werden, obwohl er oder sie die Infektion schon längst überstanden hat und nicht mehr infektiös ist. [13]

So machte auch schon Prof. Dr. Florian Krammer auf die Schwächen des (bzw. eines jeden) PCR-Tests am 02.03.2020 aufmerksam [14]:

„Man muss da drei Dinge unterscheiden: Infektiöse Viren verursachen die Viruslast. Wenn infektiöses Virus vorhanden ist, kann eine Person eine andere anstecken. Allerdings muss die Viruslast dafür bei vielen Viren hoch sein. Was aber mit dem PCR-Test detektiert wird, ist nicht das Virus, sondern das Virusgenom. Und es kommt sehr wohl oft vor, dass noch Virusgenom vorhanden ist, aber kein infektiöses Virus mehr. Bei Masern ist das oft über Monate der Fall.“

Auf diese Problematik haben wir bereits am 26. Mai 2020 unter Verweis auf eine Veröffentlichung von Prof. Dr. Heinz Zeichhardt und Dr. Martin Kammel zum Extra Ringversuch Gruppe 340 Virusgenom-Nachweis-SARS-CoV-2 [15] auch in unserem zweiten hessischen Verfahren aufmerksam gemacht [16]:

„Das Vorliegen eines positiven Testergebnisses gibt daher vorerst nur das Vorhandensein dieses Abschnittes des Erbgutes von SARS-CoV-2 im Nasen-Rachen-Raum des Probanden an. Es ist damit nicht sichergestellt, dass das vollständige Erbgut des Virus dort vorhanden ist, ebenso ist nicht sichergestellt, dass intaktes, infektiöses Virus vorliegt.

Denkbar (und auch beschrieben) ist zum Beispiel das Vorhandensein von kurzen Bruchstücken viralen Erbguts oder inaktivierter ('toter') Viren auf den Schleimhäuten des Probanden. Eine Infektion (definiert als die Vermehrung von Virus in den Zellen des Getesteten) sowie die Infektiösität (definiert als die Freisetzung vermehrungsfähiger Viren) ist daher erst einmal nicht zu beurteilen.

Aus einem positiven Testergebnis eines Probanden kann damit weder sicher geschlussfolgert werden, dass dieser infiziert ist, noch, dass er infektiös ist.

Allein das klinische Gesamtbild (positiver Virusnachweis, passende Symptomatik eines akuten respiratorischen Infekts mit entsprechenden klinischen und apparativ-diagnostischen Befunden, radiologische Zeichen einer interstitiellen Pneumonie) kann eine Infektion mit SARS-CoV-2 feststellen – alles darüber hinaus sind zunächst einmal lediglich positive Testergebnisse unklarer Signifikanz.“

Nach alledem ist zu konstatieren, dass die Datenbasis, auf der die Risikobewertung des RKI beruht und auf welcher auch der hiesige Verordnungsgeber seine Maßnahmen – wie die hier angegriffene Maskenpflicht und das Abstandsgebot – stützt, offenkundig ungeeignet ist, die aktuelle Gefährdungssituation abzuschätzen.

Ersichtlich genügt es nicht, lediglich auf die Fallzahlen (und, nur um es in Erinnerung zu rufen, selbst das RKI geht davon aus, dass die Dunkelziffer um den Faktor 11- 20 höher ist [17]) zu schauen. Relevant für die Einschätzung der Gefährlichkeit des Infektionsgeschehens ist letztliche die Zahl derjenigen, die hospitalisiert werden müssen.

Warum wird dennoch – auch seitens des RKI – über den Anstieg der absoluten Fallzahlen berichtet, ohne diese in Relation zu anderen Parametern, die die Aussagekraft der Fallzahlen schwächen, zu setzen? Es spricht vieles dafür, dass den Bürger/innen mit dem Hinweis auf den Anstieg der Fallzahlen Angst gemacht werden soll.

