„Wie viel Zeit, denkt ihr, haben wir?“
PAUL SOLDAN, 3. Mai 2022, 2 Kommentare, PDFHinweis: Dieser Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.
Thomas Isidore Noël Sankara wird am 21. Dezember 1949 in Yako, einem kleinen muslimischen Dorf, im Norden von Obervolta – der damalige Name Burkina Fasos – geboren und verbringt seine Kindheit in Gaoua im Süden des Landes. Obervolta liegt südlich der Sahara inmitten Westafrikas, ohne Zugang zum Meer. Seine religiösen Eltern hatten eigentlich eine Ausbildung zum Priester für ihn vorgesehen; er aber entscheidet sich dagegen und wählt den Besuch eines Gymnasiums in Bobo-Dioulasso, nach der Hauptstadt Ouagadougou, der zweitgrößten Stadt des Landes. Der ursprüngliche Plan des jungen Thomas Sankara ist es, Medizin zu studieren und Arzt zu werden. Dafür hofft er, einen Stipendiumsplatz zu gewinnen, was aber nicht gelingt, woraufhin er sich für eine Militärschule – das sogenannte Militär-Prytaneion – entscheidet.
Lage Burkina Fasos in Westafrika | Karte: Wikipedia Commons, CC BY-SA 3.0
Während dieser Zeit freundet er sich mit seinem Geschichtslehrer an, einem der Anführer der marxistisch-leninistischen Linken Obervoltas sowie einem der ersten afrikanischen Professoren überhaupt. Dieser lehrt, dass Geschichte sich in Bewegung befindet und der Mensch einen gewissen Einfluss nehmen kann. Sankara beginnt erstmals, sich für Politik zu interessieren.
„Wer mit einer tödlichen Schusswaffe in Habachtstellung vor einer Fahne Befehle empfängt, ohne zu wissen, für wen und was, wird zum potenziellen Verbrecher. Er wartet nur auf das Signal, um Furcht und Schrecken zu säen. Wie viele Soldaten treiben ihr Unwesen in einem Land oder auf einem Schlachtfeld? Wie viele sorgen für Verzweiflung, ohne zu begreifen, dass sie gegen Männer und Frauen kämpfen, die die gleichen Ideale haben wie sie? (...) Ein Soldat ohne politische und ideologische Bildung ist ein potenzieller Verbrecher.“ – Thomas Sankara (zitiert nach: „Thomas Sankara – Der Che Schwarzafrikas“)
Seine Offiziersausbildung absolviert er in Madagaskar, für ihn ebenfalls eine prägende Zeit. Nach seiner Rückkehr nach Obervolta wird er der Abteilung Wehrtechnik der Luftwaffe in Bobo-Dioulasso zugeteilt und zum Fallschirmjäger ausgebildet. Dort lernt er auch den künftigen Hauptmann Blaise Compaoré kennen, der zu seinem engsten Weggefährten wird, ihn jedoch am Ende verrät.
Jahre der politischen Umwälzung
Frankreichs ursprüngliches Interesse an dem Gebiet des späteren Burkina Fasos lag Ende des 19. Jahrhunderts darin, aus der bevölkerungsreichen Gegend Arbeitskräfte zu gewinnen sowie das Gebiet als Bindeglied für seine Besitztümer an der Küste im Westen und im Sahel im Osten zu benutzen. Wichtige Agrar- und Rohstoffe waren später zum einen Baumwolle und zum anderen Gold, deren Förderung zum Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewann. Heute gehört Burkina Faso zu den größten Goldproduzenten in Afrika.
