Insider: Verfassungsschutz geht zunehmend gegen unbescholtene Bürger vor

Mitarbeiter des sächsischen Landesamtes wendet sich an Zeitung / Angst vor Überwachungsstaat „nicht ganz unberechtigt“ / Kenner des Verfassungsschutzes für Reform und Unabhängigkeit von Parteipolitik

24. Mai 2024
Berlin.
(multipolar)

Der Verfassungsschutz könnte vermehrt für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Diese Gefahr sieht ein anonymer Mitarbeiter, der sich an die Schwäbische Zeitung gewandt hat. Der 36-jährige ist Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz in Sachsen. Er berichtet laut Zeitung von „unglaublichen Zuständen und Missständen in dieser Behörde“. Sie nehme zunehmend unbescholtene Bürger ins Visier. Die Ängste vor einem Überwachungsstaat wie in der DDR seien nicht ganz unberechtigt, sagt der Mitarbeiter, der im Text als Gregor S. firmiert.

„Was gestern legale Kritik war, kann heute ein Grund sein, ins Visier des Verfassungsschutzes zu geraten“, sagt er. „Plötzlich wird versucht, auch Menschen zu diskreditieren, zu dämonisieren und auszugrenzen, bei denen das vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen wäre.“ Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, äußerte sich zustimmend zu der Kernaussage des Textes. Im Kurznachrichtendienst „X“ zitiert er den Mitarbeiter mit den Worten „der Rechtsstaat wird ausgehöhlt“ und konstatiert selbst: „So ist es.“

Gregor S. arbeitete laut Zeitungsbericht als Vertrauensperson-Führer. Als solcher hatte er viel mit Informanten zu tun und sollte Informationen über extremistische Bestrebungen sammeln. Er beschreibt Zustände, die seine tägliche Arbeit massiv erschwert hätten. Unter anderem kritisiert er, dass die Sicherheit der Mitarbeiter nicht gewährleistet gewesen sei und die Behörde bürokratisch agiere. Es gebe ein „Arbeitsumfeld, das völlig unprofessionell ist und in dem der Dienst seine Aufgabe nicht erfüllen kann“.

Statt sich mit ernstzunehmenden Gegnern wie Links- und Rechtsterroristen oder Islamisten zu befassen, kümmere sich der Dienst um Bürger, die eigentlich kein Fall für den Verfassungsschutz sind. Nachdem Gregor S. Beschwerden aufgeschrieben und konstruktive Vorschläge unterbreitet habe, sei er vom Präsidenten des sächsischen Verfassungsschutzes eingeladen worden. Mittlerweile habe er seine „Sicherheitsermächtigung“ verloren und es sei ein Disziplinarverfahren eröffnet worden. Er darf demnach die Liegenschaft des Verfassungsschutzes nicht mehr betreten.

Der Publizist Mathias Brodkorb ist von den Aussagen des Mitarbeiters nicht überrascht. Der ehemalige Bildungs- und Finanzminister Mecklenburg-Vorpommerns hat dieses Jahr das Buch „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ veröffentlicht, das sich kritisch mit dem Verfassungsschutz beschäftigt. Die beschriebene Grenzüberschreitung der Behörde zeige sich auch in den Akten, die ihm vorliegen, sagt er auf Multipolar-Nachfrage. Brodkorb kritisiert, dass der Verfassungsschutz daran mitarbeite, Meinungen aus dem Diskurs auszuschließen. „Wir leben seit mehreren Jahren schon in einer Republik, die Probleme mit ihrer eigenen Liberalität hat.“

Brodkorb fordert eine Abschaffung des Verfassungsschutzes in seiner derzeitigen Form. „Er verfolgt Menschen, bevor sie eine Straftat begangen haben, das macht kein anderer Inlandsgeheimdienst in westlichen Demokratien“, sagt er. Wolle man den Verfassungsschutz reformieren, dann müsse er von der Parteipolitik gelöst werden. Brodkorb schlägt eine Umwandlung der Behörde nach dem Vorbild des Bundesrechnungshofs vor, dessen Leitung durch das Parlament gewählt werde und die dann parteipolitisch und richterlich unabhängig arbeiten könne.

Die Ineffizienz und Behäbigkeit, die der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes beschreibt, ist nach Brodkorbs Meinung allerdings nachvollziehbar. Der Verfassungsschutz sei eine Behörde, die rechtsstaatlichen Maßstäben unterworfen ist. „Es lässt sich nicht vermeiden, dass es da bürokratisch vorgeht.“ Überrascht hat Brodkorb vor allem, dass der Mitarbeiter an die Öffentlichkeit gegangen ist. Schließlich unterliege er als Beamter einer besonderen Treuepflicht. Die Anwältin von Gregor S., Christiane Meusel, sagt gegenüber Multipolar, dass dieser dies bewusst so wollte. Sie habe ihn belehrt und auf die möglichen Folgen hingewiesen. Sie selbst könne die Vorwürfe gegenüber dem Verfassungsschutz nachvollziehen. Meusel hat selbst mehrere Jahre für die Behörde gearbeitet und 2021 bei einer Mobbingklage gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz einen Teilerfolg erzielt.

Korrektur 25.5.: In der Ursprungsversion der Meldung hieß es, Meusel habe die Klage gegen den Verfassungsschutz „gewonnen“ – tatsächlich erzielte sie einen Teilerfolg. Die Formulierung wurde geändert.

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