Mehr oder weniger direkt räumt RKI-Präsident Wieler das selbst ein, wenn er im Zusammenhang mit der vom Robert Koch-Institut mitverantworteten Cosmo-Studie der Universität Erfurt („Ziel dieses Projektes ist es, wiederholt einen Einblick zu erhalten, wie die Bevölkerung die Corona-Pandemie wahrnimmt, wie sich die ‚psychologische Lage‘ abzeichnet“) erklärt [18]:

„Diese Studie gibt das Stimmungsbild in der Bevölkerung wieder. Das ist ein sehr wichtiger Parameter für uns, um immer die entsprechenden Messages anzupassen. Die neuesten Ergebnisse zeigen, dass das Coronavirus von der Bevölkerung als ein geringeres Risiko angesehen wird als zuvor und dass auch die Akzeptanz von Maßnahmen (…) weiter gesunken ist.“

Die entsprechenden Botschaften müssen demnach also angepasst werden und weil die Angst vor dem Virus nachgelassen hat und auch die Akzeptanz der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen, muss die Angst wieder geschürt werden. Ein unwürdiger Umgang eines demokratischen Rechtstaats mit seinen als mündig anzusehenden Bürger/innen.

In dem Thesenpapier 3.0. von Schrappe et al. vom 28. Juni 2020 wird damit zu Recht von einer „dysfunktionalen Dramatisierung“ gesprochen. [19] Es ist dort zu lesen [20]:

„Die von der Bundesregierung und dem RKI angebotene Zahlenbasis hat sich noch nicht verbessert. Weiterhin dominieren Zahlenwerte, die die Lage übermäßig dramatisieren (z.B. Mortalität) oder schlicht inadäquat sind (z.B. mangelnde Differenzierung von Erkrankten und Infizierten, Abhängigkeit vom Stichprobenumfang). Es ist zu befürchten, dass diese irrelevante Zahlenbasis auch bei der Begründung einer „2. Welle“ Verwendung finden wird. Relevante Häufigkeitsmaße, die zur Steuerung verwendet werden sollten, umfassen z.B. eine differenzierte Darstellung von sporadischen und epidemischen Fällen oder beziehen sich auf den Bericht von versorgungsrelevanten Krankheitszuständen wie asymptomatische Infizierte oder stationäre Behandlungsbedürftigkeit. Nur mit Hilfe solcher methodisch abgesicherten Maße ist eine transparente und zielorientierte Diskussion des weiteren Vorgehens in der Öffentlichkeit zu erreichen.“

In dem Zusammenhang soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Thorsten Kingreen bereits in seinem am 5. Juni 2020 fertiggestellten Rechtsgutachten zu dem Ergebnis kam, dass die Feststellung des Bundestag „einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ aufgehoben werde müsste, da die Voraussetzungen nicht mehr vorlägen. [21]

Wir stellten uns zudem die Frage, wie viele Infektionen durch die Maskenpflicht in den letzten fünf Wochen in Thüringen [22] vermieden wurden:

Um diese Schätzung möglichst unangreifbar zu machen, haben wir mit weitreichenden Annahmen zugunsten des Antragsgegners operiert. Zugleich sollte die Schätzung aber so transparent und übersichtlich gehalten werden, dass eine Überprüfung auch bei summarischer Prüfung ohne weiteres möglich ist:

  • In den letzten sechs Wochen (26. bis 31. KW) gab es in Thüringen laut RKI 135 Positivtests (19 + 22 + 20 + 27 + 24 + 23). Im Durchschnitt ergibt das 22,5 Fälle pro Woche.

  • Zugunsten des Antragsgegners wird weiter angenommen, dass es sich um 135 richtig-positive Testergebnisse handelt, also keine falsch-positiven darunter sind (wie dargelegt, ist das äußerst unwahrscheinlich).