Der Beginn der achtziger Jahre ist in Obervolta von politischen Umstürzen geprägt. 1980 putscht das Militär unter Führung von Oberst Saye Zerbo gegen den seit 1966 amtierenden Präsidenten Lamizana und ergreift die Macht; Zerbo wird neuer Präsident. Die neue Militärregierung erwartet von Sankara, dass dieser einen Ministerposten bekleidet. Er selbst lehnt dies eigentlich ab, beugt sich aber dem Befehl und wird mit gerade 31 Jahren Staatsekretär für Kultur und Information. Da er nun selbst Teil einer Regierung ist, deren Ansichten er nicht teilt, gerät der junge Minister in einen Gewissenskonflikt. Am 12. April 1982 legt er sein Ministeramt schließlich nieder und distanziert sich im Folgenden öffentlich von der Regierung:
„Die Inspiration des Künstlers muss die Kultur, die Überzeugungen und Interessen des Volkes übersetzen. Wenn man nicht zulässt, dass sich Künstler ausdrücken, indem man diese Aspekte, diese Interessen missachtet, knebelt man sein Volk. Wehe denen, die ihr Volk knebeln!“ (zitiert nach: „Auf den Spuren von Thomas Sankara“)
Diese Ansprache sorgt für immense Aufregung und er gerät in politische Schwierigkeiten; zugleich aber steigt seine Bekanntheit im Land sprunghaft an. 1982 kommt es zu einem weiteren Militärputsch von Jean-Baptiste Ouédraogo gegen Zerbo. Ouédraogo wird Präsident und ernennt Sankara am 11. Januar 1983 zum neuen Premierminister. Diese Konstellation ist jedoch voller Spannungen: Auf der einen Seite eine Militärregierung in neokolonialer Tradition, auf der anderen Seite ein Premierminister mit marxistischen und revolutionären Ansichten.
Dementsprechend endet die Zusammenarbeit bereits nach vier Monaten. Als Sankaras Stab nach einer Konferenz in Bobo-Dioulasso nach Ouagadougou zurückkehrt, werden er sowie zwei weitere Offiziere am 17. Mai 1983 festgenommen und inhaftiert. Compaoré kann entkommen und flieht nach Pô zur Kommando-Einheit, die Sankara 1976 gegründet hatte und deren Stellvertreter er war, übernimmt die Leitung und beginnt mit der Einheit einen Aufstand, der insgesamt mehrere Monate andauert. Unter dem Druck der Bevölkerung werden Sankara und seine Offiziere am 29. Mai 1983 wieder freigelassen, jedoch unter Hausarrest gestellt.
„Dann folgte eine merkwürdige Ungewissheit: Alle ahnten, dass etwas passieren würde, nur wussten wir nicht wann. Und tatsächlich: Im Mai wurde er befreit und am 4. August 1983 erfolgte die Revolution: die Kommando-Einheit aus Pô und alle ihre Bewohner marschierten nach Ouagadougou, unterstützt von der zivilen Bevölkerung der Stadt. Sie bringen die Stadt unter ihre Kontrolle und ergreifen die Macht. Es handelte sich tatsächlich um eine Revolution, weil der Großteil der Beteiligten Zivilisten sind. (...) Die Revolution gelingt und wird von Hauptmann Sankara verkündet. Eine neue Ära beginnt – hin zu einem selbstbestimmten Schicksal.“ – Carlos Ouédraogo, französisch-burkinischer Künstler über die Zeit nach der Freilassung bis zur Revolution
Das war der dritte Machtwechsel innerhalb von drei Jahren. Im Gegensatz zu den politischen Umstürzen der Jahre zuvor ist die Revolution von 1983 jedoch kein militärischer Putsch, sondern eine Revolution durch die Bevölkerung und Teile des Militärs zusammen. Auf einer Pressekonferenz am 21. August 1983 verkündet Sankara, dass er glaube, am 4. August sei der Wille des Volkes zum Ausdruck gekommen: der Befreiungsprozess des Volkes.
„Er sagte: ‚Wir müssen zu uns zurückkommen: zu unserem Ich, unserer Identität‘. Ich denke, dass die Förderung des Faso Danfani [traditionelle burkinische Kleidung] auch der Suche nach Identität entsprang, nach der er sich sehnte.“ – Odile Sankara, jüngere Schwester Sankaras in einem Radio-Interview über ihren Bruder
Aus Obervolta wird Burkina Faso
Nach Ansicht Sankaras ist Obervolta nahezu kein Staat mehr; alles müsse daher von Grund auf neu organisiert, infrage gestellt sowie neu aufgebaut werden. Die einzige Art und Weise, frei und würdig zu leben, ist laut Sankara, afrikanisch zu leben. Ein kolonisierter Mensch sei kulturell und mental entfremdet und nicht mehr Herr seiner selbst. Er führe nur Befehle wie ein Roboter aus.
