Fachjuristen: Behördliche Kontrolle digitaler Medien ist „verfassungswidrig“

Medienrechtler Fiedler: „Neuartiger staatlicher Angriff auf Pressefreiheit“ / Medienrechtler Kompa: Vorschrift in Medienstaatsvertrag „verfassungsrechtlich bedenklich“ / Verleger warnten 2019 vor „gefährlichen Präzedenzfällen für staatliche Presseaufsicht“

30. August 2024
Berlin.
(multipolar)

Juristische Experten beurteilen die Kontrollrechte, die Paragraf 19 des Medienstaatsvertrages den deutschen Landesmedienanstalten seit 2020 einräumt, als rechtswidrig. Die journalistische Sorgfaltspflicht ist „weder für sich genommen rechtlich sanktionierbar“ noch darf sie durch eine „ordnungsbehördliche Aufsicht über die Redaktionen überwacht“ werden, schreibt der Medienrechtler Christoph Fiedler im juristischen Standardwerk „Gersdorf/Paal: Medien- und Informationsrecht“. (Beck, 2021) Fiedler ist Professor für Medienrecht an der Universität Leipzig und Geschäftsführer für Europa- und Medienpolitik beim Medienverband der freien Presse.

Das Eingriffsrecht der Landesmedienanstalten über die Sorgfaltspflicht sei eine „unverhältnismäßige Beschränkung redaktioneller Presse- und Medienfreiheit“ und deshalb mit Artikel 5 des Grundgesetzes („Eine Zensur findet nicht statt“) „unvereinbar und verfassungswidrig“, erläutert er. Durch die Gesetzesänderung könne der Staat nun „problemlos die Kontrolle über die Berichterstattung zu beliebigen Geschehnissen übernehmen“ und jede Redaktion aktiv bekämpfen, die über „umstrittene Themen aus Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft“ berichtet. Es handle sich um einen „neuartigen staatlichen Angriff auf die Pressefreiheit“, der weit über bisherige rechtliche „Äußerungsschranken“ hinausgeht, erklärt Fiedler weiter in dem Fachkommentar zum Medienstaatsvertrag. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2020 habe es „selbstverständlich“ keinerlei „behördliche Aufsicht über die journalistische Sorgfaltspflicht“ gegeben.

Fiedlers Einschätzung zufolge darf der Staat diese berufsethische Norm nur dann mit „hoheitlichem Zwang“ durchsetzen, wenn im Einzelfall ein konkretes allgemeines Gesetz verletzt wird – etwa bei Schmähungen oder herabsetzenden Behauptungen. Eine Behörde jedoch damit zu beauftragen, journalistische Maßstäbe zu interpretieren und mitzubestimmen, sei ein „Offenbarungseid für jeden Gesetzgeber, dem der Erhalt grundrechtlicher Meinungs- und Medienfreiheit ein echtes Anliegen ist“ und ein „Rückfall hinter das Reichspressegesetz von 1874“. Der Passus im Medienstaatsvertrag sei eine „Ermächtigung zum staatlichen Kampf gegen beliebige politische Richtungen oder Meinungen“. Eine „staatliche Aufsicht über die journalistische Sorgfaltspflicht“ muss für alle Medien ausgeschlossen bleiben, betont der Medienrechtler. Anders sei die redaktionelle Freiheit der Presse „nicht denkbar“.

Der Münchener Medienrechtler Wolfgang Lent zweifelt ebenfalls daran, dass Paragraf 19 des Medienstaatsvertrags verfassungsgemäß ist. Die Vorschriften träfen ausschließlich Online-Medien, was Indiz für eine Sonderrechtsregelung sein kann, argumentiert er in einem juristischen Fachbeitrag. (Zeitschrift für Urheber und Medienrecht 8/9/2020). Zudem sei gar nicht genau definiert, wer unter das Gesetz falle. Außerdem würde die Kontrollfunktion gegenüber dem Staat ausgehebelt, wenn die Journalisten bei ihrer Recherche Rücksicht auf Staatsbelange nehmen müssten. „Eine Behördenaufsicht über die Einhaltung von Sorgfaltspflichten führt gerade in diesen Fällen zu inakzeptablen Rahmenbedingungen der online-journalistischen Arbeit.“ Der Medienstaatsvertrag sei mit der Pressefreiheit nicht vereinbar.

Auch der Kölner Fachanwalt Markus Kompa kritisiert die Vorschrift des Medienstaatsvertrages als „verfassungsrechtlich bedenklich“. Es sei möglich, dass Paragraf 19 als „Instrument der Repression“ genutzt werde. Die Vorschrift könne beispielsweise als „staatliche Sperrverfügung gegen Blogger“ verstanden werden, erläutert der Anwalt für Urheber- und Medienrecht in einem juristischen Fachartikel aus dem Jahr 2022. (Beck: Multimedia und Recht, Heft 4) Die Einordnung, was „wahr“ sei und was nicht, obliege nun einer Behörde, die Verbote, Ordnungsgeld und Verwaltungsgebühren verfügen könne, kritisiert er.

Die Landesmedienanstalten beanspruchten für sich zwar „staatsfern“ zu sein, jedoch spiegele sich in den Gremien regelmäßig der „jeweilige Parteienproporz“ und die Behördenleitung stehe meist der Landesregierung nahe. „Faktisch handelt es sich daher um staatliche Exekutive“, erklärt Kompa. Je nach politischer Entwicklung oder ideologischer Ausrichtung der Anstalten bestehe die Gefahr „selektiver Gängelung“. Kompa berichtet in dem Artikel über den Fall eines Bloggers, der von der baden-württembergischen Landesmedienanstalt zu Unterlassung bestimmter Aussagen über Corona-Maßnahmen aufgefordert worden war. „Als problematisch erwies sich die autoritäre wie intransparente Durchführung des Verfahrens“ ebenso wie die „unerfindliche“ Forderung von 800 Euro „Verwaltungskosten“, kritisiert der Kölner Anwalt. Dass dieser einzelne Blogger von der Aufsichtsbehörde ausgewählt worden war, wirke zudem wie Willkür.

Verlegerverbände hatten bereits im Dezember 2019 vor einer drohenden „staatlichen Redaktionsaufsicht“ durch den neuen Medienstaatsvertrag gewarnt. Es könnte zu „gefährlichen Präzedenzfällen für eine staatliche Presseaufsicht“ durch die Landesmedienanstalten gegenüber Telemedien kommen, hieß es in einer Stellungnahme des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) und des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV). Diese „nach der letzten Anhörung eingeführte Neuregelung“ betrachteten die Verbände „mit Sorge“.

Der Medienstaatsvertrag trat im November 2020 nach der Annahme durch die Landesparlamente der Bundesländer in Kraft und ersetzte den bis dahin geltenden Rundfunkstaatsvertrag. Paragraf 19 des Medienstaatsvertrages, der Landesmedienanstalten das Recht einräumt, in die Redaktionsarbeit von Online-Medien einzugreifen, wurde bisher gerichtlich nicht überprüft. Dies könnte sich durch das aktuelle Vorgehen der Landesanstalt für Medien NRW gegen Multipolar jedoch ändern.


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