  • Zugunsten des Antragsgegners soll außerdem angenommen werden, dass (abgerundet) die Hälfte der Infektionen (67) in Geschäften oder im öffentlichen Personenverkehr erfolgt sind. Auch das ist eine sehr großzügige Annahme, da nach allen Berichten die allermeisten Infektionen in privaten Haushalten, in Gaststätten, am Arbeitsplatz oder bei Familienfeiern stattfinden. Von einer Ansteckung im Supermarkt war noch nie etwas zu lesen und auch die Ansteckungen im öffentlichen Personenverkehr wurden bisher praktisch nie thematisiert. Trotzdem soll von 67 Infektionen in diesen Bereichen ausgegangen werden.

  • Zugunsten des Antragsgegners soll ferner davon ausgegangen werden, dass die angenommene Reduktion der Virenlast nicht nur bei 5 – 20 Prozent, sondern durchgängig bei 20 Prozent liegt und dass die Reduktion nicht nur die Krankheitsschwere beeinflusst (auch diese These ist nach Kenntnis des Antragstellers wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt), sondern sogar zu 20 Prozent weniger Infektionen führt.

  • Daraus folgt: Wenn die Masken die Zahl der Infektionen um 20 Prozent abgesenkt haben, wäre es ohne Masken anstelle der 67 Infektionen zu 84 Infektionen gekommen. Die Masken haben also Thüringen in sechs Wochen 17 Infektionen erspart, in einer Woche 2,8.

  • Wie viele Menschen waren dafür der Maskenpflicht unterworfen? Thüringen hat 2,1 Millionen Einwohner/innen. Der Anteil der unter 7-Jährigen, für die die Maskenpflicht nicht gilt, wird auf 8% (Lebenserwartung von 80 Jahren und gleichmäßiger Alterspyramide) geschätzt. Für Pflegebedürftige gilt zwar grundsätzlich die Maskenpflicht, sie gehen aber (jedenfalls in der Regel) nicht mehr Einkaufen und fahren nicht mehr Bus und Bahn, ihr Anteil wird auf 4 Prozent geschätzt (deutschlandweit gibt es 3,4 Millionen Pflegebedürftige = 4 Prozent der Gesamtbevölkerung). Zuzüglich 3 Prozent für sonstige Personen (Krankenhauspatienten, Inhaftierte, von der Maskenpflicht aus gesundheitlichen Gründen Befreite u.a.) werden 15 Prozent = 315.000 Menschen als von der Maskenpflicht nicht betroffen angesehen.

  • Das Ergebnis lautet: 1.785.000 Menschen mussten in Thüringen in Geschäften und im öffentlichen Personenverkehr Masken tragen, um maximal 2,8 Infektionen pro Woche zu verhindern. Stellt sich nur noch die Frage, wie viele der (in sechs Wochen) 17 Nichtinfizierten statistisch im Falle der Infektion ernsthaft erkrankt wären.

1.785.000 Menschen mussten also Masken tragen, um maximal 2,8 Infektionen pro Woche zu verhindern, die möglicherweise zu nicht einer einzigen ernsthaften Erkrankung geführt hätten. Wenn das nicht offensichtlich unverhältnismäßig ist, was dann? [23]

II.

Wir haben in unseren bayerischen Verfahren nunmehr beantragt, alsbald die mündliche Verhandlung durchzuführen und den Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder sowie einige seiner Staatsminister/innen als Zeug/innen zu vernehmen. [24]

Was ist geschehen?

Das Gericht folgte unserem Antrag auf Vorlage der Behördenakte in Bezug auf die diesseits umfassend angegriffenen Anti-Corona-Maßnahmen und bat den Antragsgegner diese vorzulegen. Auf fünf Seiten erklärte sodann das bayrische Gesundheitsministerium, dass keine Behördenakte existiere und auch nicht zusammengestellt werden könne.