Um das Land aus dem beherrschenden Einfluss Frankreichs zu befreien sowie einen neuen und gerechteren Staat zu errichten, beschließt er zahlreiche unkonventionelle Maßnahmen. Eine der ersten ist die Änderung des Landesnamens von Obervolta in Burkina Faso, was übersetzt so viel wie „Land der aufrechten Menschen“ bedeutet. Da der bisherige Landesname eine Bezeichnung Frankreichs war, kann dieser Beschluss als Sankaras erster großer symbolischer Akt auf dem Weg zur Unabhängigkeit verstanden werden.
Um bei der Errichtung eines Staates nach seinen Vorstellungen möglichst uneingeschränkt agieren zu können, verbietet Sankara Gewerkschaften sowie Oppositionsparteien. Zugleich beginnt er den Kampf gegen die verbreitete Korruption, entmachtet die Großgrundbesitzer und verteilt das Land direkt an lokale Bauern. Darüber hinaus versucht er die Staatskasse zu entlasten, um Mittel für Investitionen freizumachen. So senkt er unter anderem seine eigenen Bezüge sowie die sämtlicher Minister und Staatsbeamten und ordnet an, dass die teuren Dienstwagen von Mercedes durch eine Kleinwagenflotte (Renault 5) ersetzt werden. Zudem dürfen alle Minister fortan nur noch zweiter Klasse fliegen.
„Frankreichs Afrikapolitik finden wir sehr französisch. Das heißt, sie ähnelt der früheren Politik Frankreichs. Früher war Frankreich in diversen Ländern Afrikas präsent, um entweder einen Staatschef, Führer oder Duodezfürsten an der Macht zu halten oder um einen neuen anzuschleppen. Heute verhält sich Frankreich noch immer so.“ – Thomas Sankara
Ende der Kolonialsteuer
Ein zusätzlicher sehr riskanter Schritt von Sankara ist es, die französische „Kolonialsteuer“ abzuschaffen – also Zahlungen der ehemaligen Kolonien an Frankreich für die aufgebaute Infrastruktur. Der erste Staatschef, der versucht hatte, die kolonialen Entschädigungszahlungen aufzuheben, war Sylvanus Olympio, Präsident von Togo, im Jahr 1963. Er trennte sich auch von der Kolonialwährung Franc CFA und begann mit der Ausgabe einer eigenen Währung. Drei Tage später war seine Regierung einem Putsch zum Opfer gefallen und er selbst ermordet worden. Sankara geht mit diesem Schritt also ein großes, auch persönliches Risiko ein.
Bildung, Kultur und Begeisterung
„Die Kultur bildet eine Einheit mit der Gesellschaft in dem Sinne, dass es keine menschliche Gesellschaft ohne Kultur gibt und keine Kultur ohne entsprechende Gesellschaft.“ – Thomas Sankara, 3. November 1985
Im Herzen der Entwicklung der Burkiner stehen für Sankara Bildung und Kultur. Genauso wie ein Soldat politisch gebildet sein müsse, um seine Befehle zu verstehen, müsse die gesamte Gesellschaft politisch und kulturell gebildet werden, um sich einerseits selbst besser zu verstehen, und um andererseits die politische Gegenseite, die kein Interesse an der burkinischen Revolution hat, zu erkennen.
In seiner „Rede zur politischen Orientierung“ (DOP – Discours d’orientation politique) vom 2. Oktober 1983 beginnt Sankara mit einer Analyse der sozialen Klassen. Auf der einen Seite stünden die konterrevolutionären Klassen, die kein Interesse an der Revolution hätten, da sie Verbündete der imperialistischen Kräfte seien und von diesen profitierten. Auf der anderen Seite stünden die revolutionären Klassen – der Bauernstand, das intellektuelle Kleinbürgertum sowie das Proletariat –, die ein großes Interesse an der Revolution haben müssten. Jedoch sei nicht all diesen Klassen ihr ureigenes Interesse an der Revolution bewusst, weshalb man durch Bildungsarbeit ihr Klassenbewusstsein wecken und stärken müsse. Der bedeutendste Widersacher sei der internationale Imperialismus, insbesondere der französische, der den Interessen des burkinischen Volkes diametral entgegenstehe. Um diesen Hauptwidersacher zu beseitigen, sei zwingend eine Revolution notwendig, und zwar: eine demokratische Volksrevolution.