Gemeinsam mit meinem Kollegen Marcel Kasprzyk führe ich bekanntermaßen in mehreren Bundesländern Verfahren wie die in Bayern. In den Ländern, in denen bereits Akteneinsicht gewährt wurde, wurden durchgehend – wenngleich überwiegend in unbefriedigendem Ausmaße – Dokumente vorgelegt.

Dass ausgerechnet das Bundesland, das mit den gravierendsten Maßnahmen, wie etwa der allgemeinen Ausgangsbeschränkung, aufwartete, über keine Behördenakte verfügen möchte, ist schwer begreifbar, zweifelhaft und unseres Erachtens skandalös.

Der Beteuerung des Ministeriums, die Erlasse der streitgegenständlichen Maßnahmen beruhten stets auf einer umfassenden Würdigung der jeweils aktuellen tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere der verfügbaren Daten zur Entwicklung des Infektionsgeschehens, und der wissenschaftlichen Erkenntnisse, kommt keinerlei Erkenntniswert zu.

Schließlich haben wir – unter Angabe zahlreicher Nachweise – gerade bestritten, dass a) eine ausreichende Tatsachengrundlage für die beanstandeten Maßnahmen gegeben war und b) dass die angegriffenen Maßnahmen verhältnismäßig waren.

Das Ministerium verweist unter anderem auf eine Rede des Ministerpräsidenten Söder, in der er Bezug auf die Prognosen des RKI und des LGL nehme, wonach hohe Wellen an Infektionen zu erwarten seien, wenn nicht stärker eingegriffen werde. Dieses Beispiel belege, so das Ministerium, dass für die Lagebewertung der Staatsregierung die Berichte und Empfehlungen dieser beiden Institutionen von vorrangiger Bedeutung gewesen seien (Seite 4 der Stellungnahme) und glaubt dann, dass es im Weiteren ausreiche, auf die öffentlich zugänglichen Dokumente/Daten des RKI und des LGL hinzuweisen.

Sollen das Gericht und wir uns aus den zahlreichen Dokumenten selbst heraussuchen, was entscheidungserheblich gewesen sein könnte?

Unter dem seitens des Ministeriums genannten Link [25] hört man am 20.03.2020 Söder auf Prognosen des RKI und LGL hinweisen. Hiernach seien in Deutschland, wenn „wir nicht stärker eingreifen“ hohe Wellen an Infektionen, vielleicht in Deutschland sogar in die Millionenbereiche hinein zu erwarten.

Auf welche Prognosen sich Söder bezieht, ist unklar und hat der Antragsgegner auch nicht erläutert.

Weiter behauptet der Antragsgegner, dass die Staatsregierung ihren Entscheidungen stets eine Vielzahl weiterer (abseits von RKI und LGL) Erkenntnisquellen zugrunde gelegt hätte. Sie verweisen auf „wissenschaftliche Studien“ und „Presseberichte“. Freilich ohne diese konkret zu benennen. Außerdem hätten „Einzelgespräche mit Virologen“, wobei es sich um solche des RKI und LGL als auch um andere Sachverständige gehandelt habe, stattgefunden. Mit wem Einzelgespräche stattgefunden haben sollen, teilt das Ministerium ebenso wenig mit.

Besonders frappierend erscheint, dass das Ministerium ferner sinngemäß erklärte, nicht in der Lage zu sein, eine vollständige Zusammenstellung aller Erkenntnisse für die Lagebeurteilung erarbeiten zu können, weil diesbezügliche Erkenntnisse „auch auf informellen Wegen wie etwa in persönlichen Gesprächen mit Sachverständigen gewonnen wurden, die nicht inhaltlich dokumentiert sind.“

Das Ministerium konstatiert daher abschließend, dass es in den hiesigen Verfahren rein tatsächlich nicht möglich sei, eine Behördenakte vorzulegen, die ein umfassendes Bild über die Erkenntnis liefern könnte, welche bei der Meinungs- und Willensbildung der Staatsregierung im Vorfeld des jeweiligen Normenerlasses Berücksichtigung gefunden habe.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Regierung des Freistaats Bayern in der massivsten Weise nahezu alle Grundrechte ihrer Bürger/innen aufgehoben hat, ohne diese Vorgänge, die Entscheidungsgrundlage, die Prognosen, die Abwägungsprozesse (Stichwort: Kollateralschäden) etc. in einer Behördenakte zu dokumentieren.

Wir haben daher beantragt, die verantwortlichen Staatsminister/innen und den Ministerpräsidenten als Zeugen zu hören.

Ausweislich der Angaben des Ministeriums wurde nämlich in den Ministerratssitzungen über die Strategie der Staatsregierung zur Eindämmung der Pandemie beraten. Mangels der Vorlage einer Behördenakte sind somit die Entscheidungsträger/innen zu hören. Eine andere Möglichkeit der Überprüfung der Entscheidungsgrundlage und des Entscheidungsprozesses der beanstandeten Maßnahmen existiert schließlich nicht.

Abschließend haben wir uns die Bemerkung erlaubt, dass es schwer fällt zu glauben, dass so etwas in einem Land wie Deutschland, das für seine akribische Bürokratie bekannt ist, möglich sein soll. Insbesondere haben wir uns auch die Frage gestellt, wie die Entscheidungsprozesse in Bayern aussahen. Hat jeder der Beteiligten ein paar Informationen, formeller oder informeller Natur, die er oder sie irgendwo aufgeschnappt hat, in den Ministerratssitzungen mündlich vorgetragen und dann wurde beschlossen, nahezu alle Grundrechte zu suspendieren? Nach der jüngsten Panne im Umgang mit den Testergebnissen von 44.000 Menschen, wobei 949 positiv waren [26] und es nunmehr so aussieht, als bliebe es dabei, dass auch Tage danach nicht alle positiv Getestete aufgefunden und informiert werden können [27], erscheint diese Vorstellung erschütternder Weise gar nicht mehr so abwegig.

Über die Autorin: Jessica Hamed ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht. Sie studierte in Mainz und Buenos Aires und erhielt für ihre herausragenden Studienleistungen ein Begabtenstipendium. Sie arbeitet außerdem als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität und hat einen Lehrauftrag an der Hochschule Mainz. Jessica Hamed führt in fünf Bundesländern Normenkontrollverfahren gegen verschiedene Corona-Bekämpfungsverordnungen. Außerdem ist sie in Fragen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (Hausverbot trotz Attest) und diversen Ordnungswidrigkeitsverfahren im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen mandatiert.

Der vorliegende Text erschien zuerst am 17.8. auf der Webseite der Anwaltskanzlei Bernard Korn & Partner.

Weitere Artikel zum Thema:

Anmerkungen

[1] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000647JHsn14735-Thueringer-Oberverwaltungsgericht.pdf.

[2] http://www.thovg.thueringen.de/OVGThueringen/rechtsp.nsf/6c24af328dcfcb8cc1256ab9002dd3c7/3bec37c91bccf368c125859d004ad108/$FILE/20-3EN-00391-B-A.pdf.

[3] Z.B. https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/6217676/?LISTPAGE=1213200.

[4] https://www.ckb-anwaelte.de/vgh-kassel-lehnt-ausservollzugsetzung-der-hessischen-corona-verordnungen-3-und-4-im-eilverfahren-ab-wir-kaempfen-weiter/.

[5] https://www.ckb-anwaelte.de/corona-update-16-juli-2020-der-muehsame-weg-zum-recht/.

[6] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/07/rk20200716_1bvr154120.html.

[7] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000647JHsn14735-Thueringer-Oberverwaltungsgericht.pdf.

[8] https://www.ckb-anwaelte.de/aktuelle-corona-verfahren/.

[9] Vgl. Ausführungen in: https://www.ckb-anwaelte.de/corona-update-16-juli-2020-der-muehsame-weg-zum-recht/.