Sankara lässt seinen Worten rasch Taten folgen und beginnt Volkstheater und Schulen errichten zu lassen. Bildung dürfe kein Privileg mehr sein, sondern müsse allen zur Verfügung stehen. Dabei sei es zweitrangig, dass die Wände nicht kalkweiß und die Dächer aus Stroh seien; die Hauptsache sei, dass man die Menschen erreiche und ihr Bewusstsein fördere.
„Niemals zuvor hatte Burkina einen ähnlich starken kulturellen Boom erlebt, wie es ihn zwischen 1983 und 1987 gab. All das war Teil der Förderung der afrikanischen Identität.“ – Odile Sankara
Für Sankara gibt es noch weitere Großprojekte, die schnell angeschoben werden sollen. Neben der Verbesserung von Gesundheit und medizinischer Versorgung sind dies der Ausbau der Infrastruktur sowie Maßnahmen zum Umweltschutz. Da die Staatskassen aber leer sind und ausländische Unterstützung ausbleibt, müssen die Menschen die Projekte selbst in Angriff nehmen. Sankara überzeugt die Bevölkerung mit Charisma und Begeisterungsfähigkeit, gegen die Ausbreitung der Wüste vorzugehen und in vielen Dörfern kleine Wälder anzupflanzen. Damit soll bei den Menschen auch ein Bewusstsein für den Umweltschutz geschaffen werden. Außerdem lässt er sowohl Sozialwohnungen bauen, um die arme Bevölkerung aus den Elendsvierteln herauszuholen, als auch neue Verkehrsverbindungen, um die abgeschnittene Landbevölkerung an die Städte anzuschließen. Beim Bau einer neuen Eisenbahnlinie, die Ouagadougou mit den Manganminen im Norden verbinden soll, verlegt die Bevölkerung eigenhändig mehrere Kilometer Schienenstrecke.
Stärkung der Frauenrechte
Zur Bewusstseinsbildung gehört für Sankara auch die Stärkung der Frauenrechte. Den Frauen müsse dieselbe Bedeutung zukommen wie den Männern. Alte traditionelle Rollenbilder müssten aufgebrochen werden. Zudem müsse jede Frau die Möglichkeit erhalten, ihr Land zu verteidigen sowie einer Arbeit nachzugehen.
„Wenn wir den Kampf für die Befreiung der Frau verlieren, brauchen wir nicht zu hoffen, eine umfassende und positive Veränderung unserer Gesellschaft zu erzielen. (...) Die Frauen, mehr als 52 Prozent der Bevölkerung, sind der wichtigste demografische Pfeiler der Revolution. Sollte die voltaische Revolution die Frauen unberücksichtigt lassen, wäre sie eine Revolution gegen die Mehrheit und zugunsten der Minderheit der voltaischen Bevölkerung. Doch die Frauen machen bis heute den Großteil der ‚Haussklaven‘ aus, die jeder von uns ausbeutet, über Strukturen, die ihren Freiheitswillen betäuben, ihren Willen, sich zu verteidigen; Strukturen, die ihre Unterdrückung verewigen, ihren Sklavenstatus; Strukturen, die Männer errichtet haben, um Frauen kontrollieren zu können. Deswegen möchte ich vor allem euch, den Frauen, das Wort geben, damit ihr unserer Gesellschaft neue Perspektiven eröffnet, denn niemand kann die voltaische Frau befreien, wenn sie es nicht selbst tut.“ – Thomas Sankara
Damit ist er einer der ersten Staatschefs weltweit, der sich für die Emanzipation der Frau einsetzt. Auf dem afrikanischen Kontinent ist er der Erste, der die Beschneidung bei Frauen verbietet und unter Strafe stellt; auch die Zwangsheirat stellt er vehement infrage. In seinem Kabinett besetzt er außerdem mehrere hochrangige Posten mit Frauen. So gibt es unter anderem neben der Frauenbeauftragten eine Planungsministerin und eine Haushaltsministerin. Auch beim Militär und der Polizei spielen Frauen eine zunehmend größere Rolle. Laut Germaine Pitroipa, Hochkommissarin während der Revolution, ging Sankara alle Bereiche an, als ob er eine Vorahnung gehabt hätte. Wenn die Frauen zu ihm sagten, dass die Entwicklung zu schnell gehen würde, habe er geantwortet: „Wie viel Zeit, denkt ihr, haben wir?“
Auf die Frage, die ein Mann während einer lokalen Diskussionsrunde an Sankara richtet, wie die Emanzipation der Frau in der Schule aussehen würde, lautet die Antwort, dass sich Burkina auch hier von den Relikten der Feudalzeit befreien müsse. Die feudale Erziehung lehre, dass Jungen Mädchen übergeordnet seien. Würde ein Mädchen schwanger werden, würde man es umgehend von der Schule verweisen. Niemand würde fragen, ob der Sexualpartner in derselben Klasse sei; und selbst dann ließe man den Jungen in Ruhe. Er könne so viele Kinder zeugen wie er will: in der sechsten Klasse könne er beginnen und sich bis zur Abschlussklasse hocharbeiten. Das Mädchen hingegen könne kurz vor dem Abitur stehen, bekäme es ein Kind, wäre die Schule zu Ende.
Autonomie im Bereich Nahrung und Kleidung
„Unser Land produziert genug, um uns zu ernähren. Wir können unsere Produktion sogar noch steigern. Leider brauchen wir aufgrund organisatorischer Mängel noch fremde Hilfe in Form von Nahrungsmittellieferungen. Diese Nahrungsmittellieferungen lähmen uns. Sie verfestigen in unseren Köpfen die Vorstellung, dass wir Bettler und Bittsteller sind. Wir müssen uns davon unabhängig machen, durch unsere eigene Großproduktion. (...) Manche fragen: ‚Wo ist der Imperialismus?‘ Den Imperialismus seht ihr auf euren Tellern. Importierter Mais, Reis und Hirse, das ist Imperialismus! Suchen wir gar nicht weiter!“ – Thomas Sankara
Anfang der achtziger Jahre beträgt die durchschnittliche Produktion für Weizen in der Sahelzone rund 1.700 Kilogramm pro Hektar. Burkina Faso kann seine Produktivität derart schnell steigern, dass es im Jahr 1986 mit 3.800 bis 3.900 Kilogramm Nahrungsmittelautonomie erreicht. Damit zeigt Sankaras Agrarreform, mit der er die Großgrundbesitzer enteignet und das Ackerland direkt an die Bauern verteilt hatte, erstaunliche Wirkung. Mit der Einführung von Düngung und Bewässerungssystemen kann die Effizienz soweit gesteigert werden, sodass der Hunger besiegt wird.
Um die heimische Baumwollproduktion zu steigern und Importe von Kleidung zu reduzieren, führt Sankara den Faso Danfani, eine traditionelle burkinische Tracht, ein. Diese wird aus burkinischen Baumwollstreifen hergestellt und ausschließlich von burkinischen Handwerkern gefärbt, gewebt und genäht. Jeder Staatsdiener wird nun dazu verpflichtet, den Faso Danfani an seinem Arbeitsplatz zu tragen, was auch der Wiedergewinnung der afrikanischen Identität dienen soll. Diese Anordnung hat jedoch zur Folge, dass die Beamten in westlicher Kleidung zur Arbeit erscheinen und den Faso Danfani in einer Tüte mitbringen. Sankara ist nämlich für spontane Stippvisiten in Ministerien und Ämtern bekannt. Geht das Gerücht um, dass sich Sankara auf dem Weg befindet, sollen alle Mitarbeiter eilig ihren Faso Danfani übergezogen haben, weshalb dieser auch den Spitznamen „Sankara im Anmarsch“ erhält.