[10] Tabelle aus: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-12-de.pdf?__blob=publicationFile.

[11] Vgl. zur Aussagekraft der Test-Ergebnisse: https://www.aerzteblatt.de/archiv/214370/PCR-Tests-auf-SARS-CoV-2-Ergebnisse-richtig-interpretiere.

[12] https://www.youtube.com/watch?v=ZfWEYeokZiA, dort ab 13:10 min.

[13] Zu alledem (dort auch der Link zum Paper): https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000647JHsn14761-Thueringer_Oberverwaltungsgericht.pdf.

[14] https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/rapid-reaction/details/news/einzelne-genesene-covid-19-patienten-positiv-auf-sars-cov-2-getestet/.

[15] https://www.instand-ev.de/System/rv-files/340%20DE%20SARS-CoV-2%20Genom%20April%202020%2020200502j.pdf.

[16] https://www.ckb-anwaelte.de/download/VGH_Kassel_26.05.2020.pdf.

[17] https://www.wnoz.de/Prof-Otte-Warum-die-Epidemie-in-Deutschland-vorbei-ist-16babc69-31ed-46fc-bb00-f590eb64bb24-ds.

[18] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-735913.html.

[19] https://www.socium.uni-bremen.de/uploads/thesenpapier_3.pdf, dort S. 8.

[20] https://www.socium.uni-bremen.de/uploads/thesenpapier_3.pdf, dort S. 16.

[21] https://www.fdpbt.de/sites/default/files/2020-06/Rechtgutachten%20%C2%A7%205%20Abs.%201%20IfSG-Kingreen_0.pdf, dort S. 39.

[22] Infektionslage in Thüringen im Zeitpunkt der Antragstellung: 6 COVID-19-Patient/innen standen am 05.08.2020 in Thüringen 312 freie Intensivbetten und 621 andere Patient/innen in intensivmedizinischer Behandlung gegenüber. In Thüringen gab es mit Stand 07.08. 3.413 Infizierte, 3.200 Genesene und 182 Verstorbene – mithin lediglich 31 aktive Fälle bei 2,1 Millionen Einwohner/innen.

[23] In diesem Sinne auch das Norwegische Institut für Öffentliche Gesundheit: https://www.fhi.no/globalassets/dokumenterfiler/rapporter/2020/should-individuals-in-the-community-without-respiratory-symptoms-wear-facemasks-to-reduce-the-spread-of-covid-19-report-2020.pdf, dort S. 19.

[24] https://www.ckb-anwaelte.de/download/2020000338JHJH916-Bayerischer-Verwaltungsgerichtshof.pdf.

[25] https://www.youtube.com/watch?v=RirENjGnoWs.

[26] https://www.tagesschau.de/inland/bayern-corona-panne-101.html; https://www.fr.de/politik/bayern-corona-tests-panne-testzentren-soeder-huml-90022700.html.; https://www.merkur.de/welt/corona-bayern-test-soeder-huml-infizierte-gesundheitsamt-flughafen-deutschland-urlaub-messe-zr-90022623.html; https://www.tagesspiegel.de/politik/doch-nicht-der-beste-krisenmanager-harsche-kritik-an-markus-soeder-nach-corona-panne-in-bayern/26090914.html.

[27] https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-testpanne-wenig-hoffnung-auf-vollstaendige-aufklaerung,S7quO6o.

RONNY STRITZKE, 19. August 2020, 20:35 UHR

Fast eine Million Tests (875.524) sind notwendig, das Bild der Pandemie aufrecht zu erhalten. 8.407 der Tests brachten ein positives Ergebnis, dies aber nur durch vermutlich Doppeltestungen, denn lt. RKI sind für die letzte KW nur 7656 positiv-Meldungen eingegangen. Schön, das 0,96% der Tests positiv sind, dann hat die Evidenzschmiede ja noch was zu melden.