Panafrikanismus
„Die Zersplitterung, die Balkanisierung des afrikanischen Kontinents versetzte uns in eine wirklich schwierige Lage. Wir standen im Kreuzfeuer zwischen Ost und West. In dieser äußerst komplizierten Situation war es für uns sogar schwierig, uns als Afrikaner zu geben. Unser Überleben hing davon ab, dass wir uns entweder dem Osten oder dem Westen anschlossen. Es hing nicht von unserer eigenen afrikanischen Identität ab.“ – Jerry John Rawlings, von 1981 bis 2001 Präsident von Ghana
Sankara reist bereits im Jahr 1983 nach Moskau und Kuba, um Kooperationen auszuhandeln. Geduld sowie Rücksicht auf den geopolitischen Konflikt zwischen Ost und West kann er sich einerseits, aufgrund des katastrophalen Zustands Burkinas, nicht leisten, und betrachtet diesen auch nicht als seinen Konflikt. Im Zentrum von Sankaras politischem Handeln steht zum einen, die Situation im eigenen Land schnellstmöglich zu verbessern und vom Imperialismus unabhängig zu werden, und zum anderen die afrikanische Identität zu fördern. Für einen Sieg gegen den Imperialismus braucht es, so Sankara, ein geeintes Afrika. Außerdem erklärt er seine Solidarität mit Palästina, mit den Kämpfern in Nicaragua, mit Maurice Bishop – Premierminister Grenadas, bevor dieser ermordet wurde – sowie mit Kuba. Zudem ist er der erste afrikanische Staatschef, der offen Stellung gegen die Apartheid in Südafrika bezieht. Dazu stellt er mehreren ANC-Mitgliedern, wie Nelson Mandela oder Thabo Mbeki offizielle Ausweisdokumente aus; viele von ihnen reisten zu der Zeit mit burkinischem Pass.
Auf einem Gipfeltreffen der OAU, die Vorgängerorganisation der Afrikanischen Union, das am 29. Juli 1987, kurz vor seinem Tod, in der äthiopischen Hauptstadt Addis-Abeba stattfindet, appeliert Sankara an alle afrikanischen Staatschefs:
„Diejenigen, die uns Geld geliehen haben, sind dieselben, die uns kolonisiert haben. (...) Diese Schulden sind nicht die unseren, daher können wir diese auch nicht bezahlen. (...) Wir haben uns auf 50, 60 Jahre oder sogar länger verschuldet. (...) Diese Schulden können nicht zurückgezahlt werden. Denn zunächst werden unsere Geldgeber nicht zu Grunde gehen, falls wir nicht zahlen; das sollte uns klar sein. Falls wir jedoch zahlen, werden wir zu Grunde gehen; das sollte uns ebenfalls klar sein. Diejenigen, die uns in die Verschuldung führten, haben sich aufgeführt wie in einem Kasino. Solange sie gewannen, gab es keine Diskussion. Jetzt, wo sie im Spiel verloren haben, fordern sie von uns die Rückzahlung. Und es ist von Krise die Rede. Nein, Herr Präsident, sie haben gespielt und sie haben verloren, so ist das Spiel; und das Leben geht weiter. (...) Wir können die Schulden nicht bezahlen, weil im Gegenteil die anderen uns schulden, was man nicht einmal mit den größten Reichtümern bezahlen kann, nämlich die Blutschuld. Es ist unser Blut, das vergossen wurde. Ich möchte, dass unsere Konferenz beschließt, dass wir klar zu verstehen geben, dass wir die Schulden nicht zurückzahlen können. Wir tun das nicht in kriegerischer oder bösartiger Absicht. Doch nur so verhindern wir, einzeln massakriert zu werden. Wenn Burkina Faso sich allein weigert, die Schulden zu begleichen, werde ich bei der nächsten Konferenz nicht mehr hier sein. (...)
Liebe Brüder, mit der Unterstützung aller können wir in unseren Ländern für Frieden sorgen. Wir können die Potenziale nutzen, um Afrika weiterzuentwickeln, denn wir verfügen über einen großen Reichtum an Bodenschätzen. Wir haben genügend Arbeitskräfte und einen Markt, einen riesigen Binnenmarkt, in allen vier Himmelsrichtungen. Wir besitzen auch genügend geistiges Potenzial, um selbst etwas zu schaffen oder uns zumindest die Technologie dort anzueignen, wo sie uns begegnet. Herr Präsident, sorgen wir dafür, dass wir hier in Addis Abeba eine gemeinsame Front gegen die Verschuldung bilden, dass wir das Wettrüsten zwischen den armen und schwachen Ländern stoppen. Die Säbel und Knüppel, die wir kaufen, sind nutzlos. Sorgen wir dafür, dass der afrikanische Markt der Markt der Afrikaner wird. In Afrika produzieren, in Afrika weiterverarbeiten, und in Afrika konsumieren. Produzieren wir, was wir brauchen und konsumieren wir das, was wir produzieren, statt es zu importieren. (...) ich will Ihnen verdeutlichen, dass wir zu unserer afrikanischen Lebensweise stehen sollten. Nur so können wir in Freiheit und Würde leben.“
Ermordung und Ende der Revolution
„Entweder werde ich als alter Mann enden, Bücher lesend in irgendeiner Bibliothek, oder ich werde eines gewalttätigen Todes sterben, denn wir haben so viele Feinde.“ – Thomas Sankara
Am 15. Oktober 1987 stürmen bewaffnete Mitglieder aus der Leibgarde von Blaise Compaoré eine Sitzung in Ouagadougou und lassen von Sankara nicht mehr als Fetzen übrig. Sein Leichnam wird in der Nacht eilig verscharrt.
Wenige Wochen zuvor hatte Sankara noch mit Jean Ziegler – damaliger Abgeordneter des Schweizer Parlaments und dort mit den Belangen der Dritten Welt befasst, sowie späterer UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung – zusammen gesessen und nahezu die gesamte Nacht über Che Guevara, eines seiner großen Vorbilder, gesprochen, wie Ziegler später in einem Interview berichtete. Guevara war am 9. Oktober 1967 ermordet worden, womit dessen 20. Todestag kurz bevor stand. Plötzlich, mitten im Gespräch, so Ziegler, habe Sankara innegehalten und gesagt, dass Che Guevara mit 39 Jahren gestorben sei; dann habe er gefragt, ob er selbst es wohl auch bis 39 schaffen würde. Er schaffte es nicht; Sankara starb mit 37 Jahren.
Er wusste von den geplanten Intrigen gegen ihn; ebenso, dass sein enger Freund Blaise Compaoré, der mit ihm gemeinsam 1983 die Revolution in Gang gesetzt hatte, der Kollaborateur sein würde. Diesbezüglich war er im Vorfeld von vielen Seiten vor dem geplanten Putsch gegen ihn gewarnt worden. Unter anderem vom Armee-Hauptmann Boukari Kaboré, der Sankara darum gebeten hatte, Compaoré verhaften zu dürfen. Er aber hatte darauf geantwortet, dass er eine Freundschaft nicht verraten werde: „Es ist nicht an uns, diese Freundschaft zu verraten, sondern an ihnen!“ Laut Bruno Jaffré, dem französischen Autor von „Biographie de Thomas Sankara“, hatte er sogar depressive Phasen und wollte von seinem Amt zurücktreten, wovon ihn seine Mitarbeiter und Vertrauten aber abhielten. Möglich sei es, so Jaffré, dass sich Sankara damit vor seiner Ermordung hatte schützen wollen.
Bereits am nächsten Morgen ernennt sich Blaise Compaoré selbst zum neuen Staatspräsidenten. Er führt die „Berichtigung der Revolution“ ein und suggeriert, dass er Sankaras progressive Politik fortführen werde. Jedoch nimmt er schnell die neokoloniale Kooperation mit Frankreich wieder auf, woraufhin Burkina Faso bald erneut zu einem der ärmsten Länder der Welt wird. Insgesamt 27 Jahre hält sich Compaoré an der Macht, bis er 2014 wiederum selbst durch eine Volksrevolution – die sogenannte Barfußrevolution – entmachtet wird und in die benachbarte Elfenbeinküste flieht. 2015 finden daraufhin das erste Mal in der Geschichte Burkinas freie Wahlen statt, die Roch Kaboré gewinnt. Doch auch seine Präsidentschaft findet ein gewaltsames Ende: Am 24. Januar 2022 übernimmt erneut das Militär die Kontrolle über das Land; Kaboré wird abgesetzt.