PAUL SCHREYER, 19. August 2020, 22:50 UHR

Wer diese (heute, am 19.8., veröffentlichten) Zahlen nachlesen möchte, findet Sie hier auf Seite 12:

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-19-de.pdf?__blob=publicationFile

Im Vergleich zur Vorwoche wurde die Testmenge abermals massiv erhöht, um 20 Prozent, während die Positivenrate stagniert bzw. leicht sinkt.

RONNY STRITZKE, 20. August 2020, 07:00 UHR

Danke für die Quellenangabe.

Die BILD titelt heute Morgen online mit „Wo sich die Deutschen mit Corona anstecken“. Besonders schockierend ist jedoch der folgende Satz im Text: „Die Bundesregierung hinkt ihrem eigenen Anspruch, die Testkapazitäten auf 4,5 Millionen pro Woche zu steigern, momentan meilenweit hinterher“, beklagte Iris Plöger, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung. Nach aktueller Erkenntnis der Falschpositiven bedeutet dies, das 45.000 Falschpositive pro Woche herauskommen und 45.000 Menschen plus ihr Umfeld unbegründet in Zwangsquarantäne müssen.

Hier ein Link zum Artikel: https://m.bild.de/politik/inland/politik-inland/urlaubs-tabelle-zeigt-infizierten-zahlen-wo-sich-die-deutschen-mit-corona-anstec-72475482.bildMobile.html

Die Vorstellung, das ein Gericht die Maskenpflicht bei 45.000 Infizierten pro Woche abschafft ist mir nicht möglich, bei einem solchen Szenario der ausufernden Pandemie hält sich jeder Richter zurück. Das diese Zahlen nur manipulativ entstanden sind, ist dann vermutlich egal. Der Judikative werden auf diesem Wege Daumenschrauben angelegt.

BERNHARD MÜNSTERMANN, 19. August 2020, 23:10 UHR

En d’r Kayjass Nummer Null
steiht en steinahl Schull
un do hammer dren studeet.
Unser Lehrer, dä hieß Welsch,
sproch en unverfälschtes Kölsch
un do hammer bei jelihrt.
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han für dä Lehrer jesaht:
Nä, nä dat wesse mer nit mih,
janz bestemp nit mih
un dat hammer nit studeet.
Denn mer wore beim Lehrer Welsch en d’r Klass
un do hammer sujet nit jelihrt.
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull;
dreimol Null es Null, es Null,
denn mer woren en d’r Kayjass en d’r Schull.

Es en Schiev kapott, es ene Müllemmer fott,
hät d’r Hungk am Stätz en Dos‘:
Kütt dä Schutzmann anjerannt,
hät uns Pänz dann usjeschannt, –
saht: Wat maat ihr zwei dann blos!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för dä Schutzmann jesaht:
Nä, nä dat wesse mer nit mih…
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null…

Neulich krät uns en d’r Jass
die Frau Käzmann beim Fraaß, –
saht: Wo wollt ihr zwei dann hin?
Uns Marieche sitz zo Hus,
weiss nit en un weiss nit us:
Einer muss d’r Vatter sin!
Un da hammer hin un her üvverlaat
un han för die Käzmanns jesaht:
Nä, nä dat wesse mer nit mih…
Ävver, ävver, ävver dreimol Null es Null, es Null …

Ähnlich wie im bekannten traditionellen Kölner Ohrwurm der Karnevalstage im Schatten der Domtürme konstant verhält es sich, wenn man die 1 mit einem Exponenten aus der Reihe der natürlichen ganzen Zahlen potenziert. Wie aber lautet der Grenzwert, wenn man 0,96 potenziert? Siehe Matheunterricht Kaygasse. Ich bitte um Nachsicht für meinen Kommentar aus dem Rheinland. Ohne Ironie ist es kaum noch zu ertragen und berufe mich auf Juvenal: Difficile est satiram non scribere.

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