Ausländische Beteiligung
Für Sankaras Tod soll aber nicht nur Compaoré allein verantwortlich gewesen sein. Im Jahr 1997 hatte die Witwe Miriam Sankara Strafanzeige wegen Mordes und Fälschung des Totenscheins gestellt – laut diesem sei Sankara eines natürlichen Todes gestorben – und zudem Frankreich beschuldigt, ebenso an der Ermordung beteiligt gewesen zu sein. Unter der Regentschaft Compaorés hatte es dazu kaum Fortschritte gegeben; erst nach seiner Entmachtung wurden die Ermittlungen fortgesetzt, die bis 2021 andauerten. So hatten sich vergangenes Jahr insgesamt 14 Männer vor Gericht verantworten müssen – darunter auch Blaise Compaoré, der sich aber noch immer in der Elfenbeinküste aufhält und nicht erschien. Die Anklage lautete: „Angriff auf die Staatssicherheit“, „Verbergen einer Leiche“ und „Mittäterschaft an einem Mord“.
Zur ausländischen Beteiligung an Sankaras Ermordung äußerten sich 2009 ehemalige Vertraute von Charles Taylor, Ex-Präsident des westafrikanischen Landes Liberia, dass Frankreich eine führende Rolle an dem Komplott eingenommen habe. Cyril Allen, der unter Taylor Chef der Regierungspartei war, sagte:
„Das Klavier wurde von den Amerikanern und den Franzosen gestimmt. Es gab einen CIA-Mann in der US-Botschaft in Burkina, der in engem Kontakt mit dem Geheimdienstchef der französischen Botschaft arbeitete; sie trafen die wichtigsten Entscheidungen“.
Nach Sankaras Tod wird versucht, seine Person zu diskreditieren: ihm wird vorgeworfen, er hätte sich auf Staatskosten bereichert. Bei der Durchsuchung seines Hauses wird jedoch nichts gefunden; er starb wie er gelebt hat: mit leeren Taschen. Über sein Opfer sagte vor einigen Jahren Germaine Pitroipa, Hochkommissarin während der Revolution, in einem Interview:
„Mit dem heutigen Abstand trage ich ihm nach, sich so schnell geopfert zu haben. Denn es blieben ihm, es blieben uns, noch so viele Dinge zu tun. Und was er nicht bedacht hat, ist, dass sein Opfer zwar seiner Existenz ohne Zweifel eine zukunftsweisende Dimension verschaffte, doch sein Opfer hat nicht wenige Opfer nach sich gezogen. Als die Revolution gestoppt wurde, haben das viele am eigenen Leib gespürt, auch wenn viele es nicht zugeben wollen. Es gab Dinge, die nicht mehr möglich waren, als er nicht mehr da war. Aber gut, er war ein leidenschaftlicher Mensch. Wenn ich also sage, ich trage ihm das nach, tue ich das, weil ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen, und ich ihm sagen kann, dass es zu früh war. Zu früh, um in die Geschichte einzugehen!“
Über den Autor: Paul Soldan, Jahrgang 1988, war nach seiner Ausbildung zum Kaufmann für Versicherungen und Finanzen bis zum Jahr 2017 für verschiedene Finanzdienstleistungs-unternehmen in Hamburg tätig. Von 2018 bis 2021 arbeitete er am Volkstheater Rostock, unter anderem als Regieassistent. Seit 2022 ist er als freier Autor und Onlineredakteur tätig und lebte zuletzt mehrere Monate in Afrika. Im Januar 2024 erschien sein Debütroman "Sheikhi - Ein afrikanisches Märchen" im Anderwelt Verlag.
Diskussion
2 Kommentare